Sehen und Denken. Virtual Reality als neues Medium und ihre Erfüllung des Bildphänomens bei L. Wiesing


Hausarbeit, 2017

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Sehen, Denken, Wahrnehmen
2.1 Intentionalität
2.2 Imaginarität
2.3 Synthetizität
2.4 Immersion

3 Veränderung bei ‚Bewegten Bildern‘ und ‚Bewegten Gedanken‘

4 Neue Medien
4.1 Animation
4.2 Simulation

5 Auswirkungen der Neuen Medien auf unser Sehen und Denken
5.1 Der Plural von Physik
5.2 Virtuelle Gedankenexperimente
5.3 Veränderung unserer bildhaften Vorstellung durch die Neuen Medien

6 Fazit

7 Abbildungen

8 Quellenangaben
8.1 Literatur
8.2 Internetquellen
8.2.1 Zeitschriften / Kongressbeitrag
8.2.2 Filme
8.2.3 Abbildungen

1 Einleitung

Auf fremden Planeten spazieren gehen, sich fühlen wie Batman, die Sagrada Família in der 360-Grad-Schau: Virtual-Reality-Brillen machen es möglich. Das Gefühl einen Helm zu tragen, durch Cyber-Brillen zu schauen, ist nach wenigen Augenblicken vergessen(Hahn 2016; s. Abb. 1 und Anlage 1), physische und digital erzeugte Wirklichkeiten verschwimmen. Doch was macht aus phänomenologischer Betrachtung Denken, Wahrnehmen und Sehen aus? Wie verändern sich diese Bewusstseinsformen, wenn die Bildobjekte nicht statisch sondern beweglich sind, wie, wenn sie digital erzeugt werden?

Basis dieser Arbeit bilden die Überlegungen des Bildphänomenologen Lambert Wiesings. Sie geht auf grundlegende Überlegungen zu empirischer Wahrnehmung, Denken, Betrachten einzelner (Tafel-) Bilder wie bewegter Bilder, bis hin zur Anwendung Neuer Medien ein und reflektiert diese im Rückgriff auf Begriffe wie Intentionalität, Imaginarität, Synthetizität und Immersion.

Bei der Betrachtung von Bildern im Kontext Neuer Medien wird eine Unterscheidung von Animationen und Simulationen und deren Wechselwirkungen, in Bezug auf Sehen und Denken getroffen. Lambert Wiesing stellt die These auf, dass der Einzug der Digitalisierung zu einer sukzessiven Angleichung der „Bilddynamik an die Denkdynamik“(Wiesing 2000, S. 38)führe. Aufbauend auf dieser These geht die Hausarbeit im zweiten Teil auf die Auswirkungen ein, die der Einzug der Digitalisierung auf unser Seh- und Denkverhalten hat, dabei bleiben psychologische Betrachtungen unberücksichtigt. Ebenso würden philosophisch-ethische Betrachtungen den Rahmen der Arbeit sprengen.

Die Arbeit orientiert sich an Lambert Wiesings Überlegungen zur Phänomenologie in seinen Schriften „Phänomene im Bild“ – hier insbesondere das Kapitel „Denken mit Bildern: das virtuelle Gedankenexperiment“(Wiesing 2000)und „Artifizielle Präsenz“ – der Beitrag „Virtuelle Realität: die Angleichung des Bildes an die Imagination“(Wiesing 2014). Im Hinblick auf die Entwicklung in den Neuen Medien findet sie u. a. Ergänzung in der Dissertation Frank Stäudners „Virtuelle Erfahrung. Eine Untersuchung über den Erkenntniswert von Gedankenexperimenten und Computersimulationen in den Naturwissenschaften“(Stäudner 1998)und dem Aufsatz von Vilém Flusser „Digitaler Schein“(Flusser 1991). Eine Orientierung im Hinblick auf jüngere Untersuchungen bieten Klaus Wiegerling in „Philosophie intelligenter Welten“(Wiegerling 2011), Klaus Kornwachs „Philosophie für Ingenieure“(Kornwachs 2015)und Tim Raupach „Geschichte im Computerspiel“(Raupach 2016).

