Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Delinquenz
1.1. Begriffsbestimmung Delinquenz
1.2. Delinquenz in Abgrenzung zu Devianz
1.3. Charakteristika Jugenddelinquenz
1.4. Exkurs soziologische Delinquenz-Theorie
1.4.1. Annäherung an die Begrifflichkeit Sozialisation im Zusammenhang mit Jugenddelinquenz
1.4.2. Wirkung der Individualisierung und Pluralisierung
1.4.3. Rolle der primären und sekundären Sozialisationsinstanzen
1.5. Zusammenfassung
2. Delinquenz und Erlebnispädagogik
2.1. Begriffliche Annäherung
2.2. Ziele erlebnispädagogischer Maßnahmen
2.3. Transfermodell
3. Erlebnispädagogik als Interventionsmaßnahme
3.1. Erlebnispädagogik als Interventionsmaßnahme in den Hilfen zur Erziehung
3.1.1. Erlebnispädagogik als Gestaltungsprinzip des Heimalltags
3.1.2. Erlebnispädagogik als Instrument zur Krisenintervention
3.1.3. Erlebnispädagogik als Alternative zum Strafvollzug
3.1.4. Erlebnispädagogik als eine Art „Finales Rettungskonzept“
3.2. Zusammenfassung
4. Kritische Betrachtung von Erlebnispädagogik
4.1. Erlebnispädagogik als „Finales Rettungskonzept“, „Wunderwaffe“ und Co.
4.2. Erlebnispädagogik im Kontext Freiwilligkeit vs. Zwang
4.3. Das Patent „Erlebnispädagogik“
4.4. Bedeutung des Transfers
4.5. Rolle der Freizeit- und Kurzzeitpädagogik
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
Einleitung
Junge Menschen stehen in ihrer Entwicklung, auf Grund gesellschaftlicher Veränderungen, zunehmenden Herausforderungen und Aufgaben gegenüber, welche sie erfolgreich bewältigen bzw. meistern müssen. In diesem Kontext ergibt sich ein stetig steigender Anspruch an die Soziale Arbeit im Bereich der Jugendarbeit. Die Erlebnispädagogik stellt in diesem Zusammenhang eine Möglichkeit dar, diesem Anspruch mit alternativen Lösungsansätzen gerecht zu werden.
Auch wenn laut Kurt Hahn dem Begründer der Erlebnispädagogik die Aufgabe dieser Methodik darin liegt[1]
„[…] dem Leben das Geheimnis, das in der Moderne zu verschwinden droht, wieder zurück zu geben.“[2],
kann im Vorfeld dieser Hausarbeit bereits gesagt werden, dass die Erlebnispädagogik mit Sicherheit keine Wunderwaffe im Umgang mit delinquenten Jugendlichen darstellt. Vielmehr stellt sich die Frage, ob erlebnispädagogische Settings als Alternative in der Sozialen Arbeit betrachtet werden können, welche die bisherigen Interventionsmaßnahmen um eine Methode bereichern?
In der vorliegenden Hausarbeit geht es vor allem darum, an Hand der kritischen Auseinandersetzung mit der Thematik Erlebnispädagogik deren Möglichkeiten und Grenzen in den stationären Hilfen zur Erziehung aufzuzeigen. Zudem soll der inhaltliche Schwerpunkt darauf liegen, hervorzuheben, ob Erlebnispädagogik lediglich eine Maßnahme mit kurzfristigen Impulsen und Anstößen für die Jugendlichen darstellt oder ob sie tatsächlich die Möglichkeit einer langfristigen Intervention besitzt? In diesem Kontext soll erörtert werden, in wie fern erlebnispädagogische Maßnahmen als Beitrag zur Bewältigung von delinquentem Verhalten bei Jugendlichen in den stationären Hilfen zur Erziehung angesehen werden können?
1. Delinquenz
Delinquenz in Verbindung mit und ohne Migrationshintergrund stellt ein Thema dar, welches in den vergangenen Jahren sowohl die Wissenschaft als auch die gesellschaftlichen Diskussionen polarisierte. Die Diskurse diesbezüglich wurden zu Beginn überwiegend unter dem Aspekt der Ausländerkriminalität navigiert. Die Fragestellung ob Jugendliche generell delinquenter werden, kommt immer wieder dann neu auf, wenn sich gewalttätige, brutale und kriminelle Ereignisse innerhalb kurzer Abstände in den Medien häufen.[3]
Anfang 2008 wurde der Diskurs anlässlich eines lebensgefährlichen Angriffs zweier Jugendlicher mit Migrationshintergrund auf einen Rentner in einem Münchener U-Bahnhof erneut fanatisiert. Es wurde eine bundesweite kontroverse Debatte bezüglich delinquenter Jugendlicher mit und ohne Migrationshintergrund ausgelöst.
