Theorie und Konzeption von Bildung und Schulunterricht im Neuhumanismus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

26 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

TEIL I: ZEITHISTORISCHE UND GEISTESGESCHICHTLICHE GRUNDLAGEN
1. Der gesellschaftlich-politische Wandel im 18. Jahrhundert in Deutschland
2. Der Charakter aller Humanismen und des Neuhumanismus: Bildung zur Humanität Konträre Bildungskonzeptionen im Philanthropismus und Neuhumanismus
a. Die Bildungskonzeption des Philanthropismus
b. Die neuhumanistische Kritik und Divergenz vom Philanthropismus

TEIL II: DIE NEUORDNUNG DES PREUSSISCHEN SCHULWESENS DURCH WILHELM VON HUMBOLDT
1. Skizzierung des zeithistorischen Hintergrunds und Wirkungsumfelds Humboldts
2. Humboldts Bildungsbegriff und daraus resultierende Grundsätze der Schulreform
3. Die Neustrukturierung des öffentlichen Schulwesens
a. Die Elementarschule
b. Das höhere Schulwesen / Gymnasium
c. Die Universität

4. Humboldts Schulkonzeption zwischen Idee und Wirklichkeit

Resümee

Literaturverzeichnis

Einleitung

Der Neuhumanismus ist im deutschsprachigen Raum eine der prägendsten schuldpädagogischen Reformbewegungen in der Geschichte der Neuzeit. Rückwärtsblickend nach vorne schreitend, gelang es den Gestaltern einer neuen Bildungslandschaft, weitere Entwicklungen im deutschen Schulsystem maßgeblich zu beeinflussen und voranzutreiben. Insbesondere Wilhelm von Humboldt hat in diesem Zusammenhang seinen Platz als herausragender Vordenker und Reformer unter den pädagogischen Größen eingenommen. In der vorliegenden Arbeit sollen diese Reformbemühungen und -konzeptionen im Lichte ihrer pädagogischen und zeitgeschichtlichen Grundlagen näher betrachtet werden. Es soll die Frage beantwortet werden, worin das Kennzeichen und die Besonderheit der neuhumanistischen Bildungskonzeption liegt und wie diese Ideen in der Neuordnung des Schulsystems umgesetzt werden sollten.

Bei der Ausführung der Gedanken wird dabei deduktiv vorgegangen: Im ersten Teil werden die zeithistorischen und geistesgeschichtlichen Basisinformationen beschrieben, die für ein tieferes Verständnis der Bildungsbewegung vonnöten sind. Auf eine Darstellung des ausgehenden 18. Jahrhundert, mit seinen gesellschaftlichen Verschiebungen und Revolutionen, folgt eine Skizzierung des Charakters der Humanismusbewegungen. Durch die Erläuterung der Bildungskontroverse zwischen dem Philanthropismus und dem Neuhumanismus, sollen daraufhin die beiden Bildungsbewegungen voneinander abgegrenzt und ihre Charakteristika herausgearbeitet werden.

Im zweiten Teil werden die theoretischen Grundlagen der neuhumanistischen Bildungskonzeption anhand der Pläne zur Neuordnung des preußischen Schulsystems präzisiert und in ihrer geplanten Umsetzung dargestellt. Da die Reformbemühungen nur im Kontext des regionalen Zeitgeschehens verstanden werden können, wird dieses in Kürze skizziert, um anschließend das Bildungsverständnis Humboldts näher zu erläutern. Der dritte Abschnitt wird in größerer Ausführlichkeit Humboldts Absichten zur Neuordnung des Schulwesens behandeln und diese für jede Schulform intensiv ausführen. Zuletzt soll eine Bilanz gezogen werden, inwiefern sich die Ideen und Konzeptionen Humboldts und seiner Mitstreiter durchsetzen konnten.

