Von Löwenherzen, eisernen Herrschern und Schattenkönigen. Drei Aufsätze zu bedeutenden Herrschergestalten der Geschichte


Fachbuch, 2017

48 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

England ohne Richard Löwenherz

Philipp IV., der Schöne von Frankreich (1285-1314) und die Idee vom französischen König als „rex christianissimus“

„Ein Schattenkönig ohne Macht will ich nicht sein!“ - Leben, Herrschaft und Amtsauffassung Ludwigs II. von Bayern (1864-1886)

Zum Geleit

Die vorliegende kleine Sammlung enthält drei Aufsätze über Herrschergestalten der Geschichte, die von jeher das Interesse der Öffentlichkeit weckten, die oft missverstanden und missinterpretiert wurden oder die es, wie im Fall Philipps des Schönen, schlicht und einfach verdienen, als Person noch besser erforscht zu werden.

Die Texte entstanden in den letzten gut 17 Jahren. Sie wurden für diese Ausgabe einer leichten Revision unterzogen, sind im Großen und Ganzen aber unverändert. Der dritte Aufsatz, der jüngste unter ihnen, ist zwei Menschen gewidmet, die aus meinem Umkreis nicht wegzudenken sind und an die ich während des Schreibprozesses häufig denken musste.

Konstantin Noack

England ohne Richard Löwenherz

Einleitung

Richard Löwenherz gehört wohl zu Englands schillerndsten Herrschergestalten überhaupt. Mit den Sagen um diesen kampfesmutigen König ist wohl fast jeder vertraut. Richard trat seine Herrschaft im Jahre 1189 in der Nachfolge seines Vaters Heinrich II. an, die Herrschaft über ein Riesenreich nämlich, das die Geschichte als das Angevinische Reich kennt. Richard wurde zu einer Zeit König, in der, wie noch gezeigt wird, die Kreuzzugsbewegung besonders gefordert wurde. 1187 hatte Saladin Jerusalem erobert, was die Christen nicht unwidersprochen lassen konnten. Die wichtigsten Herrscher des Abendlandes, der Kaiser und die Könige von England und Frankreich, Richard I. und Philipp II. „Augustus“ nahmen das Kreuz, und Richard war gewillt, sein Kreuzzugsgelübde so rasch als möglich einzulösen.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dieser Zeit. Untersucht werden soll jedoch weniger die Thematik „König Richard von England auf dem Dritten Kreuzzug“ als vielmehr die Auswirkungen, die des Königs Abwesenheit auf sein Reich hatte. Bis zum Zweiten Kreuzzug (1145-1149) war es eher unüblich, dass ein König sein Reich verließ. Der Erste Kreuzzug (1096-1099) wurde nicht von Königen geführt, sondern von Herzögen und Grafen. Die Könige hielten sich weitestgehend zurück, und das aus guten Gründen: Die Anwesenheit eines Königs in seinem Reich war unbedingt erforderlich, da er als Verteidiger und Wahrer des Friedens nach innen und außen galt. Außerdem riskierte der König, wenn er sein Land für längere Zeit verließ, dass es daheim zu Aufständen oder Usurpationsversuchen des zurückgebliebenen Adels kam.

Die Auswirkungen, die Richards Abwesenheit für England, bzw. für das so genannte „Angevin Empire“ hatte, sind nicht zu unterschätzen, denn immerhin blieb der Monarch ganze fünf Jahre seinen Ländern fern, und seine Abwesenheit wurde dadurch noch dramatisiert, dass Richard zwischen 1192 und 1194 in deutscher Gefangenschaft saß.

Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich in fünf große Teile. Der erste Teil befasst sich mit der Person Richard Löwenherz und gibt einen kurzen Überblick über das Leben des Königs zwischen 1157 und 1189. Der zweite Teil führt kurz in die Entwicklung der englischen Verwaltung im 11. und 12. Jahrhundert ein. Der dritte Teil untergliedert sich in III a) und III b), wobei III a) eingeht auf die Entwicklung der Kreuzzüge zwischen 1099 und 1187; III b) befasst sich mit Richards Vorbereitungen für den Kreuzzug. Der vierte Teil schließlich schildert die Situation in England und im Angevin Empire während Richards Abwesend, zeigt die Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik und versucht eine Analyse dieser Auswirkungen, die im fünften Teil abgeschlossen wird.

