Organisationale Trägheit. Wie es trotz radikaler Umweltveränderungen zu Stillstand in Unternehmen kommt


Bachelorarbeit, 2013

37 Seiten, Note: 1,3

Emil Berger (Autor:in)


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Problemstellung und Gang der Untersuchung

2 Theoretische Grundlagen des Trägheitskonzepts
2.1 Definition des Trägheitsbegriffs
2.2 Population Ecology-Ansatz
2.2.1 Grundkonzeption
2.2.2 Kritik und Weiterentwicklungen
2.3 Arten organisationaler Trägheit
2.4 Ursachen organisationaler Trägheit

3 Überblick empirischer Untersuchungen organisationaler Trägheit
3.1 Einflussfaktoren
3.1.1 Alter der Organisation
3.1.2 Größe der Organisation
3.1.3 Früherer Wandel
3.1.4 Frühere Performance
3.1.5 Grad der Marktdiversifikation
3.1.6 Zusammenhänge zwischen Ursachen und Einflussfaktoren
3.2 Auswirkungen organisationalen Wandels
3.3 Zusammenfassung: Wirkungsgefüge organisationaler Trägheit

4 Handlungsempfehlungen zur Überwindung organisationaler Trägheit

5 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Wirkungsgefüge organisationaler Trägheit - 22 -

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Chronologische Darstellung der Entwicklung des Population Eco-logy-Ansatzes und Trägheitskonzepts

Tabelle 2: Übersicht empirischer Ergebnisse zu den Einflussfaktoren/ Wirkungen organisationaler Trägheit

1 Problemstellung und Gang der Untersuchung

Unternehmen sehen sich heute mehr denn je radikalen Umweltveränderungen ausgesetzt: Vor allem die intensivierte Globalisierung der Märkte und der rasante technische Fortschritt konfrontieren Organisationen mit einem verschärften Wettbewerb (vgl. Stern & Jaberg 2007). Zudem verändern sich entscheidende Faktoren wie das verfügbare Wissen sowie die Ansprüche und Wünsche der Kunden immer schneller (vgl. Stern & Jaberg 2007). Damit wird die Anpassungsfähigkeit einer Organisation an die sich verändernden Umweltbedingungen zum entscheidenden Faktor zur Sicherung der Überlebens- und Wettbewerbsfähigkeit (vgl. Vahs & Burmester 2005). Die Zeiten, in denen Unternehmen veraltete oder technisch rückständige Produkte verkaufen konnten, sind vorbei (vgl. Levitt 1983).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie es trotz der radikalen Umweltveränderungen zu Stillstand in Unternehmen kommt, etwa in Form hinausgezögerter Produkteinführungen oder unterlassener Reaktionen auf Handlungen von Konkurrenten (vgl. Stern & Jaberg 2007).

Zur Beantwortung dieser Frage setzt sich diese Arbeit intensiv mit dem Konzept organisationaler Trägheit auseinander. Im Population Ecology-Ansatz (vgl. Hannan & Freeman 1977), in dem das Trägheitskonzept verankert ist, stellen Trägheitskräfte die wesentliche Ursache für mangelnde Anpassungsfähigkeit dar. Organisationaler Wandel vollzieht sich nach dieser Auffassung hauptsächlich durch die Gründung neuer und die Ersetzung alter Organisationen, statt durch strategisches Management der Führungskräfte, wie von der bis dahin dominanten Adaptions-Theorie angenommen.

Im Anschluss an die Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes wurden diese sowie das zugehörige Trägheitskonzept intensiv diskutiert und kritisiert (z.B. March 1981). Als Konsequenz wurde diese Theorie ständig weiterentwickelt und überarbeitet (z.B. Hannan & Freeman 1984, Tushman & Romanelli 1985). Im Fokus standen dabei vor allem die Fragen nach den Ursachen, Einflussfaktoren und Wirkungen organisationaler Trägheit. Zur Erforschung des Wirkungsgefüges organisationaler Trägheit wurde zudem eine Vielzahl empirischer Untersuchungen vorgenommen, wobei die Ergebnisse nicht immer eindeutig sind.

Angesichts der hohen Relevanz der Thematik ist es überraschend, dass in der Literatur bisher keine Arbeiten zur Strukturierung und Systematisierung der verschiedenen, sich ergänzenden Theorien in einen gemeinsamen Kontext existieren. Des Weiteren mangelt es an einer Einordnung, dem Vergleich und der Bewertung der teilweise gegensätzlichen Ergebnisse der verschiedenen empirischen Forschungsarbeiten.