TEIL I: ZEITHISTORISCHE UND GEISTESGESCHICHTLICHE GRUNDLAGEN

1. Der gesellschaftlich-politische Wandel im 18. Jahrhundert in Deutschland

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war Deutschland ein zerteiltes Land. Genau genommen ist die Bezeichnung ´Land` gar nicht zutreffend; die Nation existierte in einem lose zusammengefügten Staatenbund. Es gab keine gemeinsame Hauptstadt, keine nationale Identität und keine gemeinsame Kultur. Etwa 300 Territorialstaaten, die gegeneinander um geistigen und politischen Einfluss rangen, bildeten eine Art Flickenteppich. In der Mitte des Jahrhunderts entstand trotz dieser Zerrissenheit, von den Universitäten ausgehend, unter Professoren und Gebildeten ein immer größer werdendes Kommunikationsnetz. Sie verband das gemeinsame Interesse an Philosophie, Literatur und Politik. Im Laufe der Jahre gelangten die Diskurse innerhalb dieser Kreise an die Öffentlichkeit; die Zeitschriften- und Buchproduktion stieg enorm an und ihre Ideen wurden von einem immer größer werdenden Publikum aufgenommen. Ihre Abhandlungen drehten sich hauptsächlich um die Aufwertung des Verstandes und die allen Menschen innewohnende Fähigkeit zum selbstständigen und vernünftigen Denken. Nur kraft Vernunft und Erkenntnis sei die Welt und die Menschheit hin zu bestimmten Idealen veränderbar. (Vgl. Schmitt 2003, S. 119f.) Das Zeitalter der Aufklärung war geboren.

Das letzte Drittel dieses Jahrhunderts sollte als ´Zeit der Großen Revolutionen` in die Geschichtsschreibung eingehen. Durch die Idee von persönlicher Freiheit und Eigenständigkeit angetrieben, etablierte sich 1776 die erste moderne Demokratie in den Vereinigten Staaten und das Ancien Régime wurde 1789 durch widerstandswillige Bürger in der Französischen Revolution abgesetzt. Die umliegenden, absolutistisch regierten Staaten in Europa wurden auf das Äußerste erschüttert. Überall erhoben sich Stimmen, die nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, nach Gerechtigkeit und Einhaltung der Menschenrechte riefen. Der überschwängliche Enthusiasmus nahm jedoch ein jähes Ende, als in Frankreich schon bald nicht mehr die nach der Verfassung urteilende Jurisdiktion, sondern Henker und Guillotine über Recht und Unrecht entschied. Die regierenden Könige in Großbritannien, Preußen, Österreich und weiteren europäischen Staaten, begannen ab 1792 in wechselnden Verbindungen gegen die revolutionären Ideen und die Expansion der französischen Republik zu kämpfen (Koalitionskriege 1792-1815). Unter der Führung Napoleons gelang es den Franzosen jedoch, sich gegen die feindliche Übermacht durchzusetzen. Infolge der Niederlagen gegen Napoleon löste sich das seit Jahrhunderten bestehende Deutsche Reich 1806 auf und wurde durch den frankreichtreuen Rheinbund ersetzt. (Vgl. Kinder/Hilgemann/Hergt 2006, S. 297ff.)

Inmitten dieser stürmischen Zeiten vollzog sich in Preußen in den Jahren 1807-1814 – der Zeit in der auch die Humboldt’schen Reformen stattfanden - ein enormer innerer Wandel. Die Standesschranken wurden durch das Edikt zur Bauernbefreiung (1807) und die Städteordnung (1808) aufgelöst. Durch eine Verwaltungsreform konnten neue Fachministerien errichtet werden, was dem Reformhunger eines aufstrebenden Bürgertums eine vielversprechende Plattform bot. (Vgl. ebd., S. 311) Doch nicht nur in Preußen, überall in den deutschen Territorialstaaten entstand im ausgehenden 18. Jahrhundert ein neues deutsches Nationalgefühl mit aufklärerischen Freiheitsideen, wie es insbesondere in den literarischen Epochen des Sturm und Drang und der Romantik zum Ausdruck kam und das dem aufgeklärten Absolutismus widerstrebte (Vgl. Merwald 1993, S. 167ff.) Durch diese epochalen Veränderungen und Verschiebungen in Staat und Gesellschaft war es unumgänglich, das zum Teil noch in nahezu mittelalterlichen Strukturen bestehende Schulwesen grundlegend zu reformieren. Es gelang einem Kreis von Gelehrten um Wilhelm von Humboldt ab 1809, die Reformen im Geiste neuhumanistischer Pädagogik voranzutreiben. Bevor diese Neugestaltung jedoch eingehender untersucht werden kann, soll die geistesgeschichtliche Grundlage des Neuhumanismus aufgezeigt werden, um die Entwicklungen in ihrer ganzen Tiefe zu verstehen.

