Das "punctum" im Sinne Roland Barthes‘ in Christoph Schlingensiefs "Bitte liebt Österreich"


Hausarbeit, 2015

14 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhalt

1 Einleitung

2 Grundbegriffe der Fotografie bei Roland Barthes
2.1 Das studium
2.2 Das punctum

3 Christoph Schlingensiefs „Bitte liebt Österreich“

4 Das punctum und die Aktion
4.1 Die Produktion widersprüchlicher Bilder in „Bitte liebt Österreich“
4.2 Reaktionen der Zuschauer und Passanten

5 Fazit

Quellenverzeichnis

1 Einleitung

Die Arbeiten keines anderen Aktionskünstlers, Schauspielers, Theater- beziehungsweise Filmemachers erfordern im Rahmen ihrer Auseinandersetzung beim Sammeln und Orientieren von Gedanken und Gefühlen eine ähnliche Anstrengung, wie die von Christoph Schlingensief. Und wenige sind reizvoller. Die Beschäftigung mit seinen Projekten oder das Rezipieren seiner Filme ruft nicht selten ungreifbare Empfindungen hervor und auf vermeintliche Erkenntnisse folgt häufig schon die nächste Frage.

Presse, Politiker, Passanten und Zuschauer zeigen sich begeistert, fasziniert, angeekelt, empört, verständnislos, nie aber gleichgültig. Wie kommt es zu dieser Betroffenheit, der Lust, der Wut, dem Schmerz, mit denen sich viele Menschen im Rahmen der Arbeiten konfrontiert sehen? Dass es Schlingensief nie schlicht um Provokation ging, wie von Kritikern gerne konstatiert und vorgeworfen, dürfte jedem, der sich ernsthaft mit seiner Arbeit auseinandersetzt, bald klar werden.

Franziska Schößler greift in einem ihrer Texte den von Roland Barthes entwickelten Begriff des punctums auf, um Elemente der Störbilder in Schlingensiefs Aktionen zu beschreiben, ohne weiter im Detail darauf einzugehen.1 Das punctum im Sinne Roland Barthes‘ mit den Arbeiten von Christoph Schlingensief in Zusammenhang zu bringen erscheint mir zunächst äußerst passend. Im Folgenden soll dieser Impuls aufgegriffen und vertieft werden. Wo und inwiefern kann bei näherer Betrachtung in den Arbeiten Schlingensiefs von einem solchen punctum die Rede sein? Lassen sich Barthes‘ Gedanken zur Fotografie überhaupt auf Aktionen von Schlingensief übertragen und anwenden?

Zunächst sollen in aller Kürze für das Verständnis hilfreiche Grundbegriffe der Fotografie bei Roland Barthes geklärt und das punctum genauer betrachtet werden. Anschließend werde ich näher auf die mir für die Fragestellung relevant erscheinende Aktion ÄBitte liebt Österreich“ eingehen und diese dezidiert auf das Auftreten eines punctums im Sinne Barthes‘ untersuchen. Abschließend werden gewonnene Erkenntnisse in einem Fazit zusammengetragen.

2 Grundbegriffe der Fotografie bei Roland Barthes

In seiner letzten Veröffentlichung, dem 1980 publizierten Essay ÄDie helle Kammer“, nähert sich der französische Philosoph, Roland Barthes, dem Wesen der Fotografie, aus einer subjektiven Perspektive des Betrachters.

Barthes beschreibt jede Fotografie als Gegenstand dreier Tätigkeiten: dem Tun, dem Geschehen-Lassen und dem Betrachten. Den Handelnden beziehungsweise die Handelnde, in diesem Fall also die Fotografin/den Fotograf, bezeichnet er als operator; wer oder was geschehen lässt, hier das jeweilige Objekt oder Subjekt, das auf dem Foto abgebildet ist, nennt er das spectrum der Fotografie und der Betrachter wird bei Barthes zum spectator.2 Ich werde die Bezeichnungen im weiteren Verlauf vorerst übernehmen. Zentrale Grundbegriffe der in dem Essay entwickelten Theorien, sind das sogenannte studium und das punctum. Um das punctum einordnen zu können, ist es hilfreich, auch einen kurzen Blick auf das studium zu werfen. Beide stellen bei Barthes Elemente dar, die sich auf das Verhältnis zwischen spectator und spectrum der Fotografie beziehen, auf die Art und Weise der Rezeption, ihre Motivation und Wirkung. In ihrem Wesen unterscheiden sich studium und punctum jedoch grundlegend voneinander.

2.1 Das studium

Äich interessiere mich als gutwilliges Subjekt unserer Kultur voller Sympathie für die Aussage dieser Fotografie“3

Das studium meint im lateinischen Sinne die Hingabe an etwas, eine allgemeine Beteiligung. Es beschreibt ein vages, gewissenhaftes Interesse, ohne besondere Intensität. Barthes ordnet das studium der Gattung Äto like“ und nicht des Äto love“ zu.4 Im studium nähert sich der Betrachter der Fotografie mit klarem Bewusstsein. Hier kann den Intentionen des Fotografen begegnet, die Absichten analysiert und nachvollzogen werden.5 Die Lektüre des studiums kann aus unterschiedlichsten Gründen erfolgen, aus

Interesse für Historienbilder etwa, oder ein politisches Geschehen, das eine Fotografie bezeugt.6 Man interessiert sich, so Barthes, als gutwilliges Subjekt unserer Kultur für die Aussage einer Fotografie. Kurz: das Foto interessiert auf rationale Art und Weise, besticht aber nicht.7

Während der spectator also bei der Lektüre des studiums sein Interesse, seine Fragen, seinen Willen selbst steuert, ohne dass das studium jemals Schmerz oder Lust auslöst, verhält es sich mit dem punctum genau andersherum.