Über die große Thematik „Kreuzzüge“, bzw. „Richard Löwenherz und der Dritte Kreuzzug“ ist in den letzten Jahren einiges geschrieben worden, denn das Thema erfreut sich großer Beliebtheit. Innerhalb dieser Arbeiten wurde auch einiges über Richard Löwenherz und seine Biografie gesondert geschrieben, sowohl über seine Taten als auch die Situation in seinem Reich.

Dieser Arbeit liegen vor allem folgende Sekundärquellen zugrunde, die sehr oft auch sehr ausführlich Primärquellen zitieren. Zu nennen sei hier vor allem Régine Pernouds Löwenherz-Biografie von 1995, die sehr farbige und ausführliche Kapitel dem zu bearbeitenden Thema gewidmet hat. Ferner wurde zurückgegriffen auf Hans Eberhard Mayers Standardwerk über die Geschichte der Kreuzzüge aus dem Jahre 1965 (hier wurde benutzt die 9. Auflage dieses Werks aus dem Jahre 2000) und auf Steven Runcimans Geschichte der Kreuzzüge (erschienen u. a. 1995 in einem Sonderband ohne Literatur- und Quellenangaben). Ferner existieren zahlreiche Überblicksdarstellungen, die sich mit Richard, seiner Familie oder dem zu behandelnden Thema beschäftigen (z. B.: Dieter Berg, Die Anjou-Plantagenets, Kohlhammer 2003).

Die Biografie des Richard Löwenherz bis 1189

Richard Löwenherz wurde am 08. September 1157 in Oxford geboren. Er war das vierte Kind des englischen Königs Heinrich II. „Kurzmantel“ (1154-1189). Seine Mutter war die berühmte Eleonore, Herzogin von Aquitanien (um 1122-1204), wohl eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters. Richard wuchs nicht in England auf, sondern auf den festländischen Besitzungen seiner Eltern, zumeist im Poitou oder im Herzogtum Aquitanien, das nach eigenem Recht seiner Mutter gehörte, so dass es nicht verwundert, dass sich Richard Löwenherz zeitlebens als Aquitanier und nicht als Engländer fühlte. Er wuchs in einer hochkulturellen Atmosphäre auf, die ihn selbst sehr inspirierte:

„In dieser Atmosphäre höfischer Dichtung wurde Richard erzogen. […] So verwundert es nicht, dass auch Richard selbst dichtete. […] Das höfische Leben mit seiner Dichtung kam ihm nie aus dem Sinn.“[1]