Ein Ziel dieser Arbeit ist daher, einen Überblick zu den seit der Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes entstandenen Entwicklungen und Überarbeitungen des Trägheitskonzepts zu bieten. Darauf aufbauend werden, durch Auswertung der Forschungsergebnisse relevanter empirischer Untersuchungen, die Ursachen, Einflussfaktoren und Wirkungen organisationaler Trägheit identifiziert.

Hinsichtlich der Entwicklung des Trägheitskonzepts wird vor allem der Trend der Annäherung zwischen den ursprünglich gegensätzlichen selektiven (Population Ecology-Ansatz) und adaptiven (Strategic Management-Theorie) Perspektiven der Organisationsentwicklung untersucht (vgl. Barnett & Carroll 1995).

Bei der Forschung nach den Ursachen organisationaler Trägheit erweist sich die von Hannan und Freeman (1977) erstellte Liste der Hemmnisse organisationalen Wandels („list of constraints“, Hannan & Freeman 1977, S.931) als geeigneter Ausgangspunkt, da sie grundlegende Implikationen für alle weiteren Überlegungen beinhaltet. Als wesentliche Einflussfaktoren auf organisationale Trägheit werden Organisationsalter und Organisationsgröße, früherer Wandel, frühere Performance sowie die Marktdiversifikation der Organisation analysiert, da für diese Merkmale eine große Anzahl empirischer Untersuchungen mit größtenteils eindeutigen Ergebnissen vorliegt. Bezüglich der Wirkungen organisationaler Trägheit steht der Zusammenhang zwischen Trägheit und der Wahrscheinlichkeit organisationalen Wandels bzw. Scheiterns im Fokus.

Damit wird die bestehende Forschung zur organisationalen Trägheit erstmals in seiner Gesamtheit strukturiert und ein zusammenfassender Überblick entworfen. Außerdem werden die Ergebnisse bisheriger Forschungsarbeiten ausgewertet, wodurch ein integratives Wirkungsgefüge organisationaler Trägheit entwickelt werden kann. Abgeleitet von den hier ermittelten Ursachen, Einflussfaktoren und Wirkungen organisationaler Trägheit werden zudem Handlungsempfehlungen zur Überwindung der Trägheitskräfte genannt, die ebenfalls praktische Implikationen beinhalten.

Durch die Berücksichtigung des Population Ecology-Ansatzes als Rahmen des Trägheitskonzepts können zusätzlich neue Perspektiven auf die Zusammenhänge zwischen Selektions- und Adaptionstheorie sowie zu den gemeinsamen Elementen von Ursachen und Einflussfaktoren organisationaler Trägheit gewonnen werden.

Zu Beginn der Arbeit wird zunächst der Begriff organisationaler Trägheit geklärt. Darauf folgen eine Darstellung der Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes und des darin verankerten Trägheitskonzepts sowie eine Abgrenzung gegenüber anderen Forschungsdisziplinen zur Erklärung organisationalen Wandels. Des Weiteren werden die evolutionstheoretischen Hintergründe des Population Ecology-Ansatzes erläutert. Anschließend werden wesentliche Kritikpunkte an dieser Theorie genannt und auf entsprechende Weiterentwicklungen eingegangen. Es folgt eine Darstellung der Arten organisationaler Trägheit sowie die Identifizierung der Ursachen, Einflussfaktoren und Wirkungen dieser anhand der Auswertung verschiedener empirischer Untersuchungen. Davon werden praxisorientierte Handlungsempfehlungen zur Überwindung organisationaler Trägheit abgeleitet. Abschließend erfolgen eine Zusammenfassung der Ergebnisse, ein Ausblick zur weiteren Behandlung der Thematik sowie die Benennung theoretischer und praktischer Implikationen.

2 Theoretische Grundlagen des Trägheitskonzepts

2.1 Definition des Trägheitsbegriffs

Zum besseren Verständnis des Trägheitsbegriffs wird zunächst auf dessen ursprüngliche Herkunft sowie den Gebrauch im betriebswirtschaftlichen Kontext eingegangen: Trägheit beschreibt in seinem eigentlichen physikalischen Zusammenhang die „Eigenschaft der Masse, ihren Bewegungszustand beizubehalten, solange keine äußere Kraft einwirkt, die diesen Zustand ändert“ (Duden Online, 2013). Häufig wird Trägheit aber auch als menschliche Eigenschaft verstanden, beispielsweise in der Psychologie: Hier stellt Trägheit eine situativ oder in der Persönlichkeit begründete Verringerung der Motivation dar, mit der einer Tätigkeit entgegengewirkt und diese in ihrer Wirkung limitiert wird (vgl. Häcker & Stapf 2004).