2 Sehen, Denken, Wahrnehmen

Im ersten Teil dieser Hausarbeit wird das Phänomen „Bild“ im Hinblick auf empirische Wahrnehmung, Denken, Betrachtung von bewegten und unbewegten Bildern und erstere wiederum in der Anwendung Neuer Medien untersucht. Sartre sagt: „jedes Bewußtsein setzt sein Objekt, aber jedes auf seine Weise“(Sartre 1980, S. 50). Um dies zu verdeutlichen, wird auf Begriffe wie Intentionalität, Imaginarität, Synthetizität und Immersion zurückgegriffen. Wo gibt es Gemeinsamkeiten? Worin unterscheiden sie sich? Welche Wechselwirkungen zwischen Sehen und Denken gibt es, beim Eintauchen in virtuelle Welten?

2.1 Intentionalität

Wenn wir an etwas denken, dann ist uns gar nicht bewusst, dass wir an etwas denken, sondern wir denken nur an das, woran wir denken.

Genauso ist es beim Betrachten eines Bildes: Wir sehen das, was dargestellt wird und nicht die Beschaffenheit des Bildträgers, also nicht die Leinwand, den Rahmen, die Farbpigmente etc. Und uns ist gar nicht bewusst, dass wir nicht das Bild wahrnehmen sondern den Inhalt.

Der Vorgang zu denken oder zu betrachten geschieht völlig selbstverständlich und automatisch. Er entspricht dabei aber unserer Absicht – unserer Intention.

Mit den Worten von Lambert Wiesing: „Wenn ein Betrachter mittels eines materiellen Bildes seinen Blick auf eine im Bild gezeigte Sache lenkt, dann schaut er sich nicht die materiellen Aspekte des Bildträgers an, sondern den im Bild gezeigten Gegenstand; der Betrachter hat ein intentionales Bewußtsein von einem Bildobjekt.“(Wiesing 2000, S. 31)

Da sich dieser Sachverhalt ebenso im Denken widerspiegelt, kann man von einer gemeinsamen intentionalen Struktur von Bildbetrachtung und Denken sprechen.(vgl. Wiesing 2000, S. 31)In der Art und Weise wie diese Bewusstseinsformen ein Objekt darstellen, können sie sich unterscheiden oder aber auch ähneln. Das heißt: die Frage ist, wie das intentionale Objekt, also das Objekt, auf das die Aufmerksamkeit gerichtet wird, beschaffen ist (z. B.: bildliche Darstellung / Objekt der Phantasie). Lambert Wiesing nennt dies „die besondere Gegebenheitsweise des jeweiligen intentionalen Objektes“(Wiesing 2000, S. 31).

Diese Überlegungen sollen am Beispiel eines Apfels veranschaulicht werden. Ein realer Apfel auf einem Tisch ist empirisch erfahrbar. Er kann im Raum bewegt, geschält und geviertelt werden und wenn er nicht verzehrt wird, kann man ihn altern – also schrumpeln oder gar faulen sehen. Ein Foto von diesem Apfel auf dem Tisch ist aber bei Betrachtung des Bildes nur noch augenscheinlich dieser Apfel. Denn darauf kann der Apfel nicht altern, er liegt immer auf der Stelle, auf der er dargestellt wurde. Ein Bild von diesem Apfel, der schrumpelig geworden ist, ist ein neues Bild. Das Bild selbst altert nicht.

Genauso verhält es sich mit Gedanken, bzw. mit der Vorstellung von Dingen – auch sie unterliegen keinem Alterungsprozess. Wiesing sagt: „Auch eine gedachte Idee kann nicht älter werden oder sich bewegen; ein Gedanke allein hat überhaupt keine Ausdehnung und dementsprechend keine Auswirkungen auf die physische Welt. Die Verbindung zwischen Denken und Welt ist nicht ohne zusätzliche Verbindungsmittel möglich, sondern verlangt nach einem vermittelnden leiblichen Körper des Denkenden. Nur Denkende mit Körper können ihre Gedanken auch verwirklichen.“ (Wiesing 2000, S. 33).