Politisch begegnet man Richard Löwenherz 1169, als selbsttätig Handelnder Ende des Jahres 1171. Zusammen mit seiner Mutter Eleonore, die es übernommen hatte, ihn in die Politik einzuführen, berief er am 25. Dezember seine südfranzösischen Vasallen ein. Eleonore hatte ihm kurz zuvor, wenn auch auf Druck ihres Mannes Heinrich II., die Herzogskrone von Aquitanien überlassen. Im Januar 1172 handelte Richard allein, als er Bischof Fortanier von Bayonne das Recht zusprach, einen Landvogt zu ernennen. Die nächsten Jahre wurden sehr wichtig für Richards weitere Entwicklung. 1173/74 wagten die ältesten Söhne Heinrich d. J., Richard und Gottfried den Aufstand gegen den königlichen Vater. Vielfach wurde vermutet, Eleonore hätte ihre Söhne aufgewiegelt, um sich an ihm für seine Affäre mit der jungen Hofdame Rosamunde Clifford zu rächen, die letztendlichen Motive Eleonores bleiben aber bis heute unklar.[2] Die Beweggründe der Söhne liegen klarer: Sie waren unzufrieden darüber, dass der Vater sie nicht an der Herrschaft beteiligte und opponierten zudem gegen seine Erbfolgeregelung, die eine Begünstigung des jüngsten Sohnes Johann zugunsten seiner älteren Brüder vorsah. Diesen ersten Aufstand seiner Söhne konnte Heinrich II. noch relativ leicht abwehren, was vor allem seine Frau Eleonore zu spüren bekam, die er unter Bewachung stellen ließ, aus der er sie bis 1189 nicht mehr entließ. Doch König Heinrich II. hatte nur scheinbar die Ruhe wieder hergestellt. Denn auch wenn sich seine Söhne nacheinander unterwarfen (Richard als Letzter im September 1174) – Ruhe gaben sie nicht. Es kam immer wieder zu Reibereien und Unstimmigkeiten, die so weit gingen, dass Richard dem französischen König als seinem Lehnsherrn huldigte und am Hof in Paris lebte und so seinen Vater in aller Öffentlichkeit bloß stellte. Überhaupt profitierten die französischen Kapetingerkönige Ludwig VII. (1137-1180) und besonders sein Sohn Philipp II. „Augustus“ (1180-1223) in hohem Maße von den zum Teil erbittert geführten Streitigkeiten im englischen Königshaus. Gerade Philipp II. verstand es, Zwietracht zu säen und für Unfrieden zu sorgen. Hinzu kam aber auch Richards eigener Charakter. Schon in sehr jungen Jahren erwies er sich als kampfesmutig. Bereits vor seinem 20. Lebensjahr nannte man ihn den „Löwenherz“, auch wenn sich dieser Beiname wohl erst durch Richards Leistungen auf dem Dritten Kreuzzug wirklich manifestiert hat. Überdies war er nur schwer einschätzbar. So kam es vor, dass er zunächst gegen seinen königlichen Vater ins Feld zog, Burgen belagerte und eroberte, um später auf Seiten Heinrichs gegen seine ehemaligen Söldner und Verbündeten zu kämpfen. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiterhin gegen seinen Vater zu opponieren. Für die letzten Regierungsjahre Heinrichs II. sind mehrfach Aufstände und Versöhnungen belegt. Der letzte Aufstand der Söhne gegen den königlichen Vater datiert aus dem Jahre 1188. Dieser Aufstand hat Heinrich II. besonders hart getroffen, da er erkennen musste, dass sich auch sein Lieblingssohn Johann daran beteiligte. Seit dem Tode Heinrichs d. J. 1183 war Richard Thronfolger. Heinrich II. starb am 6. Juli 1189 56jährig in Chinon, sodass Richard ihm als englischer König nachfolgte.

Die Entwicklung der englischen Verwaltung von der normannischen Eroberung bis 1189

Ein König konnte nur erfolgreich regieren, wenn er über eine intakte Verwaltung verfügte. Dies galt umso mehr, wenn er sich nicht im Land befand. Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklung der Zentralgewalt in England denn in England lagen die Dinge etwas anders als in den Reichen auf dem Kontinent. Nachdem Herzog Wilhelm der Normandie im Oktober 1066 mit päpstlicher und kaiserlicher Zustimmung England erobert hatte, dauerte es noch etwa fünf Jahre, bis ihm das ganze Königreich untertan war. Immer wieder hatte er Aufstände der eingesessenen Angelsachsen abzuwehren, da er unter anderem das neu eroberte Land, welches er als königliches Eigentum begriff, unter seinen Anhängern verteilte und so etwa 1500 große Besitzungen schuf. Wilhelm I. war jedoch klug genug, die angelsächsische Verwaltung, die durchaus ihre Vorteile hatte, nicht nur beizubehalten, sondern auch Angelsachsen in hohen Positionen zu belassen, sofern sie ihm treu waren. Alle übrigen Angelsachsen wurden enteignet. Unter den angelsächsischen Königen war England in shires eingeteilt, Die shires wurden geleitet von königlichen Beamten, den Sheriffs. Das Amt des Sheriffs war nicht erblich. Die shires, die sich untergliederten in Hundertschaften, wurden wiederum zusammengefasst in so genannten Earldomen, die einen Earl[3] an der Spitze hatten. Ihnen gehörte das Land nicht, sondern sie verwalteten es für den König und sprachen in seinem Namen Recht und trieben Steuern ein. Im Gegensatz zu seinen meisten europäischen Amtsbrüdern verfügte der englische König schon recht früh über eine feste Steuer, das so genannte Danegeld, „das ursprünglich für die Bezahlung des von den dänischen Eroberern[4] geforderten Tributs bestimmt war“[5], jedoch auch nach der Dänenzeit beibehalten wurde. Der englische König war also reicher als die meisten Monarchen seiner Zeit. Im Zusammenhang mit der Verwaltung Englands und der Rolle des Königs in ihr lässt sich außerdem festhalten:

„Der angelsächsische König war in erster Linie militärischer Oberbefehlshaber, der die Anstrengungen seiner Untertanen gegen fremde Einfälle zu koordinieren vermochte. Er verfügte über den Fyrd, den Heerbann zu rein defensiven Zwecken. Dem König stand der Witenagemot, ein Rat der weisen Männer des Königreichs, zur Seite; er bestimmte seinen Nachfolger und nahm an den Regierungsgeschäften teil.“[6]

Wilhelm der Eroberer, der mit den angelsächsischen Gepflogenheiten vertraut war[7], hütete sich also, die angelsächsische Verwaltung in ihren Fundamenten anzutasten, er verzichtete lediglich auf die Earldomen, so dass die Sheriffs nun an die Stelle der Earls rückten; der Titel „Earl“ blieb nur noch als Ehrentitel erhalten. Der Sheriff erfuhr nicht nur eine Aufwertung, sondern er wurde gleichsam „der alleinige Vertreter der königlichen Rechts- und Herrschaftsgewalt und spielte gleichzeitig die wichtige Rolle eines Zuträgers und Stimmungsbarometers im Volke.“[8]

Wilhelm I. war eine starke Herrscherpersönlichkeit, der seine Länder England und das Herzogtum Normandie sehr straff regierte und keinen weiteren Großen neben sich duldete. Dies galt auch für die Kirche, die Wilhelm ohnehin ablehnend gegenüberstand, da der König von unehelicher Geburt war und auch schon dem Klerus in der Normandie unbeugsam gegenübertrat. Da im Laufe seiner Herrschaft die Einnahmen aus der Danegeld-Steuer zurückgingen, ließ Wilhelm I. 1085/86 das so genannte „Domesday Book“ anlegen, das „Große Landbuch“, in dem alles und jeder eingetragen wurde, der sich in England befand. Und obwohl das Buch unvollendet blieb, bildet das „Domesday Book“ bis heute eine wichtige Quelle und gibt den Historikern wertvolle Einblicke in die Verwaltung Englands. Wer seinen Landbesitz zukünftig legitimiert haben wollte, wurde durch das „Große Landbuch“ geprüft. Das Land wurde derart penibel registriert und gleichsam durchleuchtet, dass ein sächsischer Chronist entsetzt notierte:

„Er [der König] ließ diese Liste von seinen Abgesandten so geschickt anfertigen, dass kein Yard Land, nein (ich schäme mich, es zu sagen, obwohl sich der König nicht schämte, es zu tun) nicht einmal ein Rind, keine Kuh und kein einziges Schwein nicht eingetragen wurden.“[9]

Unter Wilhelms direkten Nachfolgern Wilhelm II. Rufus (1087-1100) und vor allem dem kraftvollen Heinrich I. Beauclerc (1100-1135) nahm die königliche Zentralverwaltung noch deutlichere Formen an. Um 1100 wurde der so genannte Exchequer geschaffen, der zur gewichtigsten Behörde der königlichen Finanzverwaltung wurde und späterhin seinen Sitz in Westminster hatte. Hierhin wurden die Sheriffs an zwei Terminen im Jahr (zu Ostern und im September) gerufen, um Rechenschaft abzulegen über ihre Einnahmen und Ausgaben. Dies geschah unter der Anwesenheit von Zeugen (unter ihnen waren der justicar, der chancellor und der treasurer[10] des Reiches). Die Ergebnisse wurden in den so genannten Pipe Rolls festgehalten, deren früheste aus dem Jahre 1131 erhalten ist. Unter den anarchischen Zuständen nach dem Tode Heinrichs I. und während des verheerenden Bürgerkriegs, der während der Regierung Stephans von Blois (11351154) zwischen 1139 und 1153 tobte, brechen die Aufzeichnungen ab.