Im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stehen nicht primär die Lebensumstände, welchen die Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben grundsätzlich gegenüberstehen, sondern das ansteigende delinquente Verhalten in dieser Lebensphase.
„In den öffentlichen Debatten wurde dabei nicht selten der Eindruck erweckt, als habe man es mit einer Altersgruppe zu tun, die nichts anderes im Kopfe hat als stehlend und raubend, schlagend und prügelnd `durch die Lande´[4] zu ziehen.“
Aufgrund der Berichterstattung der Medien und der jugendkriminalpolitischen Debatten in den letzten Jahren gewannen viele Menschen den Eindruck, dass Jugenddelinquenz ein massives, nicht beherrschbares Ausmaß annehme. Vorurteile bezüglich delinquenter Jugendlicher aus bestimmten ethnischen Gruppen wurden bedient und verallgemeinert. Eine Differenzierung durch die Gesellschaft blieb aus. Auch wenn Studien deutlich belegen, dass die Kriminalität junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund eng an deren Lebensbedingungen gekoppelt ist, wurden in Folge der Dramatisierung viele Menschen diesbezüglich (über-)sensibilisiert und forderten eine Verschärfung des Jugendstrafrechts und eine frühere Abschiebung delinquenter Jugendlicher mit Migrationshintergrund.[5]
Aber was wird in diesem Zusammenhang eigentlich unter Delinquenz verstanden? Um sich dieser Frage zu nähern, werden in diesem Kapitel die zentralen Begrifflichkeiten dieser Hausarbeit definiert. Zusätzlich soll durch die Definition der im alltäglichen Sprachgebrauch vorkommenden Mehrdeutigkeit und der individuellen Zuschreibung von Begriffen entgegengewirkt werden.
1.1. Begriffsbestimmung Delinquenz
In der Terminologie begegnet man der Begrifflichkeit „Delinquenz“ bzw. „delinquentem Verhalten“ in den unterschiedlichsten Kontexten. Bei der intensiven Recherche zu dieser Begrifflichkeit gelangt man allerdings schnell zu der Erkenntnis, dass es sich als sehr verworren darstellt eine objektive kongruente Definition auszumachen.
Geschichtlich betrachtet, erfolgte 1899 im amerikanischen Sprachraum die Einführung der Wortmarke „Delinquenz“, um eine Unterteilung zwischen erwachsenen Straftätern und verhaltensauffälligen sowie kriminellen Kindern und Jugendlichen zu schaffen.[6]
Bei der näheren Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Delinquenz-Begriff wird deutlich, dass dieser allerdings klare Unterschiede bezüglich der deutschen Begriffsbestimmung beinhaltet, denn in Deutschland wird „Delinquenz“ lediglich „…als jugendgemäße, abmildernde Bezeichnung für Kinder- und Jugendkriminalität.“[7] verwendet und nicht wie im amerikanischen Sprachraum auf alle Vergehen von Kindern und Jugendlichen, welche die öffentliche Ordnung stören, angewandt.[8]
Demnach beinhaltet die deutsche Definition von Delinquenz alle Verhaltensweisen von Kinder und Jugendlichen, welche strafrechtlich festgelegte Grenzen überschreitet.
Trotz der juristisch festgelegten Rahmenbedingungen bezüglich der deutschen Begriffsbestimmung von delinquentem Verhalten ist diese stets abhängig vom aktuell bestehendem Recht, denn
„Was heute und hier ein Verbrechen ist, ist es vielleicht morgen und dort nicht mehr und umgekehrt“ [9]
Dieses Zitat soll präzisieren, dass die Begrifflichkeit Delinquenz durch allgemeingültiges Recht und von den aktuell gültigen Normen unserer Gesellschaft bedingt werden. Ein Verhalten welches gestern als delinquent eingestuft wurde, kann morgen unter neu in Kraft getretenen Gesetzen völlig legitim erscheinen. Demnach ist das Verhalten eines Menschen, welches als delinquent eingeordnet wird, folglich von der jeweiligen Konstellation und dem entsprechenden Gesichtspunkt abhängig.[10]
In der vorliegenden Hausarbeit wird der Begriff „Delinquenz“ oder delinquentes Verhalten ausnahmslos unter dem Aspekt der deutschsprachigen Definition verwendet, demnach finden lediglich Vergehen gegen bestehende Rechtsnormen, welche von Kindern oder Jugendlichen begangen worden sind, Anwendung im Delinquenz-Begriff.