In der Frage der physikalischen Präsenz liegt die Unterscheidung in der Wahrnehmung: Das reale Objekt unterliegt physikalischen Regeln. Ist das intentionale Objekt nicht ein empirisch Seiendes sondern ein Bild- oder Phantasieobjekt, gibt es keine physikalisch beschreibbaren Regeln – es ist physiklos.(vgl. Wiesing 2000, S. 33)

Damit haben Denken und Bildbetrachtung also eine gemeinsame intentionale Struktur. Bei beiden ist das intentionale Objekt nicht empirisch erfahrbar.(vgl. Wiesing 2000, S. 32)

2.2 Imaginarität

Gemeinsam ist beiden Bewusstseinsformen – dem Sehen, wie dem Denken –, dass sie ihren Fokus auf ein intentionales Objekt setzen, dass nicht empirisch erfahrbar ist. Das führt zu dem zweiten Begriff im Zusammenhang mit „Sehen, und Denken“: der Imaginarität. Wiesing stellt die These auf, dass die „Art und Weise, wie etwas als etwas im Bewußtsein präsent wird, […] bei der Bildbetrachtung dem Denken viel näher [steht] als bei der direkten Wahrnehmung“(Wiesing 2000, S. 33). Er beruft sich dabei auf Sartres „Das Imaginäre“. Danach sei es zum einen eine „Immanenz-Illusion“(vgl. Sartre 1980, S. 45)zu glauben, man habe ein Bild im Kopf bzw. in seiner Vorstellung. Denn Imagination sei immer nur ein Bewusstsein von etwas. Zum Zweiten leide die Imagination unter einer „wesenhaften Armut“(vgl. Sartre 1980, S. 51), da man aus ihr nichts Neues wie aus einer empirischen Beobachtung lernen könne, noch könne man durch sie überrascht werden.(vgl. Sartre 1980, S. 53; vgl. Wiesing 2000, S. 47). Als drittes Merkmal führt Wiesing an, dass das intentionale Objekt bei der Imagination immer als ein „Nichts“ gesetzt sei.(vgl. Sartre 1980, S. 57; vgl.Wiesing 2000, S. 47)Das heißt die Dinge, die gedacht oder auf Bildern betrachtet werden, sind nicht empirisch erfahrbar und folglich irreal und imaginär[1] (vgl.Wiesing 2000, S. 33). Die imaginären, irrealen Gegenstände aus Phantasie (und ebenso solche bei Bildbetrachtungen) können mit der realen Welt nur durch die Leiblichkeit d.h. durch den Körper des Denkenden (oder Betrachtenden) in Verbindung treten. Für ihre Manifestation bedarf der Gedanke des Denkenden, das Bild des Sehenden.

Und als ein Viertes führt Wiesing an, dass die Imagination im Gegensatz zur Wahrnehmung „aktiv, konstruierend und spontan“(vgl.Wiesing 2000, S. 47)ist.

In der Vorstellung werden also Dinge aktiv erfunden und damit eine „Quasi-Beobachtung“(Sartre 1980, S. 52)bestimmter Dinge ermöglicht, die einer (vermeintlichen) Wahrnehmung nahekommen.(vgl.Wiesing 2000, S. 47)

Wie Wiesing in Anlehnung an Sartres ‚vier Merkmalen der Imaginarität‘ belegt, steht die Bildbetrachtung dem Denken viel näher als der direkten (empirischen) Wahrnehmung.

2.3 Synthetizität

Nach Nietzsche entsteht „jeder Begriff […] durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff ,Blatt' durch beliebiges fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet.“(Nietzsche 1973-1982, S. 313)Bezieht sich Nietzsche auf die vereinfachte Darstellung des Blattwerks von Bäumen, soll dies im Weiteren anhand des Kinderreims: ‚Punkt, Punkt, Komma, Strich fertig ist das (Mond-)Gesicht‘ verdeutlicht werden.

