Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Kants Vorlesung Über Pädagogik
1. Was ist Erziehung?
1.1 Anthropologische Grundlegung
1.2 Definition von Erziehung
1.3 Einteilung des Erziehungsbegriffs
2. Aufgaben der Erziehung
2.1 Wartung
2.2 Disziplinierung
2.3 Kultivierung
2.4 Zivilisierung
2.5 Moralisierung
3. Erziehungsziele
4. Das Problem der Erziehung
III. Schlussfolgerung
Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Kant und Pädagogik – zwei Begriffe, die vielleicht nicht sofort miteinander in Verbindung gebracht werden. Schließlich war Immanuel Kant nicht in erster Linie als Pädagoge tätig, sondern hat sich als Philosoph des 18.Jahrhunderts einen Namen gemacht und gilt heute nicht ohne Grund als einer der bedeutendsten, wenn nicht sogar als der bedeutendste deutsche Philosoph.
Geboren wird Immanuel Kant am 22. April 1724 in Königsberg als viertes Kind einer traditionsreichen Handwerkerfamilie. Er hingegen interessiert sich eher für die Naturwissenschaften und beginnt bereits als Sechzehnjähriger das Studium an der Königsberger Universität, wo er unter anderem Philosophie, klassische Naturwissenschaften, Physik und Mathematik studiert. Kant steigt vom Hauslehrer über (Privat-)Dozent zum Professor und schließlich zum Rektor der Universität in Königsberg auf. Obwohl er als pflichtbewusst und auf seine Arbeit konzentriert gilt, ist Kant dennoch ein geselliger Mensch, der sich durch seine Belesenheit und seinen Humor auszeichnet. Aufgrund gesundheitlicher Probleme im Alter stirbt Immanuel Kant am 12. Februar 1804 und wird in Königsberg beigesetzt, wo er fast sein gesamtes Leben verbrachte.[1]
Kants Wirken fällt demnach in die Zeit der Aufklärung, „[einer] Epoche, in der das Vertrauen in die Kraft der menschlichen Vernunft größer ist, als das Bedürfnis nach Orientierung und Anleitung durch Tradition oder Autorität.“[2] Dementsprechend ist auch Kants Schaffen aufklärerisch geprägt und räumt der Vernunft einen hohen Stellenwert ein. Für Kant bedeutet Aufklärung den
„Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.”[3]
Diese Betrachtungsweise spiegelt sich im 18. Jahrhundert nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Pädagogik wider.
Das Zeitalter der Aufklärung kann gleichzeitig als Jahrhundert der Pädagogik gesehen werden, das bahnbrechende neue Erkenntnisse über Erziehung hervorbringt. Auf Grundlage der Schriften von Comenius, Locke und Leibniz wird das Konzept der Erziehung neu entworfen, dessen Hauptziel die Entwicklung und Förderung von Vernunft und Sittlichkeit darstellt. Nun herrscht in der Erziehung, ebenso wie in der Philosophie, eine anthropologische Betrachtungsweise vor, unter dem Motto: Der Mensch ist der Erziehung bedürftig und daher erziehbar. Während die Pädagogik bis dato nicht als eigenständige Wissenschaft anerkannt war, entwickelt sie sich im 18. Jahrhundert immer stärker zu einem ernstzunehmenden Forschungsfeld. Es ist also nicht überraschend, dass das Zeitalter der Aufklärung mithilfe von Leitbegriffen wie ‚Mündigkeit‘, ‚Toleranz‘, ‚Fortschritt‘, ‚Freiheit‘, ‚Arbeit‘, ‚Nutzen‘ und ‚allgemeines Wohl‘ erzieherische Konzepte und pädagogische Grundlagen hervorbrachte, die bis heute wirksam sind.
Es ist auch nicht überraschend, dass Kant sich früher oder später mit dem Thema Erziehung auseinander setzen musste. ‚Musste‘ ist hier wörtlich zu verstehen, denn tatsächlich wurde ihm während seiner Lehrtätigkeit an der Königsberger Universität aufgetragen, eine Vorlesung über Pädagogik zu halten. Dieser Verpflichtung kommt Kant im Wintersemester 1776/77 zum ersten Mal nach, wobei er
"das von seinem ehemaligen Kollegen, dem Konsistorialrat D. Bock herausgegebene Lehrbuch der Erziehungskunst zum Grunde legte, ohne sich indessen, weder im Gange der Untersuchung, noch in den Grundsätzen, genau daran zu halten."[4]
Dass er die vorhandene Abhandlung teilweise veränderte und um seine eigenen Gedanken ergänzte, mag der Grund dafür sein, warum Kants Vorlesung Über Pädagogik an manchen Stellen vielleicht unsystematisch oder sogar widersprüchlich erscheint.