In der Betriebswirtschaftslehre wird Trägheit insbesondere in der Disziplin der Organisationsforschung zur Untersuchung organisationaler Veränderungs- und Wandelprozesse diskutiert. Organisationale Trägheit wird dabei grundsätzlich als mangelnde Anpassungsfähigkeit einer Organisation an sich verändernde Umweltbedingungen verstanden, die durch organisationsinterne und -externe Hemmnisse hervorgerufen wird (vgl. Hannan & Freeman 1984). Trägheit bezieht sich auf die Geschwindigkeit des Wandels, mit dem eine Organisation auf das Auftreten umweltbedingter Gefahren und Gelegenheiten reagiert: „In particular, structures of organizations have high inertia when the speed of reorganization is much lower than the rate at which environmental conditions change“ (Hannan & Freeman 1984, S. 151). Folglich bezieht sich das Trägheitskonzept auf das Zusammenspiel zwischen den Verhaltensweisen einer Gruppe von Organisationen und ihrem Umfeld (vgl. Hannan & Freeman 1984).

Seinen Ursprung hat das Trägheitskonzept im sog. Population Ecology-Ansatz. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Population Ecology-Ansatz und dem Trägheitskonzept wird im Folgenden die von Hannan und Freeman (1977) vorgenommene Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatz dargestellt.

2.2 Population Ecology-Ansatz

2.2.1 Grundkonzeption

Der Population Ecology-Ansatz ist ein evolutionstheoretischer Ansatz zur Untersuchung der Beziehungen zwischen Organisationen und Umwelt, im Speziellen des organisationalen Wandels. Hannan und Freemans Grundkonzeption (1977) besagt, dass es eine Reihe von Limitationen für die Anpassungsfähigkeit von Organisationen gibt, nämlich Prozesse, die strukturelle Trägheit erzeugen. Je stärker der Druck dieser Trägheitskräfte, desto niedriger ist die adaptive Flexibilität der Organisation (vgl. Hannan & Freeman 1977).

Hannan und Freeman selbst bezeichnen die Grundkonzeption ihres Population Ecology-Ansatzes als Alternative zu der damals im Forschungsbereich der Organisationsentwicklung dominanten Adaptions-Theorie (vgl. Hannan & Freeman 1977), und in der Tat stellen diese beiden Theorien gegensätzliche, einander nahezu ausschließende Konzepte dar (vgl. Astley & Van de Ven 1983). Zur Verdeutlichung werden im Anschluss die wesentlichen Unterscheidungspunkte der beiden Theorien herausgearbeitet.

Die Adaptions-Theorie reflektiert die Annahme, dass organisationaler Wandel hauptsächlich auf adaptiven Reaktionen der Organisation auf vorangegangene Umweltveränderungen beruht (vgl. Barnett & Carroll 1995). Dabei kommt dem strategischen Management, also den Führungskräften, die leitende Rolle zu (Romanelli & Tushman 1986). Organisationen sind gemäß diesem Ansatz also in dem Maße von Umweltveränderungen betroffen, je nachdem wie Manager oder Leitungsbefugte Strategien entwickeln, Entscheidungen treffen und diese implementieren (vgl. Hannan & Freeman 1977).

Hannan und Freeman (1977) lehnen mit ihrer Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes jedoch eine Adaption im Sinne einer zielgerichteten und rationalen Anpassung der einzelnen Organisationen an die Umweltentwicklungen weitestgehend ab: Organisationen sind in der Grundkonzeption des Ansatzes nur in sehr geringem Maße fähig, sich bewusst in eine bestimmte Richtung zu verändern. Dies liegt als wichtigstem Punkt an den in dieser Arbeit im Fokus stehenden Trägheitskräften, die die organisationale Anpassungsfähigkeit limitieren (vgl. Hannan & Freeman 1977). Gemäß der Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes vollzieht sich organisationaler Wandel stattdessen hauptsächlich durch die Gründung neuer und das Ersetzen alter Organisationsformen, wobei die Umwelt die am besten an die Umweltbedingungen angepassten Organisationsformen selektiert (vgl. Hannan & Freeman 1977). Damit stellen Trägheitskräfte gemäß Hannan und Freeman (1977) den zentralen Unterscheidungspunkt zwischen Modellen zur Adaptions- und Selektionstheorie dar. Die mögliche Existenz organisationaler Trägheit in organisationalen Strukturen wurde bereits in früheren Arbeiten erörtert, allerdings nicht weiter vertieft (z.B. Stinchcombe 1965).