Der Betrachter eines Bildes synthetisiert und differenziert die auf der Oberfläche des Bildträgers vorhandenen Formen und Farben. Er nimmt in den Formen eine Sache wahr, fasst diese zu Einheiten zusammen (Synthese) und differenziert Zusammenhänge zu Kontrasten (Differenzierung).(Wiesing 2000, S. 35)Aus einfachsten grafischen Elementen (im dem Beispiel Punkt, Punkt, Komma, Strich) entsteht das Bildbewusstsein eines Gesichtes. In der bildlichen Wahrnehmung ist man daher in der Lage diese Zeichen zu einem Bild – hier einem Gesicht – zusammenzusetzen (= zu synthetisieren). Genauso ist man in der Lage, einen Baum zu erkennen, gleich, ob er auf dem Bild in allen Einzelheiten oder nur in wilden Linien nachgebildet ist.

Die sichtbaren Formen in einem Bild entsprechen den unsichtbaren Begriffen im Denken. Bei Phantasieobjekten denkt man nicht an die individuelle Formung der Lippen oder an eine bestimmte Augenfarbe, sondern abstrahiert im Zuge des Denkvorgangs auf eine allgemeine Form, die es so in der Wirklichkeit gar nicht gibt. Wiesing sagt hierzu: „Denken und Gedanken synthetisieren die Wirklichkeit zu intentionalen Objekten.“(Wiesing 2000, S. 35)

Ein weiterer Faktor ist der Stil, in dem das Dargestellte im Bild gezeigt wird. Er ist „der sichtbare Ausdruck eines vorbegrifflichen Denkens der sichtbaren Welt, weil er einen Gedanken nicht explizit auf den Begriff bringt und dennoch, ohne Begriffe zu verwenden, das macht, was spezifisch für Begriffe ist.“(Wiesing 2000, S. 35)So macht es in der Fotografie einen Unterschied, ob ein Apfel mit starken Kontrasten und hoher Bilddynamik oder in Sepia gezeigt wird. Es ist ein und dasselbe abgelichtete Objekt, aber dem Betrachter wird ein jeweils anderer Subkontext mitgegeben. Durch sichtbare Formen entstehen gedanklich unsichtbare Begriffe. Der Stil des Bildes – also die Art und Weise seiner Ausführung – verleiht der sichtbaren Welt Ausdruck in einem „vorbegrifflichen Denken“. „Vorbegrifflich“ meint, den Begriff nicht explizit zu formulieren, sondern seinen Inhalt auszudrücken. „Bilder, welche die Welt in verschiedenen Stilen zeigen, reflektieren die Welt anders - ‚reflektieren‘ heißt an dieser Stelle in gewollter Doppeldeutigkeit: sie zeigen die Welt anders und sie denken sie anders.“(Wiesing 2000, S. 35)

Es kann folglich in der Synthetizität die Verwandtschaft von Denken und Bildbetrachtung, wie sie bereits bei der Imaginarität und der Intentionalität dargestellt wurde, festgestellt werden.

2.4 Immersion

Wie bereits im Abschnitt2.1Intentionalitätangeführt, geschieht der Vorgang zu denken oder zu betrachten völlig selbstverständlich und automatisch. Bilder, die den Eindruck vermitteln, das Dargestellte sei präsent, geben dem Betrachter das Gefühl, reale Dinge zu sehen. Das führt soweit, dass er in eine künstliche Realität eintaucht. Analog zum theologischen Begriff für ‚Taufe‘ wird hier von Immersion bzw. von immersiven Bildern gesprochen.

Oliver Grau stellt die These auf: „Virtuelle[2] Realitäten – historische wie aktuelle – sind essentiell immersiv .“(Grau 2001, S. 22)So gab es schon immer Versuche immersive Bilder zu kreieren, insbesondere sind hier die Panoramen im 19. Jahrhundert zu nennen. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind das Panorama von Yadegar Asisi, das derzeit in Wittenberg die Stadt zur Zeit Martin Luthers zeigt (s. Abb. 2) oder eine Arbeit des Filmemachers und Fotografen Michael Campo ein quasi-statisches Bild, dass seinen immersiven Charakter allein durch die Bewegung des Dampfs erzielt.(Campo 2015; s. Abb. 3 und Anlage 2)Aktuell erwecken VR[3] -Brillen (wie in der Samsung-Werbung für das S7 & Gear 360 | VR zu sehen) den Eindruck einer 360-Grad-Wahrnehmung. Dem Betrachter (in dem Beispiel dem Mädchen) ist bewusst, dass es sich um einen Film handelt, aber sehen kann er /es es nicht.(Samsung Deutschland 2016; s. Abb. 4 und Anlage 3)