II. Kants Vorlesung Über Pädagogik
Die Vorlesung Über Pädagogik wird 1776/77 zum ersten Mal von Kant gehalten und 1803 durch seinen damaligen Schüler D. Friedrich Theodor Rink veröffentlicht. Im Wesentlichen sind Kants Vorstellungen beeinflusst durch den Pietismus, der ihm von seiner Mutter in die Wiege gelegt wurde, durch die Pädagogik Jean-Jacques Rousseaus, zu der es einige Anknüpfungspunkte in der Schrift gibt, und durch den Philanthropismus, der die Erziehung zur Menschenfreundschaft anstrebt. Inwiefern Kant diese Strömungen miteinander verbindet, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Dabei werden immer wieder Definitionen, auch aus anderen Werken Kants, herangezogen, um seinen Erziehungsbegriff möglichst hinreichend darzustellen.
1. Was ist Erziehung?
1.1 Anthropologische Grundlegung
Zu Beginn ist es sicherlich wichtig, sich Kants Menschenbild vor Augen zu halten, um seine Ausführungen besser nachvollziehen zu können. Laut Kant hat der Mensch von Natur aus gute Anlagen, denn “die Gründe zum Bösen findet man nicht in den Naturanlagen des Menschen […]. Im Menschen liegen nur Keime zum Guten.“[5] Da stellt sich einem doch unweigerlich die Frage: Warum ist Erziehung dann überhaupt nötig?
Laut Kant werden diese guten Keime, die im Menschen angelegt sind, durch mangelnde Entschlusskraft von Seiten des Menschen, gute Entscheidungen zu treffen, an ihrer Entfaltung gehindert. Der Mensch muss durch Erziehung zunächst also Böses erkennen, um es dann zu überwinden und das moralische Gesetz achten zu können. Die Erziehung ermöglicht in dieser Hinsicht also einen Zugang zum Guten, denn “gute Erziehung gerade ist das, woraus alles Gute in der Welt entspringt. Die Keime, die im Menschen liegen, müssen nur immer mehr entwickelt werden.“[6] Dass das Privileg der Erziehung, bzw. die Aufgabe zur Erziehung nicht alle Lebewesen betrifft, macht der Grundsatz der Kantischen Pädagogik deutlich: “Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss.“[7]
Um diese Notwendigkeit der Erziehung für den Menschen aufzuzeigen, legt Kant seinen Ausführungen eine anthropologische Betrachtungsweise zugrunde, indem er sagt
“der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, dass der Mensch nur durch Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind.“[8]
Hierbei wird gleichzeitig deutlich, dass Kant Erziehung als Aufgabe von ganzen Generationen sieht: Nur wer selbst eine gute Erziehung genossen hat, ist laut Kant dazu in der Lage, andere gut zu erziehen.[9] Aber was versteht Kant denn nun unter Erziehung? Nachdem in diesem Kapitel die wichtigsten Grundlagen und Ausgangspunkte erläutert wurden, soll im nächsten Kapitel der Versuch einer Definition von Erziehung unternommen werden.
1.2 Definition von Erziehung
Tatsächlich bietet Kant in seiner Vorlesung Über Pädagogik gleich mehrere Definitionen dessen, was Erziehung ist und was darin eingeschlossen sein soll. Die prägnantesten Aussagen werden im Folgenden der Reihe nach aufgeführt:
1. “Unter der Erziehung nämlich verstehen wir die Wartung (Verpflegung, Unterhaltung), Disziplin (Zucht) und Unterweisung nebst Bildung. Dem zufolge ist der Mensch Säugling, Zögling und Lehrling.“[10]
2. “Der Mensch braucht Wartung und Bildung. Bildung begreift unter sich Zucht und Unterweisung.“[11]
3. “Die Erziehung schließt Versorgung und Bildung in sich. Diese ist 1) negativ, die Disziplin, die bloß Fehler abhält; 2) positiv, die Unterweisung und Anführung, und gehört insofern zur Kultur.“[12]
Aufgrund mehrerer Deutungen, die Kant vorschlägt, gelangt man hier zu einer sehr weiten Fassung von Erziehung. Allerdings lassen sich aus den obengenannten Definitionen hervorragend die Aufgaben der Erziehung ablesen, die in Kapitel 2 dieser Arbeit näher erläutert werden sollen. Zuvor ist es jedoch wichtig, die Einteilung des Erziehungsbegriffs bei Kant genauer darzustellen.