Nach dem Ende des Bürgerkriegs und dem Tode des schwachen Stephan von Blois benötigte England dringend einen starken König und fand ihn in Heinrich II. „Kurzmantel“ (1154-1189), dem Enkel Heinrichs I. und Vater des Richard Löwenherz. Er erwies sich als wahrer Verwaltungsfachmann, und unter ihm arbeitete die Verwaltung nahezu reibungslos. Durch zahlreiche Erlässe und Verordnungen (Assisen, Inquests und Constitutions genannt) festigte der erste Vertreter des Hauses Anjou-Plantagenet das zerrüttete Land wieder. So ließ er 1170 mit dem Inquest of the Sheriffs die Amtsführung der Sheriffs überprüfen und schränkte ihre Rechte ein. 1166 hatte er den Inquest of the Barons erlassen, um die Fragen zu klären, welcher Baron im Land was besaß oder was er einmal besessen hatte, wie viele Vasallen jedem einzelnen Baron unterstanden und ähnliche Dinge. Auch kümmerte sich der König um Wälder und andere Besitztümer. Anders ausgedrückt, kann deutlich gemacht werden, dass sich unter der Regierung des ersten Plantagenet das so genannte Common Law (Gemeine Recht) entwickelte, das für alle galt, gleich welcher Geburt man war. Wichtig ist es auch, anzumerken, dass sich unter Heinrich II. endgültig die Erblichkeit der Lehen durchsetzte, die bis dahin eher unüblich war. Heinrich II. war daran gelegen, dass seine Barone innerhalb enger Grenzen bei der Regierung mitredeten. Sie taten dies in der Curia regis, dem Großen Rat, der sich aus dem angelsächsischen Witenagemot entwickelt hatte. Daneben konnte der König noch den kleineren privy council einberufen, einen königlichen Privatrat. Ein Sitz in diesem Privatrat war nicht erblich, und der König entschied allein, wer in diesen Rat berufen wurde. Hier galt auch allein und nur das Wort des Monarchen. Noch eingehender die Entwicklungen der englischen Zentralverwaltung einzugehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Die Abbildung auf der nächsten Seite gibt aber nochmals einen vertiefenden Einblick auf den Verwaltungsaufbau.

Es lässt sich aber mit Recht festhalten, dass das Königreich England spätestens um 1135 ein effizientes, ja ein geradezu modern regiertes und reiches Königreich war. Gerade die Finanzverwaltung gehörte wohl zu den ausgeklügeltsten in Europa. Heinrich II. bewies in der Verwaltung eine bemerkenswerte, geradezu pedantische Akribie, die zum Ende seiner Herrschaft durchaus despotische Züge annahm. Sein Sohn Richard jedenfalls konnte auf eine perfekt eingespielte Verwaltung zurückgreifen, als er im Juli 1189 die Herrschaft antrat.