2. Der Charakter aller Humanismen und des Neuhumanismus: Bildung zur Humanität

Bereits in der Bezeichnung Neuhumanismus steckt der Hinweis, dass die Bildungsbewegung auf einem vorangegangenen Humanismus beruht. Was jedoch bedeutet der auch heute noch so oft und vielseitig verwendete Begriff des Humanismus? Im Kern und prägnant formuliert, ist es eine Weltanschauung, die die Kultur der Griechen und Römer zum Vorbild nimmt. Es ist ein „säkulare[r] Glaube daran, dass es vor allem die Werke der „Alten“ seien, an denen sich der Mensch bildet und die ihn [...] menschlicher machen.“ (Wiersing 2001, S. 16) Mit dieser Charakterisierung wird klar, dass in der europäischen Geschichte nicht von d e m Humanismus geredet werden kann; es waren mindestens drei Humanismen, drei Rückbesinnungen auf das griechische (und später lateinische) Ideal, die das Abendland prägten: der röm i s c h e H u m a n i s m u s, mit seinen Wurzeln im zweiten Jahrhundert v. Chr., der von Italien ausgehende R e n a i s s a n c e - H u m a n i s m u s und schließlich der N e u - h u m a n i s m u s. (Vgl. ebd., S. 17f.) Ziel jeder dieser drei Epochen war es jedoch nicht, die als ideal gewertete Kultur der Antike zu übernehmen, sondern „die geistigen Errungenschaften der Griechen und Römer für die Gegenwart nutzbar zu machen.“ (Bruning 2005, S. 290) Nicht die Imitation des Vergangenen, sondern die griechischen Idealvorstellungen von Menschlichkeit und Menschenbildung sollten ein und humanitashumanitash „Grundmoment der Erinnerung“ (Heim 1998, S. 12) bilden.

Während der lateinische Renaissance-Humanismus im 15. Jahrhundert von Italien aus Europa eroberte, war und blieb der Neuhumanismus in erster Linie eine deutsche Erscheinung, der in seiner Ursprungsform auf die Jahrzehnte von etwa 1790 bis 1840 beschränkt war. (Vgl. Landfester 2001, S. 205) Neben dem erwähnten Grundmoment der Orientierung an der griechischen Antike, bildet der Begriff der A l l g e m e i n b i l d u n g, in Abgrenzung zur Berufs- oder Ausbildung, das Zentrum der neuhumanistischen Pädagogik. Was dies bedeutete, hatte Pestalozzi charakteristisch formuliert: „Allgemeine Emporbildung der inneren Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung. [...] Übung, Anwendung und Gebrauch seiner Kraft und Weisheit in den besonderen Lagen und Umständen der Menschheit ist Berufs- und Standesbildung. Diese muss immer dem allgemeinen Zweck der Menschenbildung untergeordnet sein.“ (1780/1845, S. 13) Bildung in diesem Sinne, eine Bildung zur Humanität, sollte weit mehr sein, als das Aneignen von Fähigkeiten für die Ausübung eines Berufes; ihr Kern lag in der „Entwickelung aller rein-menschlichen Anlagen, durch die der Mensch, als solcher, [...] das werden soll, was er in der grossen Menschenfamilie Gottes nach seiner Bestimmung als Mensch seyn soll.“ (Koch 1811, S. 3) Dieses Gegensatzpaar von Allgemein- und Berufsbildung sollte für die kommenden Jahrzehnte zum Zankapfel der pädagogischen Diskussion zwischen den beiden pädagogischen Systemen werden.

Konträre Bildungskonzeptionen im Philanthropismus und Neuhumanismus

Nun, da der allgemeine Charakter des Neuhumanismus dargelegt wurde, soll seine Bildungskonzeption im Detail betrachtet werden. Wie konnte die Idee einer allgemeinen, humanitären, am griechischen Ideal orientierten Bildung des ganzen Menschen konkret aussehen? Da der Neuhumanismus in gewissem Sinne eine Gegenbewegung zum Philanthropismus darstellte, muss, um auf die Frage eine vollständige Antwort geben zu können, der Streit beider pädagogischen Bewegungen aufgezeigt werden.