1.2. Delinquenz in Abgrenzung zu Devianz
In jeder Gesellschaft existieren
„[…] feste Vorstellungen und Regeln, wie sich Individuen in gewissen Situationen zu verhalten haben. Diese sozial konstruierten Verhaltenserwartungen bestimmen, was als gesellschaftlich anerkannt und normal ist und was als Abweichung anzusehen wäre.“[11]
Abweichendes Verhalten (Devianz) charakterisiert demnach Verhaltensmöglichkeiten, welche nonkonform zu den allgemeinen Kultur-, Norm-, oder Wertevorstellungen existieren. Devianz ist demnach nur in Bezug auf ein Normverhalten, eine Verhaltenserwartung und/oder festgeschriebene Verhaltensmuster begründet. Verhaltenserwartungen sind stets in einen gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang integriert und daher epochal und (über-)regional veränderbar.[12]
Dem zu Folge werden unter dem Terminus „Devianz“ alle (norm-)abweichenden Verhaltensweisen zusammengefasst. Da diese aber nicht zwangsläufig im direkten Kontext mit Straffälligkeit stehen müssen, stellt Delinquenz lediglich eine mögliche Formvariante von Devianz dar.[13]
1.3. Charakteristika Jugenddelinquenz
Unter Jugenddelinquenz werden wie bereits im vorangegangenem Kapitel verdeutlicht wurden, alle polizeilich dokumentierten Gesetzesverstöße von Kindern und Jugendlichen zusammengefasst. Diese gesetzes-non-konformen Handlungsschemata von Kindern und Jugendlichen erfahren eine Klassifizierung nach den Kriterien des Strafgesetzbuches und eine Sanktionierung durch das Jugendgerichtsgesetz.[14]
Jugenddelinquenz wird als ein von der Norm abweichendes Verhalten definiert, welches zwar bestehende Gesetzesgrundlagen überschreitet, aber als Handlungsweisen anerkannt werden, welche entwicklungsbedingt auftauchen können. Demnach endet dieses strafrechtliche in Erscheinung treten, laut etlicher empirischer Forschungsergebnisse, nicht unabwendbar in einer kriminellen Biografie.[15]
Dem zu Folge ist Jugendkriminalität im statistischen Sinne betrachtet als ein entwicklungsbedingtes „normales“ Verhalten zu bewerten. HEINZ[16] kam bei der Auswertung seiner empirischen Studie zu dem Ergebnis, dass über 80 Prozent der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen, im Laufe ihrer Adoleszenz-Entwicklung gegen juristische Gesetzmäßigkeiten verstoßen haben. Bei der geschlechtsspezifischen Auswertung dieser wissenschaftlichen Befragung wurde zudem deutlich, dass 90 Prozent der männlichen Probanden bereits vorherrschende Gesetze übertreten haben.[17] STIMMER bekräftigt die Forschungsergebnisse von HEINZ folgendermaßen
„Untersuchungen haben gezeigt, dass Kriminalität im Jugendalter weit verbreitet, vorübergehender Natur und hauptsächlich im Bagatell- und Eigentumsbereich angesiedelt ist. Deshalb wird die Verwendung des weniger stigmatisierenden Begriffs Jugenddelinquenz empfohlen.“[18]
1.4. Exkurs soziologische Delinquenz-Theorie
Um delinquenten Verhaltensweisen vorbeugend wirksam zu begegnen und deren sogenannte „Signale zu erkennen“, ist es von großer Bedeutung, als Ausgangspunkt für adäquate Präventionsangebote deren Ursachen zu kennen.[19]
Seit etlichen Jahren wird eine intensive Ursachenforschung[20] bezüglich der Ausprägung von delinquentem Verhalten durchgeführt, aus welchen diverse Theorien abgeleitet wurden, von denen ich lediglich Zusammenhänge zwischen Delinquenz und zentralen biografischen Entwicklungsbereichen unter dem soziologisch theoretischem Aspekt kurz in diesem Kapitell erwähne, um den Rahmen dieser Hausarbeit nicht zu sprengen.