Für ein besseres Verständnis des Population Ecology-Ansatzes und des darin verankerten Trägheitskonzeptes wird im Folgenden auf die evolutionstheoretischen Hintergründe der Grundkonzeption eingegangen.

Die Grundlagen des Population Ecology-Ansatzes nach Hannan und Freeman (1977) beruhen auf Darwins synthetischer Evolutionsbiologie: Die zentralen Mechanismen des organisationalen Wandels stellen, wie auch in der Evolutionsbiologie, Variation und Selektion dar, wobei die Variation organisationaler Strukturen in der Grundkonzeption größtenteils nur durch die Neugründung von Organisationen oder organisationaler Formen und die Ersetzung alter Organisationen möglich ist. Die Trägheitskräfte verhindern dabei, dass Variationen über die ursprüngliche Population der Organisationen hinausgehen. Statt einer Variation über die Grenzen der jeweiligen Population hinaus wird angenommen, dass jede Population eine eigene spezifische Nische besetzt, die wegen Selektions- und Retentionsprozessen durch homogene Organisationen gekennzeichnet ist (vgl. zu diesen Annahmen Hannan & Freeman 1977).

Im Anschluss auf die Variation folgt, wie in der Evolutionsbiologie, die Selektion. Diese wird durch die Umwelt vorgenommen, welche die optimalen, also überlebensfähigsten Kombinationen von Organisationen positiv selektiert (vgl. Hannan & Freeman 1977). Objekte der Selektion sind dabei nicht individuelle Fähigkeiten, sondern Organisationen im Ganzen, da der Betrachtungsfokus in Hannan und Freemans Grundkonzeption (1977), angelehnt an die Evolutionsbiologie, auf der Populationsebene liegt: Populationen sind mit Bezug zum biologischen Genotyp durch eine gemeinsame Grundstruktur bzw. einen gemeinsamen Aufbau oder eine Art Blaupause („blueprint“, Hannan & Freeman 1977, S.935) gekennzeichnet. Diese Klassen von Organisationen („classes of organizations“, Hannan & Freeman 1977, S. 934) weisen Gemeinsamkeiten in Form von ähnlichen Methoden zum Erwerb von Inputs und zur Verarbeitung dieser zu Outputs auf und sind durch gleiche Umweltbedingungen oder -veränderungen betroffen, weshalb sie nach Hannan und Freeman (1977) als Untersuchungsobjekte für organisationalen Wandel geeignet sind.

2.2.2 Kritik und Weiterentwicklungen

Die zuvor beschriebene Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatz war in den Jahren nach ihrem Erscheinen häufig Gegenstand von Diskussionen und Kritik (z.B. March 1981; Young 1988). Außerdem wurde eine Vielzahl empirischer Untersuchungen, oft in Form von großzahligen quantitativen Verlaufsdatenanalysen, durchgeführt, um die Annahmen der Grundkonzeption auf ihre Validität zu prüfen (s. Tabelle 2, S. 22). Konzeptionelle Kritik einerseits sowie die Ergebnisse empirischer Untersuchungen andererseits haben wesentlich zur Überarbeitung und Erweiterung der Grundkonzeption beigetragen, wie im folgenden Abschnitt aufgezeigt wird.