2.2 Das punctum

ÄDie Lektüre des punctum (des »getroffenen« Photos, wenn man so sagen kann) ist hingegen kurz und aktiv zugleich, geduckt wie ein Raubtier vor dem Sprung“8 Ohne eigenes Zutun und ohne dass dem ein bewusstes Vorgehen zugrunde liegt, schießt das punctum wie ein Pfeil aus dem Zusammenhang hervor, um den spectator zu durchbohren.9 Der ebenfalls aus dem Lateinischen stammende Begriff meint auch: ÄStich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt - und: Wurf der Würfel.“10 Somit bringt das punctum das studium aus dem Gleichgewicht, es ist das Zufällige an der Fotografie, das vermag, mich als spectator zu bestechen. Dabei handelt es sich häufig um ein Detail, das den Betrachter anzieht, ihn stört, berührt oder verletzt. Plötzlich bestimmt es die ganze Lektüre, wandelt Interesse in Wucht und Energie.11

Das punctum schafft ein ÄMehr an Sichtbarem“12 und trotz seines plötzlichen Auftauchens verfügt es über eine expansive Kraft, die weit über die Fotografie hinausreicht, die auf Erlebtes oder auf im Moment des Betrachtens noch Unbewusstes verweist und sich erst im Nachhinein offenbart.13 Das punctum bricht auf affektive Weise in die Welt des Betrachters und hinterlässt einen unbewussten Stich, der stets von der Fotografie ausgeht. Während das studium stets codiert ist, ist es das punctum nie. Beim punctum wird Wissen und Kultur hinter sich gelassen. Etwas, das man - in diesem Fall auf der Fotografie - sieht, springt dem Betrachter ins Auge und löst eine unmittelbare Reaktion, eine Empfindung aus.14 Wenn ich als Betrachter eine Situation auf einem Bild codiere, ob Geste, Haltung oder Ausdruck, bedeutet dies, dass ich sie benennen kann. Und was benannt werden kann, vermag letztlich nicht zu bestechen. Etwas nicht benennen zu können, ist hingegen stets ein Zeichen für innere Unruhe. Beim punctum kann etwas eine durchdringende Wirkung auf den spectator ausüben, aber in einem unbestimmten Bereich ihres oder seines Ichs landen.15

Nun ist es natürlich nicht ohne weiteres möglich, die Rezeption einer Fotografie auf Schlingensiefs Aktionen, Inszenierungen und Theaterstücke zu übertragen. Auch lassen sie sich nicht auf gleiche Weise in drei Tätigkeiten gliedern, wie Barthes dies im Rahmen der Fotografie tut. Nichtsdestotrotz erscheint mir die Anwendung des punctums auf die Rezeption und Wirkung etlicher Elemente aus Schlingensiefs Arbeiten möglich und passend zu sein. Dies soll im Folgenden anhand von seiner im Jahr 2000 durchgeführten Aktion ÄBitte liebt Österreich“ näher betrachtet und analysiert werden.

3 Christoph Schlingensiefs ÄBitte liebt Österreich“

Von einer trennscharfen Linie zwischen operator, spectrum und spectator im Barthes‘schen Sinne, kann in Schlingensiefs ÄBitte liebt Österreich“ mitnichten die Rede sein. Bei der Aktion, die im Rahmen der Wiener Festwochen im Jahr 2000 als Theaterinszenierung angekündigt wird, ist es schon bald nicht mehr möglich zu unterscheiden, wer Zuschauer, wer Akteur und wer ,hinter den Kulissen‘ tätig ist. Sechs Tage werden auf dem Platz vor der Wiener Oper Container aufgestellt, in denen angeblich Asylbewerber eingesperrt sind. Die Innenräume der Container werden rund um die Uhr mit Kameras überwacht und im Internet live übertragen. Die österreichische Bevölkerung

[...]


1 Schößler 2011, S.118f.

2 Vgl. Barthes 2012, S. 17.

3 Ebd., S. 53.

4 Vgl. ebd., S. 36.

5 Vgl. ebd., S. 37.

6 Vgl. ebd., S. 35.

7 Vgl. ebd., S. 53.

8 Vgl. ebd., S. 59.

9 Vgl. ebd., S. 35.

10 Ebd., S. 36.

11 Vgl. ebd., S. 52, 59.

12 Ebd., S. 53.

13 Vgl. ebd., S. 55, 62.

14 Vgl. ebd., S. 60.

15 Vgl. ebd., S. 60, 62.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Das "punctum" im Sinne Roland Barthes‘ in Christoph Schlingensiefs "Bitte liebt Österreich"
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
14
Katalognummer
V366896
ISBN (eBook)
9783668456167
ISBN (Buch)
9783668456174
Dateigröße
942 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
sinne, roland, barthes‘, christoph, schlingensiefs, bitte, österreich
Arbeit zitieren
Ariadne Stickel (Autor:in), 2015, Das "punctum" im Sinne Roland Barthes‘ in Christoph Schlingensiefs "Bitte liebt Österreich", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/366896

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