a. Die Bildungskonzeption des Philanthropismus

Das Wirken der Hauptvertreter des Philanthropismus (J. B. Basedow, J. H. Campe, E. Chr. Trapp, Chr. G. Salzmann), war „Ausdruck eines pädagogischen Protestes gegen die zurückgebliebene Schulrealität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland.“ (Schmitt 2005, S. 263) Die angestrebte Schulreform enthielt durch Basedows neu gegründetes Dessauer Philanthropin folgende Aspekte: Erstens sollte die „zähe Rinde“ des jahrhundertelang im Staube liegenden deutschen Schulsystems, „durch welche Wahrheit und Gutes kaum durchdringt“ (Basedow 1774, IX), endgültig durch die Erziehung, geprägt von wahrer Menschenfreundschaft, durchbrochen werden. Zweitens wurde der Unterricht im Sinne einer aufgeklärt-theologischen Manier, in Toleranz gegenüber nichtchristlichen Religionen geführt, was den Vorbehalt vonseiten der Kirchen bestärkte. Als Drittes, zielte die Realisierung der Erziehung zur Menschenfreundschaft und der Toleranz auf die gesitteten Stände und Teile des aufgeklärten Adels ab. Der Unterricht am Philanthropin war nicht für zukünftige Gelehrte geeignet, sondern sollte die breite Masse für den Beruf als Kaufmann, Arzt, Beamter, Architekt, usf. vorbereiten. Der vierte Aspekt, war der für damalige Verhältnisse kritischste: Unterricht und Lernen sollten anregend und erheiternd sein. Der Lernstoff sollte unter dem Kriterium der Nützlichkeit vermindert werden; lebensnahe Inhalte, wie muttersprachlicher Unterricht, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Mathematik und handwerkliche Tätigkeiten, sowie Wandern und Turnen wurden - getreu der Maxime: „Nicht viel, aber mit Lust“ - in den Mittelpunkt gerückt. (Vgl. Schmitt 2005, S. 263ff.)

Den Versuch, die Ideen dieser pädagogischen Strömung im staatlichen Schulsystem Preußens zu integrieren, unternahm der langjährige Schulminister Karl A. von Zedlitz. Wenn er die Reformgedanken Basedows auch nicht in vollem Ausmaß teilte[1], bestimmte er in seinen „Vorschläge zur Verbesserung der preußischen Schulen“, dass Unterricht „den Endzweck haben soll, die Menschen besser und für ihr bürgerliches Leben brauchbar zu machen.“ (von Zedlitz 1787/2007, S. 70) Da die unterschiedlichen Stände innerhalb der Gesellschaft, zu unterschiedlichen Berufen ausgebildet werden müssen, war es nötig, dass Bauer, Bürger und Gelehrter in unterschiedlichen Schulen unterrichtet werden sollten. Brauchbarkeit der Bildung stand dabei im Vordergrund. „Gelehrt muss der Bauer durchaus nicht sein“, sondern ein „in seinem Stande verständiger, brauchbarer und tätiger Mann.“ (ebd.) Neben elementarstem Wissen sollte deshalb in der Bauernschule vor allem Handwerk und Handarbeiten gelernt werden. Die Bürgerschulen sollten in den Städten die muffigen Lateinschulen ersetzen und ebenfalls praktische Fertigkeiten vermitteln, die für handwerkliche Berufe und einen soliden Charakter vonnöten sind: Lesen, Rechnen, Übungen im Denken durch Vorlesen, etwas Naturgeschichte und Physik, Geographie des Vaterlandes, Geschichte („nicht weiter zurück als vom westfälischen Frieden an“ (ebd., S. 73)) und Zeichnen. Zuletzt sollten die höheren Schulen und Universitäten für Edelmänner dazu dienen, den zukünftigen Gelehrten, Prediger, Ärzten, usw. ihren Weg in höhere Ämter zu bahnen. Bei Umsetzung dieser Reformvorschläge, würde gewiss „die lästige Zahl der Halbgelehrten [...] sehr vermindert werden.“ (Ebd.) Somit lässt sich zusammenfassend sagen: Der Auftrag von Bildung und Schule lag darin, dem Einzelnen zu helfen, seine Kräfte durch das Erlernen von brauchbaren Künsten zu entfalten, damit er sich dem Staat nützlich machen könne. (Vgl. Weimer/Jacobi 1991, S. 114f.)