Im Gegensatz zur These von Grau ist für Wiesing eine virtuelle Welt nicht zwingend immersiv.(vgl. Wiesing 2014, S. 108)Denn bei Computerspielen, bewege man sich in einer virtuellen Welt, jedoch – so Wiesing –

aufgrund des widerstreitenden Rahmens, der ikonischen Differenz und der stilistischen Sichtweisen hat man es bei jedem Monitorbild klar mit einem nicht-immersiven Bild zu tun - und dennoch spricht man üblicherweise bei Computerspielen auf Fernsehgeräten von virtuellen Realitäten. Schon aus diesem Grund ist es kaum noch sinnvoll, mit dem Begriff der virtuellen Realität die Idee des immersiven Bildes anzusprechen.(Wiesing 2014, 108f.)

Ob jedoch eine solch harte Abgrenzung, wie Wiesing sie vornimmt, gerechtfertigt ist, ist m. E. fragwürdig, denn einerseits kann auch bei klassischen Panoramen der Betrachter letztendlich die Installation (den Aufbau) an sich wahrnehmen. Und andererseits gibt es schon seit den 1990er Jahren Computerspiele, die durch die Interaktion einen ‚Sog‘ ausüben, welcher die Distanz zur Realität (z.B.: Autorennen) vergessen lässt.

Das heißt zusammenfassend: klassisch geschaffene, wie digitale Bilder können immersiv sein, sind es jedoch nicht zwingend.

Bezüglich der virtuellen Realitäten unterscheidet Wiesing immersive und nicht-immersive. So passe sich in immersiven virtuellen Realitäten (Cyberspace) die Wahrnehmung von Bildobjekten an die Wahrnehmung realer Dinge an. Hierauf wird im Abschnitt5.3noch genauer eingegangen. Bei nicht immersiven virtuellen Realitäten (Computerspiel) kommt es hingegen zu einer „Angleichung des Bildobjektes an die Imagination“(Wiesing 2014, S. 109). Ein Beispiel aus dem Computerspiel „Siedler“: Die Welt, in der sich der Beobachter (der Spielende) bewegt, entspricht in ihrer Ausstattung und Gestaltung einer comichaften Vorstellung von mittelalterlichen Siedlungen und Lebensformen. (s. Abb. 5) Sie nähern sich Phantasieobjekten der Spieler an und erfüllen deren diesbezügliche Erwartungen. (s.2.2Imaginarität)

Darüber hinaus bleibt zu erwähnen, dass die Neuen Medien die Gestaltung immersiver Bilder erleichtern und diese besser verfügbar und reproduzierbar machen.(vgl. Wiesing 2014, S. 109)

3 Veränderung bei ‚Bewegten Bildern‘ und ‚Bewegten Gedanken‘

Bisher waren (einmal abgesehen von den Beispielen für immersive Bilder) nur statische Objekte Gegenstand der Betrachtung: der empirisch erfahrbare Apfel auf dem Tisch, seine Abbildung auf einem Tafelbild oder die Vorstellung eines Apfels in unserer Phantasie. Im Weiteren soll das Objekt der Betrachtung um bewegte Bilder und bewegte Gedanken erweitert werden. Was verändert sich wenn die intentionalen Objekte des Sehens oder Phantasie dynamisch sind?

