Ob und in welcher Form Europa eine Identität besitzt, besitzen sollte, ob und, wenn ja, wie eine europäische ’Heimat’ aussehen könnte – diese Debatte durchzieht den Kontinent seit langem. Neue Nahrung hat sie bekommen, seitdem 1990 die bipolare Weltordnung ein Ende fand und Europa damit nicht nur das kommunistische Feindbild abhanden kam, sondern sich ihm so auch die Fragen nach einer Osterweiterung, eines Paneuropa – und gleichsam dessen Grenzen – stellten. Gleichzeitig verlangten die entgrenzenden und entgrenzten Globalisierungserscheinungen verstärkt nach einem transnationalen europäischen Politkonstrukts, das demokratisch legitimiert werden kann. Doch die Bürger der EG/EU scheinen weiterhin vor allem regionalen Solidargemeinschaften zu vertrauen. Regionen und Nationalstaaten gewannen als Identifikationsgrößen seit den 1980er Jahren eher an Bedeutung. Die zweckrationale Integration des Kontinents hatte eine soziokulturelle Zusammenführung nicht bezweckt. Um ein handlungsfähiger, demokratisch legitimierter Akteur zu bleiben braucht Europa jedoch ein identitätsbasiertes Solidaritätsbewusstsein der Bürger, ein Bewusstsein für eine ’Heimat’ Europa. Das soziokulturelle Zusammenwachsen des Kontinents hat jedoch zu heftigen Debatten geführt. Während die EG/EU eine identifikationsstiftende Konstruktionspolitik in Form von Einheitssymbolisierung, Historisierung oder etwa akademischer Europäisierung betrieb, richtete sich großer Widerstand gegen diese Homogenisierungsmaßnahmen. Dies lag nicht nur an nationalen Selbsterhaltungstrieb, sondern auch an generellen Vorbehalten gegen die artifizielle und manipulierende Forcierung von Kollektividentitäten. Diese seien nicht nur illusorische Verblendungen, sondern inner- und außergesellschaftlich Abgrenzungen mit hohem Gewaltpotential. Sie seien als Konstrukte zu erkennen und zugunsten einer kosmopolitischen Heimatlosigkeit abzulegen.
Doch dies – so die These dieser Arbeit - scheint keine Antwort auf realpolitische Problem zu sein und an den Bedürfnissen der meisten Menschen vorbeizugehen. Die Globalisierung ruft in den Menschen verstärkt die Sehnsucht nach kollektiv gefühlter Identität, wenn man so will nach ’Heimat’ hervor. Auch aus diesem Grund ist die Gewaltthese von anderer Seite weniger beachtet worden. Europa kann hiernach vielmehr ein Haltepunkt für die Menschen und eine reale politische Einwirkungsmöglichkeit gegenüber Globalisierungsentgrenzungen werden.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Kollektive Identität und Einführung in die Problematik
- zur Bestimmung des Begriffs
- Politik als Identitätsschöpfer - Identitätskonstruktion durch die EG/EU
- Europaidentität: Chance einer Notwendigkeit oder kommende Gefahr?
- Das Kollektivkonstrukt als exklusive Gefahr
- Europaidentität als Chance einer Notwendigkeit
- Abschließende Betrachtungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Frage, ob und in welcher Form Europa eine Identität besitzt oder besitzen sollte. Sie untersucht die Problematik der europäischen Identitätskonstruktion im Kontext der Globalisierung und der Herausforderungen, die sich aus den entgrenzenden und entgrenzten Globalisierungserscheinungen ergeben. Die Arbeit analysiert die politischen Europa-Konstruktionsbemühungen der EG/EU und stellt die Debatte über Gefahren und Möglichkeiten einer europäischen Identität dar.
- Die Rolle der kollektiven Identität in der Gestaltung einer europäischen Identität
- Die politischen Bemühungen der EG/EU zur Schaffung einer europäischen Identität
- Die Gefahren und Chancen einer europäischen Identität im Kontext von Globalisierung und Nationalismus
- Die Möglichkeit einer demokratischen Vielfaltsgemeinschaft in Europa, die Vielfalt respektiert und gleichzeitig eine gemeinsame Identität fördert
- Die Bedeutung des Begriffs „Heimat“ im Zusammenhang mit kollektiven Identitäten und der europäischen Identitätsbildung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in das Thema der europäischen Identität ein und stellt die Debatte dar, die sich um die Frage dreht, ob und wie Europa eine Heimat sein kann. Sie beleuchtet die Rolle der Globalisierung und die Herausforderungen, die sich aus der Notwendigkeit eines transnationalen europäischen Politkonstrukts ergeben.
Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Begriff der kollektiven Identität und seiner Bedeutung für die europäische Identitätsbildung. Es werden verschiedene Ebenen der kollektiven Identitätsbildung, wie die erinnerte, historische Identität und die gegenwärtig erlebte Identität, betrachtet.
Kapitel drei analysiert die politischen Europa-Konstruktionsbemühungen der EG/EU und untersucht die Mechanismen, die zur Schaffung einer europäischen Identität eingesetzt wurden.
Kapitel vier beleuchtet die Debatte über die Gefahren und Chancen einer europäischen Identität. Es wird die Frage aufgeworfen, ob die europäische Identität als exklusives Kollektivkonstrukt eine Gefahr für nationale Identitäten darstellt oder ob sie die Chance bietet, einer transnationalen Gemeinschaft ein gemeinsames Bewusstsein zu vermitteln.
Schlüsselwörter
Europaidentität, kollektive Identität, Globalisierung, Nationalismus, Heimat, Identitätskonstruktion, EG/EU, Vielfaltsgemeinschaft, Homogenisierung, Integration, Grenzen, Erinnerung, Geschichte, Politische Konstrukte, Demokratie, Transnationalität, Soziokulturelles Zusammenwachsen, Gewaltpotenzial, Kosmopolitische Heimatlosigkeit, Identifikationsgrößen, Solidargemeinschaft.
- Arbeit zitieren
- Christopher Wertz (Autor:in), 2003, Gewalt-Heimat Europa? Über die Probleme einer europäischen Identitätskonstruktion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36923