b. Die neuhumanistische Kritik und Divergenz vom Philanthropismus

Es war dieses Moment der B r a u c h b a r k e i t, ebenso wie das der Nüt z l i c h k e i t des Gemeinwohls der philanthropistischen Pädagogik, das die Ablehnung ihrer Opponenten bis zu höchstem Grade steigerte. Die von den Aufklärungspädagogen angepriesene lebensnahe Ausbildung durch Realien war in ihrer Essenz eine direkte Antithese zur neuhumanistischen Vorstellung einer allgemeinen Menschenbildung zur Entfaltung aller innewohnender Kräfte. (Vgl. Bruning 2005, S. 290) Für sie stellte die Pädagogik der Philanthropisten eine „Schulbildung zur Bestialität“ (Ernst A. Evers 1807) dar. In seinem Pamphlet, das an Polemik und Spott nicht zu überbieten ist, ist es Evers erklärtes Anliegen, die heillos in die Irre führende Bildungskonzeption zu entzaubern. Er wirft den aufklärerischen Reformpädagogen vor, „durch eine frühe Hemmung und Irreleitung des natürlichen Ganges der Menschenbildung“, würden dem Schüler „die Grundfäden der Bestialität“ (Evers 1807/1962, S. 66) bereits in frühen Jahren angelegt werden. Diese Kritik richtet sich an die Grundausrichtung der philanthropistischen Elementar-, Bürger und Gelehrtenschulen, die dem eigentlichen Bildungshunger des Schülers, der, „gelabt vom Quelltrunk aufschauend fragt: woher der Quell?“ (ebd.), keine Antwort zu bieten haben, da ihre Lehrmeister ihnen nicht die Idee, sondern nur die Realien zu vermitteln wissen. Hierin zeigt sich erneut die essentielle Natur des Neuhumanismus: Nicht die Frage nach der Brauchbarkeit, der Nützlichkeit, dem Zweck bestimmt Inhalt und Charakter der Schulbildung; ihr Ziel ist eine ganzheitliche und allgemeine Verstandesbildung, die zum Ideal der Humanität führt.

Im Jahre 1808, auf dem Höhepunkt dieser Kontroverse, veröffentlichte Friedrich I. Niethammer – selber verantwortlich für die Neuordnung des Schulwesens in Bayern - eine Streitschrift, in der er die Grundsätze beider Bildungswelten einem kritisch-dialektischem Vergleich unterzog. Systematisch stellte er die Prinzipien des Erziehungsunterrichts (EU) beider Konzeptionen gegenüber (so abgedruckt in Hansmann 2014, S. 46f.):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Niethammer gelang es durch sein Werk, eine Funktion als Vermittler beider Systeme zu erlangen. Für seine Bildungslehre charakteristisch, war, dass er die Reformen der Philanthropisten nicht als bloßen Humbug abtat, sondern eine sachliche und inhaltliche führen wollte. Er räumte dem Philanthropismus durchaus einen positiven Einfluss ein: „Mehr Betriebsamkeit, Tätigkeit kam auch in den Unterricht; der alte Schlendrian ward aus seiner trägen Behaglichkeit aufgestört.“ (Niethammer 1808, S. 18f.) Auch der Umstand, dass die Philanthropisten den „Mängeln und Gebrechen der hergebrachten Erziehungsweise“ (ebd., S. 19) kühn angriffen, kam ihnen zugute. Dennoch folgte darauf seine scharfe Kritik: Anstelle der Hauptaufgabe der Schule, die allgemeine Bildung der Schüler voranzutreiben, verkürzten diese die Schulzeit und richteten alles auf den Erbwerbszweck und Brotwissenschaft. Auch er kam wie Evers zu dem Schluss, dass die materiellen Kenntnisse und Realien in der Schule überwogen und die Übung im Geiste völlig vernachlässigt wurde. (Vgl. ebd., S. 20) Niethammers öffentlichkeitswirksame Entzauberung des Philanthropismus in einer Zeit, in der die meisten Gelehrten diesen ohnehin mit Argwohn betrachteten, bildeten – zumindest in der bisherigen Form – das Ende der aufklärerischen Reformpädagogik. (Vgl. Hojer 1965, S. 50) Sein Urteil blieb fernerhin: „Ein andrer Geist [...] ist mit der Wiederauferweckung des echten philosophischen Denkens unter uns erschienen und hat seit zwanzig Jahren aller bessren Köpfe unter uns in allen Arten des Wissens [...] bemächtigt. [...] Mit einem Wort, ein besserer Geist, der Geist des Humanismus, hat sich wieder aufgerichtet.“ (Niethammer 1808, S. 33f.) Es war nur ein Jahr darauf, als Wilhelm von Humboldt – dessen Name unabänderlich mit diesem besagten „neuen Geist“ in Verbindung gebracht wird – als Minister an den preußischen Königshof berufen wurde, um eine Schulreform durchzuführen, die bis heute par excellence für den Charakter des Neuhumanismus steht.