In der Phantasie können die Objekte, die wir uns vorstellen, augenblicklich in Bewegung versetzt oder verändert werden. Die Gedanken sind frei und – wie beschrieben – ohne physische Widerstände veränderbar; nichts steht solchen imaginären Veränderungen im Weg.(vgl. Wiesing 2014, S. 113)Phantasieobjekte sind durch den Denkenden bewusst beeinflussbar. So könnte man in der Phantasie mit einem Apfel dribbeln wie mit einem Handball oder Orangensaft aus ihm pressen. Husserl nennt es „das Proteusartige der Phantasie“(Husserl 1980, S. 60, Z. 34)Betrachtet man hingegen ein Tafelbild, so sieht man (möglicherweise) „ein dynamisches Ereignis, aber das sichtbare Bildobjekt selbst ist in einem Moment und in einem Zustand eingefroren.“(Wiesing 2014, S. 113)Zeigt das Bild einen über den Tisch rollenden Apfel, ist dieser in der Bewegung eingefroren. In bewegten Bildern – also in Filmen – jedoch wird der Apfel in der Gesamtheit seiner rollenden Bewegung dargestellt. Und doch handelt es sich hierbei um etwas gänzlich anderes als um das, womit Husserl die Gedankenwelt als proteusartig beschreibt.

Daraus ergibt sich die Frage, wie sich „die Art der Bewegung von Bildobjekten in bewegten Bildern zu der Art der Bewegung, die im Denken stattfindet“(Wiesing 2014, S. 36)verhält?

Gemeinsam ist beiden, dass ihre intentionalen Objekte (also die Bild- bzw. Gedankenobjekte) fließend ineinander übergehen. Wenn sie sich bewegen oder verändern, kommt stets eine zeitliche Dimension hinzu. Damit ist nicht das physische Altern in der Zeit gemeint, das im Abschnitt2.1„Intentionalität“ angesprochen wurde, sondern der zeitliche Ablauf von Bewegung und Veränderung der dargestellten und gedachten Objekte.(vgl. Wiesing 2000, 35f.)

In der Phantasie gibt es kein vorhersehbares Ziel der Gedankenfolge. Der Denkende kann sie steuern, aber dennoch ist es unwahrscheinlich, dass auch bewusst zweimal genau dasselbe gedacht werden kann. Dahingehend ist der Ablauf der Bilder in einem Film determiniert. Der Zuschauer hat nicht die Möglichkeit, die dargestellten Veränderungen zu beeinflussen (also genau anders als beim Denken). Sie sind durch den Film vorgegeben bzw. festgelegt, sozusagen medienspezifisch.(vgl. Wiesing 2014, S. 115)Hierbei kann die „Logik innerer Prozesse dargestellt, die Geschichte entwickelt werden“.(vgl. Wiesing 2000, S. 37)Aber nur der Macher des Films legt fest, was wann und wie lange gezeigt wird. Er schafft den Film, der für den Betrachter zu einem „dynamische[n] intentionale[n] Bildobjekt“(Wiesing 2014, S. 114)wird. Der, der sich den Film ansieht, kann die Abfolge, die zeitliche Dauer des Dargestellten nicht beeinflussen.

Zusammenfassend bedeutet dies: Im Gegensatz zu einem statischen Tafelbild, sind die Bilder in einem Film dynamisch, wie die Abfolge von Gedanken. Doch die „Gegebenheitsweise von Bewegungen in Gedankengängen“(Wiesing 2000, S. 37)beruht auf der gewollten Einflussnahme des Denkenden auf die Gedankenfolge. Im Gegensatz dazu fehlt dem Beobachter eines Films die Möglichkeit, auf dessen Verlauf Einfluss zu nehmen.(vgl. Wiesing 2000, S. 37)

4 Neue Medien

Betrachtet wurde bis jetzt der phänomenologische Unterschied in Bezug auf die Dynamik im Denken einerseits und in der Betrachtung eines Films andererseits.[4]

Aber wie verhält es sich mit bewegten Bildern – Wiesing nennt sie „bewegte Bildlichkeit“ – im Zeitalter digitaler Medien?