Besonders kontrovers diskutiert wurden die Annahme der Grundkonzeption, dass sich organisationaler Wandel beinahe ausschließlich durch die von der Umwelt vorgenommene Selektion unter den Organisationen vollzieht, sowie die damit einhergehende grundsätzliche Ablehnung organisationaler Adaptions- und Entwicklungsfähigkeiten (vgl. Kieser 1988). Tatsächlich würden sich jedoch auch Organisationen ständig und ohne Schwierigkeiten verändern, allerdings lässt sich dieser Wandel nicht willkürlich steuern (vgl. Kieser 1988). In der Folge wurde die Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes dahingehend weiterentwickelt, als dass den Organisationen heute eine grundsätzliche Adaptionsfähigkeit zugestanden wird (vgl. Hannan & Freeman 1984). Damit werden die in der Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes noch als unvereinbar betrachteten Vorgänge der Selektion und Adaption (vgl. Hannan & Freeman 1977) heute als einander ergänzend betrachtet (vgl. Levinthal 1991). Die Annahme, dass die Umwelt auf Ebene der Populationen aus den Organisationen selektiert, bleibt aber bestehen (vgl. Hannan & Freeman 1984).

Ein weiterer Kritikpunkt an der Grundkonzeption bestand darin, dass sie nicht Einzelorganisationen, sondern ausschließlich ganze Populationen als Untersuchungsobjekt fokussiert, denn bei dieser Betrachtungsweise würden innerorganisationale Prozesse gänzlich vernachlässigt, obwohl durch die Praxis bewiesen wäre, dass auch einzelne Abteilungen von Organisationen Objekt von Variation und Selektion sein können (vgl. Kieser 1988). In neueren Studien fand daher eine Verschiebung des Betrachtungsfokus von Populationen hin zu Einzelorganisationen und dem innerorganisationalen Wandel statt: „In other words, major change processes occur within behavorial units“ (Hannan & Freeman 1984, S. 151).

Durch die beschriebene Verschiebung des Betrachtungsfokus von Populationen hin zu Einzelorganisationen sowie die dargestellte Annäherung von Adaptions- und Selektionstheorie hat sich auch das Analysespektrum empirischer Untersuchungen verändert, wodurch sich zu Beginn der 1990er Jahre eine neue Phase der Erforschung organisationaler Veränderungsprozesse entwickelte: „(…), a new and rapidly surging stream on organizational change and its outcomes has appeared“ (Barnett & Carroll 1995, S. 218). Die Ergebnisse dieser Studien werden später in dieser Arbeit untersucht.

Die Entwicklung des Population Ecology-Ansatzes wird bei Betrachtung des sog. Punctuated Equilibrium-Modells (z.B. Miller & Friesen 1984; Tushman & Romanelli 1985) deutlich. Dieses Modell zur Vorhersage von Mustern organisationalen Wandels nimmt an, dass der gewöhnliche Zustand einer Organisation ein Zustand von Stabilität oder Ausgeglichenheit („Equilibrium“) ist. In diesen relativ langen Phasen des inkrementalen Wandels, Konvergenzphasen genannt, wirken starke Trägheitskräfte auf die Organisation, wodurch nur stufenweise Adaptionen an die Umwelt vorgenommen werden können. Sobald der Anpassungsdruck aus der Umwelt jedoch zu groß wird, kommt es zu relativ kurzen Ausbrüchen fundamentalen Wandels, bei denen die Trägheitskräfte überwunden werden können. Während dieser selektiven Neuorientierungsphase findet ein Übergang zu einer grundsätzlichen neuen Struktur statt, bevor die nächste Konvergenzphase beginnt (vgl. für diese Annahmen Tushman & Romanelli 1985). Das Punctuated Equilibrium-Modell führt also die Adaptions- und Selektionstheorie zusammen, indem die These aufgestellt wird, dass in Konvergenzphasen Adaptionen und in Neuorientierungsphasen Selektionsprozesse überwiegen.

Trotz der dargestellten Weiterentwicklung und Überarbeitung des Population Ecology-Ansatzes soll festgehalten werden, dass die Annahme der Grundkonzeption, dass Trägheitskräfte eine permanente Anpassung der Organisationen an ihre Umwelt verhindern und eine entscheidende Rolle bei organisationalen Veränderungsprozessen besitzen (vgl. Hannan & Freeman 1984), bestehen bleibt.

Im Folgenden wird daher näher auf das im Population Ecology-Ansatz verankerte Trägheitskonzept eingegangen, wobei auch hier einige Weiterentwicklungen bzw. Erweiterungen der ursprünglichen Annahmen deutlich werden.