TEIL II: DIE NEUORDNUNG DES PREUSSISCHEN SCHULWESENS DURCH WILHELM VON HUMBOLDT

Der erste Teil dieser Arbeit waren Ausführungen allgemeiner Natur. Nun soll die Aufmerksamkeit auf die bedeutendsten Reformabsichten des Neuhumanismus in Preußen gerichtet werden.

1. Skizzierung des zeithistorischen Hintergrunds und Wirkungsumfelds Humboldts

Nach der kläglichen Niederlage gegen das napoleonische Frankreich und dem darauffolgenden Zusammenbruch Preußens, wurde der adeligen Elite klar, dass nur eine grundlegende Staatsreform helfen konnte, den Rang einer europäischen Macht wiederzugewinnen. Reichsfreiherr Karl vom Stein wurde deshalb 1807 als führender Minister dazu beauftragt, die Reformen anzuführen. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem die in Teil I erwähnte Neugestaltung der Sozialstruktur. Nicht die ständische Herkunft sollte nunmehr den Lebensweg eines Menschen bestimmen, sondern einzig die persönliche Tüchtigkeit. (Vgl. Konrad 2010, S. 46) Das Verhältnis von Bevölkerung und Staat sollte grundlegend im Sinne einer mitgestaltenden Teilhabe verändert werden. Um diese persönliche Eigenverantwortlichkeit der Staatsbürger zu fördern, war eine grundlegende Reform des Schulwesens nötig. (Vgl. Benner/Kemper 2001, S. 248f)

Im Februar 1809 folgte Humboldt nach einigem Zögern dem Ruf Steins und übernahm im Innenministerium das Amt als Direktor der Sektion für Kultus und öffentlichen Unterricht. Eigentlich war Humboldt für dieses Amt nicht sonderlich geeignet: Er war kein Bildungstheoretiker im Sinne der pädagogischen Schule seiner Zeit; seine letzten pädagogischen Gedanken wurden 16 Jahre zuvor veröffentlicht. Er war kein Fachmann für Verwaltung und obendrein gar nicht gewillt, die Schulreformierung zu leiten. (Vgl. Hübner 1983, S. 156) Seine Aufgabe war obendrein äußerst schwierig. Die Reformen sollten nicht im Sinne einer Veränderung, sondern einer Neuerschaffung geschehen. Denn im absolutistischen Zeitalter hatte Schule eine völlige differierende Bedeutung: Sie war Werkzeug zur Pflege einer loyalen Untertanengesinnung und die unteren Stände wurden völlig vernachlässigt. Die Hauptaufgabe bestand im Auswendiglernen von Texten, größtenteils theologischen Charakters. Auch die 1717 von Friedrich Wilhelm I. eingeführte allgemeine Volksschulpflicht, änderte an diesem Zustand kaum etwas, da sie nie wirklich durchgesetzt werden konnte. Sein Sohn, Friedrich Wilhelm II. der Große, hatte für die Volksschulen ebenso wenig übrig: „Auf dem platten Lande ist es genug, wenn sie ein bisschen lesen und schreiben lernen; wissen sie aber zu viel, so laufen sie in die Städte und wollen Sekretärs und so was werden.“ (Zit. n. Paulsen 1921, S. 70) Um die Gelehrtenschulen in Preußen war es etwas besser bestellt. Nach den Ideen des Reformators Melanchthon bildete lateinische Grammatik den Kern des Unterrichtes, der in Form eines ständigen Frage- und Antwortspiels durchgeführt wurde. All dies verlief nach der Maxime einer sogenannten Prügelpädagogik, in der vom Gewölbe täglich das Geschrei der Geschlagenen widerschalle. Von Zedlitz gliederte durch seine Reformen das Unterrichtswesen zwar in den Bauern-, Bürger und höheren Schulen neu, führte eine Abiturprüfung ein und trennte die Schule von kirchlicher Hoheit; dennoch waren Ende des 18 Jahrhunderts die Klassenzimmer überfüllt, die Schulstuben in einem erbärmlichen Zustand und das Schulpersonal bestand größtenteils aus ausgemusterten Offizieren und gescheiterten Handwerkern. (Vgl. Max 1996, S. 26f.)