Wiesing stellt die These auf, dass der im Abschnitt3beschriebene grundlegende Unterschied in der Möglichkeit der Einflussnahme auf die Veränderung bzw. Bewegung in intentionalen Objekten des Denkens einerseits und des Betrachtens von bewegten Bildern (im klassischen Film) andererseits durch die Möglichkeit digitaler Medien angeglichen wird.(vgl. Wiesing 2000, S. 36)Daraus ergibt sich, so Wiesing, eine „schrittweise Angleichung der Bilddynamik an die Denkdynamik“(Wiesing 2000, S. 38)

Wie sich der Fluss von Bildern in der Phantasie und Bildern in Filmen unterscheidet, so gibt es auch Unterschiede zu Bildern, die den Neuen Medien entstammen. Wiesing spitzt die Unterscheidung auf die Frage zu, welche Bilder man ausschließlich, mit dem Computer erzeugen kann. Diese Betrachtung führt zu Bildern, die durch den Betrachter beeinflusst werden können. Denn hier bieten die digitalen Medien im Gegensatz zu konventionellen Filmen Möglichkeiten, das imaginäre Bildobjekt zu verändern.(vgl. Wiesing 2014, S. 116)Lambert Wiesing unterscheidet zwei Formen von Computer generierten Bilderfolgen, die im Weiteren erläutert werden sollen: Animation und Simulation.

4.1 Animation

Digitale Medien erlauben es also, in den Bilderfluss einzugreifen, das bedeutet Bilder zu schaffen, „bei denen die sichtbare Darstellung als Darstellung“(Wiesing 2014, S. 116)veränderbar wird. Dies ist ein Eingriff „in die imaginäre […] gezeigte Welt“(Wiesing 2014, S. 116). Daraus resultiert eine willentliche Steuerbarkeit der Bewegungen der Bildobjekte. In Abschnitt3wurde beschrieben, dass ein Gedankenfluss in seiner Entwicklung immer offen ist, wohin gegen das Geschehen in einem konventionellen Film determiniert ist. Eine Animation vereinigt Elemente aus beiden: es werden Bildobjekte gezeigt, die jedoch wie Phantasieobjekte willentlich beeinflusst werden können. Wiesing definiert daher „Animation“ wie folgt:

Eine Animation liegt genau dann vor, wenn das Gezeigte als Gezeigtes frei veränderbar ist, und das heißt: wenn sich die Bildobjekte in ihrer Art, wie sie sich verändern lassen, der Art angleichen, wie sich Phantasieinhalte verändern lassen. Das imaginäre, im Bild sichtbare Objekt ist durch die neuen Medien dem imaginären, aber unsichtbaren Objekt der Phantasie in seiner Beweglichkeit strukturell angeglichen worden(Wiesing 2014, S. 117).

[...]


[1] Irreal also nicht nur in dem Sinne, dass man an Hobbits denkt oder Bilder von Elfen betrachtet, sondern eben durch die beschriebene Physiklosigkeit. Dadurch ist auch ein gedachter oder gemalter Gegenstand (wie der zuvor im Beispiel angeführte Apfel) irreal und imaginär.

[2] Virtuell meint hier: „nicht echt, nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend“. (Duden - Deutsches Universalwörterbuch: Das umfassende Bedeutungswörterbuch der deutschen Gegenwartssprache 2016, S. 1940)

[3] VR = virtual reality

[4] An dieser Stelle wird darauf verzichtet Wiesings Ausführungen zum Thema „Neue Medien“ oder „neue Medien“ zu folgen. Es würde den Umfang der Arbeit sprengen. Im Weiteren wird „Neue Medien“ als eigenständiger Begriff für die gegenwärtig aktuellen Medientechniken genutzt. (vgl. auchWiesing 2014, S. 109f.)

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Sehen und Denken. Virtual Reality als neues Medium und ihre Erfüllung des Bildphänomens bei L. Wiesing
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Philosophische Institut)
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
28
Katalognummer
V365463
ISBN (eBook)
9783668451421
ISBN (Buch)
9783668451438
Dateigröße
3132 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Immersion, Phänomenologie, Wiesing, virtuelle Realität, augmented reality, sehen, denken, Digitalisierung, Imagination, virtuelle Bildobjekte, Animation, Simulation, Neue Medien, Intentionalität, Synthetizität, Imaginarität
Arbeit zitieren
Annette Meyer (Autor:in), 2017, Sehen und Denken. Virtual Reality als neues Medium und ihre Erfüllung des Bildphänomens bei L. Wiesing, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/365463

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