2.3 Arten organisationaler Trägheit

Hannan und Freeman (1977) begründen bereits in ihrer Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes die These, dass organisationale Trägheit die Ursache für die geringen Anpassungsfähigkeiten von Organisationen ist. Erst in ihrer späteren Arbeit „Structural Inertia and Organizational Change“ (1984) nehmen sie jedoch eine Hierarchisierung der unterschiedlichen Trägheitskräfte vor, da sie anerkennen, dass sich manche Abteilungen von Organisationen schneller wandeln als andere und es mitunter nicht schwierig ist, adaptive Veränderungsprozesse einzuleiten, letztendlich also nicht alle Bereiche einer Organisation gleich träge sind (vgl. Hannan & Freeman 1984).

Hannan und Freeman (1984) teilen die Organisationsstrukturen gemäß ihrem Einfluss auf die Ressourcenmobilisierung ein, und zwar in einen Kern und in die Peripherie der Organisation. Der organisationale Kern wird in vier Bereiche hierarchisiert: In (a) die Ziele der Organisation („goals“), (b) das Autoritätsgefüge („forms of authority“), (c) die verwendete Technologie („core technology“) und (d) die Marketingstrategie („marketing strategy“). Dabei sind (a) die Ziele der Organisation am schwierigsten und (d) die Marketingstrategie am leichtesten anzupassen, da die vier verschiedenen Kern-Elemente unterschiedlich stark von den Trägheitskräften betroffen sind. Insgesamt wirken aber auf alle vier organisationalen Kernbereiche starke Trägheitskräfte, wodurch dort Veränderungen besonders schwierig, kostspielig sowie risikobehaftet und damit seltener sind (vgl. Hannan & Freeman 1984). Barnett und Caroll (1995) erklären dieses Phänomen damit, dass eine anfängliche Anpassung einer der vier Kernbereiche eine Vielzahl weiterer Wandelprozesse in nachgelagerten Bereichen der Organisation implizieren würde. Die Peripherie hingegen wird durch alle übrigen, nicht zum Kern gehörenden Bestandteile der Organisation gebildet. Dort sind die Trägheitskräfte weniger stark und damit organisationaler Wandel wahrscheinlicher (vgl. Hannan & Freeman 1984).

Außerdem nehmen Hannan und Freeman in ihrer Arbeit von 1984 eine Unterscheidung zwischen absoluter und relativer Trägheit vor: In Bezug zu ihrer Grundkonzeption des Population Ecology-Ansatzes (1977) differenzieren sie, dass die Annahme von auf Organisationen einwirkenden Trägheitskräften nicht damit gleichzusetzen ist, dass sich Organisationen niemals verändern. Nach Hannan und Freeman (1984) herrscht dann absolute Trägheit, wenn Organisationen sich gar nicht ändern/ stagnieren, absolute Trägheit bezieht sich damit auf die Veränderungsrate im Sinne der Veränderungshäufigkeit von Organisationen. Relative Trägheit herrscht dann, wenn sich der vorgenommene organisationale Wandel langsamer vollzieht als die Veränderungsgeschwindigkeit der Umwelt, und ist daher unter dynamischen Gesichtspunkten zu verstehen. Sie bezieht sich auf die Veränderungsrate im Sinne der Veränderungsgeschwindigkeit und des Veränderungszeitpunkts von Organisationen (vgl. Hannan & Freeman 1984). Hiervon leiten Hannan und Freeman (1984) die Definition ab, dass Organisationsstrukturen dann träge sind, wenn die Geschwindigkeit der Reorganisation um einiges niedriger ist als die Rate, mit der sich die Umweltbedingungen ändern. Aufgrund der zuvor beschriebenen Überarbeitung des Population Ecology-Ansatzes und der heutigen Annahme, dass Organisationen grundsätzlich adaptionsfähig sind, wird die Idee absoluter Trägheit in neueren Forschungsarbeiten weitestgehend abgelehnt und stattdessen von relativer Trägheit ausgegangen (vgl. Hannan und Freeman 1984).

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Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Organisationale Trägheit. Wie es trotz radikaler Umweltveränderungen zu Stillstand in Unternehmen kommt
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Sales & Marketing Department)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
37
Katalognummer
V366034
ISBN (eBook)
9783668450929
ISBN (Buch)
9783668450936
Dateigröße
1069 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Strategisches Management, Strategie, Organisation, Innovationsmanagement, Unternehmensführung, Trägheit, Wandel, Marketing, Marktorientierung, Sales, Organisationale Trägheit
Arbeit zitieren
Emil Berger (Autor:in), 2013, Organisationale Trägheit. Wie es trotz radikaler Umweltveränderungen zu Stillstand in Unternehmen kommt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/366034

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