Um also das Ziel zu verwirklichen, ein gesellschaftserneuerndes Schulsystem zu schaffen, dass „die Heranwachsenden [...] nicht zu untertänigen Staatsbürgern, sondern zu freien Menschen erzieht, die ihre individuellen, bürgerlichen und staatsbürgerlichen Aufgaben aus eigener Einsicht verfolgen können und fähig sind, ihre Lebensform und ihren Beruf selbst zu wählen“ (Benner/Kemper 2001, S. 250), mussten Humboldt und seine Mitstreiter nicht nur neue Strukturen schaffen, sondern auf Grundlage eines völlig neuen Bildungsbegriffes Schule neu erdenken. Dieser Bildungsbegriff, dessen neuhumanistisches Fundament bereits erläutert wurde, soll im kommenden Abschnitt in Bezug auf die Person Humboldts personalisiert und präzisiert werden.

2. Humboldts Bildungsbegriff und daraus resultierende Grundsätze der Schulreform

„Ist von Bildung die Rede, so dauert es nicht lange, bis der Name Wilhelm von Humboldt fällt“, stellt Günter Figal (2013, S. 109) fest. Kaum eine Abhandlung, kaum ein Vortrag und keine Vorlesung, die in irgendeinem Sinne den Bildungsbegriff untersucht, kommt an Humboldt vorbei. Es ist nicht die Neustrukturierung des Schulsystems an sich, die diese Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern das Spezifikum seines Bildungsverständnisses, das er in seinem berühmten Ausspruch formulierte:

Der wahre Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste, und unerlässliche Bedingung. (Humboldt 1792/1851, S. 9)

Manfred Landfester (2001, S. 208) sieht als das grundlegendste Element dieses Humboldt’schen Bildungsbegriffes die Forderung nach Autonomie: Ganz im Sinne Rousseaus, der die Frage nach der Autonomie des Individuums besonders in den Vordergrund stellte, ist für Humboldt die B i l d u n g z u r A u t o n o m i e die höchste Bestimmung des Individuums. Entgegen des alten Erziehungsverständnisses, beispielweise die Erziehung zum Bürger, ist das oberste Ziel eine Bildung zum Menschen: „Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Tätigkeit nämlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, um seinem Wesen Wert und Dauer zu verschaffen will.“ (1793, in: Püllen 1964, S. 5f) In Humboldts Verständnis einer umfassenden Bildung, reicht es nicht, die zufällig zugewiesene oder erlernte Beschäftigung auszuüben, seine Pflichten und Aufgaben zu erledigen, die jedes Individuum aus welchen Gründen auch immer zugeteilt bekommen hat. Es ist nicht genug, dass „der Mensch Bauer, Handwerker, Soldat, Gelehrter, Politiker ist und sich so erschöpfend von ihm sagen läßt, er verstehe das seinem jeweiligen Wirkungskreis entsprechende Geschäft.“ (Menze 1975, S. 46) Gebildet ist der Mensch vielmehr dann, wenn sich seine Persönlichkeit zu einem harmonischen Ganzen geformt hat, die keine Gleichförmigkeit, sondern Individualität – wie sie herausragende Künstler, Dichter und Philosophen ausgedrückt haben – erkennen lässt. (Vgl. Konrad 2010; S. 39f.)

[...]


[1] von Zedlitz Ziele des höheren Unterrichts - die allgemeine Entwicklung des Verstandes und seine Wertschätzung der klassischen Sprachen mit Betonung des Griechischen - ähnelten mehr dem Neuhumanismus, als dem Philanthropismus. (Vgl. Ziegler 1909/2012, S. 256f.)

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Theorie und Konzeption von Bildung und Schulunterricht im Neuhumanismus
Hochschule
Pädagogische Hochschule in Schwäbisch Gmünd
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
26
Katalognummer
V364729
ISBN (eBook)
9783668445024
ISBN (Buch)
9783668445031
Dateigröße
1230 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
theorie, konzeption, bildung, schulunterricht, neuhumanismus
Arbeit zitieren
Samuel Ewert (Autor:in), 2016, Theorie und Konzeption von Bildung und Schulunterricht im Neuhumanismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/364729

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