Vorbedingungen des und Vorbereitungen auf den Dritten Kreuzzug in England

Vorbedingungen des Dritten Kreuzzuges

Seit dem Ende des Ersten Kreuzzuges (1096-1099) bestanden im Heiligen Land die so genannten Kreuzfahrerstaaten, waren also die Christen im Heiligen Land präsent und hatten vor allem die Heilige Stadt Jerusalem in ihre Hand gebracht. Für die Christen war das Heilige Land seit 1099 ganz selbstverständlich Teil des Okzidents. Das hieß aber auch, dass die Christen, wollten sie das Heilige Land und vor allem die heilige Stadt Jerusalem nicht erneut verlieren, gehalten waren, für die Verteidigung zu sorgen. Nach 1099 kam es deshalb bereits sehr bald zu erneuten Unternehmungen vom Abendland aus in Richtung Heiliges Land (so z. B. 1101), die das Ziel hatten, die christliche Herrschaft im Outremer[11] zu stabilisieren. Das war auch dringend notwendig; nachdem schon die Kreuzzüge von 1101 zu keinem greifbaren Ergebnis geführt hatten, geriet 1119 Fürst Roger von Antiochia in Gefangenschaft, nachdem er Ilgazi von Mardin, der in das Fürstentum eingefallen war, unterlegen war. Dagegen hatte es König Balduin I. von Jerusalem (1100-1118) vermocht, bei seinem Tode ein weitgehend gefestigtes Königreich zu hinterlassen. Sein Nachfolger Balduin II. (1118-1131), der nicht ohne Schwierigkeiten auf den Thron gekommen war, bat nun im Abendland, namentlich die Venezianer, um Hilfe. Ergebnis des Zuges war die Eroberung der damals syrischen Hafenstadt Tyrus, die bis zum Ende der Kreuzfahrerstaaten 1291 in den Händen der Christen verblieb.

Auch hiernach blieb es im Outremer nicht immer ruhig. 1144, zur Weihnachtszeit, hatte es Zengi, der Herrscher von Mosul und Aleppo, vermocht, die christliche Grafschaft Edessa zu erobern und hatte damit den Christen im Outremer und im Abendland einen empfindlichen Schlag versetzt. In seiner Kreuzzugsbulle „Quantum praedecessores“ wandte sich Papst Eugen III. (1145-1153) direkt an König Ludwig VII. von Frankreich und forderte ihn zum Gang ins Heilige Land auf, doch die Begeisterung hielt sich zunächst trotz allen Schocks in Grenzen. Erst der berühmte Abt und Mystiker Bernard de Clairvaux (1090-1153) konnte sowohl Ludwig VII. als auch den römischen König Konrad III. für den Kreuzzug begeistern, der als Zweiter Kreuzzug (1145-1149) in die Geschichte einging und zum völligen politischen Desaster geriet. Nikolas Jaspert fasst dies treffend zusammen, indem er schreibt:

„In jeder Hinsicht war der Kreuzzug von 1147/48 ein Misserfolg: Er verärgerte einen wichtigen Verbündeten der Christen (Damaskus)[12], vertiefte die Spannungen mit Byzanz und schadete dem Ansehen der Kreuzzüge im lateinischen Westen.[13]

Die Jahre zwischen 1149 und 1187 gingen hin mit etwaigen Reibereien, aber auch mit Spannungen innerhalb der Christen. So stritten sich König Balduin III. von Jerusalem (1143-1162) und seine Mutter Melisendis mehr oder weniger offen um die Krone des Königreiches, aber auch die Muslims, bzw. die Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen innerhalb des Islam behakten sich untereinander. Gegner der Christen waren in diesen Jahren zunächst Nur-ad-Din (1143-1163) und schließlich Salah-ad-Din ibn Ayyub (1169-1193), den das Abendland bis heute unter dem Namen Saladin kennt und der während des Dritten Kreuzzuges (1187/89-1192) der große Gegner des Richard Löwenherz sein sollte. Ihm gelang das, was die Christen 88 Jahre lang zu verhindert gewusst hatten: Er schlug die Christen 1187 vernichtend bei Hattin und eroberte Jerusalem für den Islam zurück. Und dieses Mal war die Reaktion im Abendland gewaltig. Vor allem erhielt die zuletzt erlahmende Kreuzzugsbewegung einen neuen kräftigen Auftrieb, und während der nächsten Jahrzehnte „sollte kaum ein Jahr vergehen, ohne das irgendwo in Europa, in Kleinasien oder im Vorderen Orient ein Kreuzzug geführt wurde.“[14] Papst Gregor VIII. handelte rasch. In seiner Kreuzzugsbulle Audita tremendi rief er die Christenheit zu Taten auf, und nicht nur das. Der Papst beschwor eindringlich die Einheit der Christenheit, indem er schrieb:

„Wir, die wir trotz der großen Heimsuchung in jenem Land nicht nur die Sünden seiner Bewohner in Betracht ziehen müssen, sondern auch unsere eigenen Sünden und jene aller Christen, müssen verhindern, dass jenes Land gänzlich verloren geht und die Macht der Sarazenen sich gegen andere Länder richtet. Denn wir hörten von überallher von Zerwürfnissen und Streitigkeiten zwischen Königen und Fürsten. Es ist also dringend geboten, dass sich jeder dessen bewusst ist und danach handelt und sich der Wildheit und Boshaftigkeit unserer Feinde entgegenstellt; und da sie sich nicht fürchten, sich gegen Gott zu verschwören, sollten wir unter keinen Umständen zögern, im Namen Gottes zu handeln. Ergreift mit Dankbarkeit, so ihr dazu in der Lage seid, diese Gelegenheit, Reue zu zeigen und Gutes zu tun und euren Besitz und dann euch selbst zu opfern und euch für die Wiedererlangung jenes Landes einzusetzen, in dem die Wahrheit geboren wurde zu unserer Erlösung […]“[15]

Der päpstliche Aufruf zur christlichen Einigkeit war durchaus nicht unbegründet, und er betraf wohl vor allem Frankreich und England. Denn: Alle früheren Kreuzzugspläne (vor allem in den 1160er und 1170er Jahren) „scheiterten an dem unüberbrückbaren anglo-normannischen Gegensatz in Europa.“[16]

Vorbereitungen des englischen Königs auf den Kreuzzug

1187 war jedoch alles anders. Sowohl der alternde Kaiser Friedrich I. Barbarossa als auch Heinrich II. von England und Philipp II. „Augustus“ von Frankreich nahmen das Kreuz. Ein Kreuzzug war eine kostspielige Angelegenheit und eine ungeheure logistische Herausforderung, deshalb war eine sorgsame Vorbereitung unerlässlich. Um sich versorgen zu können mit Transportmitteln und Waffen, um „die kleinen Kreuzfahrer“ zu versorgen, die mit dem König zogen, brauchte man vor allem Geld. Noch unter Heinrich II. wurde in England 1188 der so genannte „Saladin-Zehnte“ eingeführt. Der König verfügte, dass in jeder Gemeinde Geld zu sammeln sei und dass ein jeder den Zehnten zu geben habe, um den Zug ins Heilige Land zu unterstützen.[17]

Die Vorbereitungen auf den Kreuzzug wurden unterbrochen durch den Tod Heinrichs II., der, wie bereits erwähnt, am 06. Juli 1189 in Chinon starb. Richard, den man in England als Herzog von Aquitanien und Graf des Poitou kannte und der sich selten auf der Insel aufgehalten hatte, eilte nach England und ließ sich am 03. September 1189 zum englischen König krönen. Er hatte nicht nur ein Riesenreich von seinem Vater übernommen, sondern auch dessen Kreuzzugsversprechen. Um genauer zu sein: Er hatte sogar noch vor dem Vater das Kreuz genommen.

Zunächst ging er daran und machte das, was man heute einen Kassensturz nennen würde: Er ließ den Besitz seines Vaters schätzen. „Das Ergebnis“, hält Régine Pernoud fest, „weicht in den verschiedenen Chroniken voneinander ab. Bei Benoît [von Peterborough] sind es 90.000 Pfund in Silber und Gold, bei Roger von Hoveden, einem anderen wichtigen Zeugen […] sind es über 100.000 Mark.“[18] Um die Staatskasse aufzufüllen, griff Richard zu einem Trick: In den Provinzen des Landes entließ er zahlreiche Vögte, Vizegrafen und sonstigen Würdenträger, die sich dann das Amt mehr oder weniger vom König zurückkaufen mussten. Richard zwang sie dazu, denn ansonsten fanden sich die Verweigerer im Gefängnis wieder. So verfuhr er fast mit allen Ämtern. Der Chronist Richard von Devizes drückte das Ganze etwas sarkastisch so aus: „Der König erleichterte in großer Eile all jene, die ein wenig zuviel besaßen, um ihr Geld und gab ihnen dafür je nach Wunsch Macht und Besitz.“[19]