Die Soziologie vertritt die Annahme, dass bezüglich der Ausprägung von delinquentem Verhalten die Gründe primär in der Gesellschaft als beim Individuum selbst zu suchen sind. Demnach liegt der Fokus bei der soziologischen ursächlichen Herangehensweise auf dem Sozialisationsprozess und den sozialen Bedingungen, welchen der/die delinquente Jugendliche ausgesetzt ist. Bei der soziologischen Auseinandersetzung mit den Entstehungsfaktoren von Delinquenz werden sowohl die sozialstrukturellen Gegebenheiten, als auch die jeweiligen Entwicklungsbedingungen herangezogen, da die Annahme besteht, dass der Sozialisationsprozess einen prägenden biografischen Einfluss auf folgende Lebensphasen haben kann.[21]
1.4.1. Annäherung an die Begrifflichkeit Sozialisation im Zusammenhang mit Jugenddelinquenz
„Sozialisation bezeichnet (…) den Prozess, in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundlagen, die für den Menschen die ‚innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ‚äußere Realität‘ bilden.“[22]
Mit Blick auf diese Definition des Sozialisationsprozesses von Hurrelmann, wird deutlich warum die Entwicklungsphase „Jugend“ zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr als eine der bedeutendsten Etappen für das Leben eines jeden Menschen darstellt. Innerhalb dieses lebensgeschichtlichen Prozesses spielen sich erhebliche Veränderungen der physischen, geistigen und emotionalen sowie sozialen Entwicklung ab.[23]
Auch stellt sich das Assimilieren von Jugendlichen in die Gesellschaft als ein mutueller Prozess dar, in welchem sich die individuelle Persönlichkeit und das jeweilige soziale Umfeld korrelativ beeinflussen. HURRELMANN äußert zudem, dass Jugendliche im Laufe ihrer Persönlichkeitsentwicklung zunehmend einer Konfrontation mit den gesellschaftlichen Direktiven, Werten und Normen ausgesetzt sind. Nicht allen Jugendlichen gelingt die aktiv-produktive Auseinandersetzung mit den individuellen Dispositionen und der sozialen sowie substanziellen Umwelt, so dass die Ausbildung von Regulations- und Selbstregulationssystemen, bis zur Herausbildung eines gesellschaftskonformen handlungsfähigen Subjektes – produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts.[24], nur bedingt gelingt.[25]
1.4.2. Wirkung der Individualisierung und Pluralisierung
Jugendliche befinden sich, begründet durch den sozialen Wandel, gegenwärtig in einer Gesellschaft, welche im Wesentlichen von zwei Aspekten bestimmt wird. Dies ist zum einen die Individualisierung, welche den Jugendlichen zwar eine immense Bandbreite an Lebensgestaltungs-Möglichkeiten eröffnet, sie aber gleichzeitig durch die ablaufende Pluralisierung, in eine Umwelt hineinwachsen lässt, welche sich zum Teil als sehr unübersichtlich und unsicher darstellt. Die Jugendlichen befinden sich trotz der Pluralität der Lebensformen in einer Lebensphase mit einer anspruchsvollen Anforderungsstruktur, umgeben von gesellschaftlichen Erwartungen, die ihnen die Entwicklung neuer, situations- und gesellschaftskonformer adäquater Bewältigungsstrategien abfordert – „Jugend muss nun von den Jugendlichen stärker individuell bewältigt werden.“[26]
[...]
[1] vgl. Galuske, 2007 S. 241-243
[2] Kurt Hahn
[3] vgl. Kersten 2002, S. 14 - 20
[4] Mansel 2000, S. 70
[5] vgl. Kersten 2002, S. 14 - 20
[6] vgl. Reinhold 1992, S. 95
[7] Scheerer 2002, S. 195
[8] vgl. Scheerer 2002, S. 195
[9] Metzger 1951, S. 4 in Steuber 1988, S. 48
[10] vgl. Füldner 2001, S.9
[11] Fegert 2008, S. 15
[12] vgl. Häßler 2015
[13] vgl. Scheffel 1987, S. 43
[14] vgl. Stimmer 1996, S. 272
[15] vgl. Stimmer 2000, S. 123; Heinz, 2006, S. 19; Reuter, 2001, S. 132
[16] vgl. Heinz 1996, S. 55 ff.
[17] vgl. Heinz 1996, S. 55 ff.
[18] Stimmer 2000, S. 359
[19] vgl. Lienhart 2009, S. 5
[20] vgl. u.a. Lamnek, 1994, 1996; Opp,1974)
[21] vgl. Lienhart 2009, S. 8
[22] Hurrelmann, 2006, S. 15 f.
[23] vgl. Hurrelmann 1994, S. 12
[24] vgl. Hurrelmann 2015, S. 10 f
[25] vgl. Melzer; Jakob 2002, S. 7
[26] Böhnisch 2008, S.147