1.3 Einteilung des Erziehungsbegriffs
Kant teilt seine Vorlesung über Pädagogik in eine Abhandlung über die physische Erziehung und eine Abhandlung über die praktische Erziehung auf. Diese Einteilung entspricht gleichzeitig Kants Betrachtungsweisen des Menschen, nämlich als sensibles und als intelligibles Wesen.
Der (sensible) Mensch ist zunächst auf die physische Erziehung angewiesen, „diejenige, die [er] mit dem Tier gemein hat, oder die Verpflegung.“[13] Das heißt, der Mensch braucht am Anfang andere Menschen, die ihm die notwendigen Mittel für sein (Über)Leben bereitstellen, sowie Nahrung, Schutz und eine natürliche Entwicklung. Diese Art der Erziehung wird als ‚negativ‘ bezeichnet, da der Erzieher hier eigentlich nur als Begleiter fungiert, dabei aber die Natur des Kindes bewahrt.[14] Die Anwesenheit eines Erziehers ist jedoch trotzdem von Nöten, damit mittels Disziplin verhindert werden kann, dass sich bei den Zöglingen Gewohnheiten ausbilden, die später zu Bedürfnissen oder sogar Lastern werden könnten. Denn „je mehr […] der Angewohnheiten sind, die ein Mensch hat, desto weniger ist er frei und unabhängig.“[15]
Diese Freiheit und Unabhängigkeit ist in gewisser Weise Ziel der praktischen Erziehung, die zu Moralität und Bildung des Charakters beitragen soll: „Sie ist Erziehung zur Persönlichkeit, Erziehung eines frei handelnden Wesens, das sich selbst erhalten und in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst aber einen inneren Wert haben kann.“[16] Somit ist die praktische Erziehung positiv, da sie als zweite Instanz auch auf die zweite Natur des Menschen abzielt, nämlich durch seine eigene Vernunft alleine lernen zu können. „Praktisch nennt man alles dasjenige, was Beziehung auf Freiheit hat“[17], d.h. bei Kant all das, was moralisch ist. Daher werden die Begriffe ‚praktische Erziehung‘ und ‚moralische Erziehung‘ oft synonym gebraucht.
Obwohl Kant die physische und die praktische Erziehung in seiner Vorlesung formal voneinander trennt, sind sie inhaltlich doch eng verbunden: Die physische Erziehung involviert immer bis zu einem gewissen Grad die praktische, während die praktische Erziehung die physische als Basis voraussetzt. Inwiefern sich das bei den verschiedenen Aufgaben der Erziehung bemerkbar macht, soll im nächsten Kapitel aufgezeigt werden.
2. Aufgaben der Erziehung
Nach Darlegung dessen, was Kant unter Erziehung versteht, fällt es nun leichter, die Aufgaben der Erziehung im Hinblick auf physische und praktische Erziehung zu betrachten. In Kapitel 1.2 wurden bereits wichtige Aufgaben der Erziehung genannt, die nun ausführlicher vorgestellt werden.
Zunächst soll ein besonderes Augenmerk auf das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand gelegt werden. Sinnlichkeit ist laut Kant „die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen“[18] und macht somit Erkenntnis überhaupt erst möglich. Jedoch kann Sinnlichkeit allein noch keine Erkenntnis zustande bringen, denn der
„Verstand, als das Vermögen zu denken (durch Begriffe sich etwas vorzustellen), wird auch das obere Erkenntnisvermögen (zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, als des unteren), genannt, darum, weil das Vermögen der Anschauungen (reiner oder empirischer) nur das Einzelne in Gegenständen, dagegen das der Begriffe das Allgemeine der Vorstellungen derselben, die Regel, enthält, der das Manigfaltige der sinnlichen Anschauungen untergeordnet werden muss, um Einheit zur Erkenntnis des Objekts hervorzubringen.“[19]
[...]
[1] Vgl. http://www.immanuel-kant.net/biografie/.
[2] Herwig Blankertz (1981): Geschichte der Pädagogik. Hagen (=Studienbrief 3076), S.15.
[3] Aufklärung, Bd. VI, A481.
[4] Päd, S. 3 (D. Fr. Th. Rinks Vorrede zur Vorlesung).
[5] Päd, S. 9.
[6] Päd, S. 9.
[7] Päd, S. 5.
[8] Päd, S. 6.
[9] Mehr zum Thema Erziehung durch Generationen in Kapitel 3 dieser Arbeit.
[10] Päd, S. 5.
[11] Päd, S. 6.
[12] Päd, S. 11.
[13] Päd, S. 13.
[14] Mehr zum Thema negative Erziehung in Kapitel 2.2 dieser Arbeit.
[15] Päd, S. 17.
[16] Päd, S. 13.
[17] Päd, S. 13.
[18] KrV, Bd. II, A69.
[19] ApH, Bd. VI, A505.