Gleichzeitig war es dem neuen König ein Anliegen, dass die Verwaltung auch während seiner Abwesenheit funktionierte, die in seinem Namen die Regierung ausüben und ihm daher treu ergeben sein sollte und musste. So ernannte er neue reisende Richter. Johann, den Bruder von William dem Marschall, eines Vertrauten seines Vaters Heinrichs, den er in seinen Diensten behalten hatte, machte Richard zu seinem Oberschatzmeister, während er den Bischof von Ely, William Longchamp, zum Kanzler von England ernannte und ihn dafür um 3000 Pfund in Silber erleichterte. Dieser William Longchamp sollte später noch eine wichtige Rolle zu spielen haben. Und Richard ging auf seiner Suche nach Geldquellen sogar noch ein Stück weiter: Er entband den schottischen König Wilhelm I., den Löwen, von den seit 1173/74 bestehenden Lehensverpflichtungen und ließ sich das mit einer ansehnlichen Summe Geldes (10.000 Mark Sterling) vergelten.

All diese Beispiele zeigen, warum das Bild eines König Richard entstanden ist, von dem es heißt, England hätte den König nicht interessiert und wäre für ihn nichts weiter als eine willkommene Geldquelle gewesen, um seinen Kreuzzug zu finanzieren. Das ist in Teilen sogar richtig, wenn man bedenkt, mit welcher Rücksichtslosigkeit Richard Löwenherz den wirtschaftlichen Aufschwung Englands zu nutzen verstand, den sein Vater Heinrich II. in jahrelanger Kleinarbeit geschaffen und zuletzt mit despotischen Mitteln gesichert hatte. Es heißt, Richard hätte sogar erwogen, London zu verkaufen, wenn er nur einen geeigneten Käufer fände. Es muss jedoch noch einmal darauf hingewiesen werden, in welcher Lage sich Richard befand und dass ein Kreuzzug ins Heilige Land vor allem von finanziellen Mitteln abhing; ferner ging es darum, sich und die Mitziehenden, gleich welchen Standes, angemessen zu versorgen und zu besolden.

Neben den logistischen Aufgaben, der Beschaffung der nötigen Gelder und der Neugestaltung der Verwaltung hatte Richard noch einige familieninterne Dinge zu bereinigen. Seinen Halbbruder Gottfried, einen der illegitimen Söhne Heinrichs II. und nicht zu verwechseln mit Richards Bruder Gottfried, ließ er zum Bischof von York wählen und ließ sich auch dies bezahlen. Seinen umtriebigen Bruder Johann, der später noch von sich Reden machen sollte, glaubte Richard dadurch ruhig zu stellen, dass er ihn direkt nach seiner Krönung mit Ehren und Ländereien überhäufte. Er wurde unter anderem zum Grafen von Mortain erhoben, erhielt drüber hinaus Cornwall und Devon zugesprochen. Richard beließ ihm des Weiteren alle Ländereien, mit denen Heinrich II. ihn, seinen Lieblingssohn, ausgestattet hatte. Johann war nach allem einer der mächtigsten Barone des Landes, erst recht, nachdem er Havise von Gloucester geehelicht hatte, eine der reichsten Erbinnen des Landes. Diese Macht ermöglichte es Johann später unter anderem, England gegen seinen königlichen Bruder in Aufruhr zu versetzen, wie noch gezeigt wird. Aber auch seine Mutter Eleonore bedachte Richard reich.

Da Richard erfuhr, dass auch Philipp II. August von Frankreich von Vezelay aus ins Heilige Land aufbrechen wollte, beschloss man, gemeinsam zu gehen, immerhin handelte es sich bei Philipp August um Richards Lehnsherrn für seine französischen Besitzungen. Auch geschah der gemeinsame Zug ins Heilige Land nicht unbedingt aus freundschaftlicher Verbundenheit zwischen beiden Monarchen, nein, sie waren gewissermaßen gezwungen, miteinander zu gehen, da Lehnsherr (Philipp) und Lehnsmann (Richard) einander im Auge behalten wollten und mussten und beide Könige es sich nicht leisten konnten, ihr Renommee als Christ aufs Spiel zu setzen, indem sie ein Kreuzzugsunternehmen durch ihre Abwesenheit diskreditierten.

Der Aufbruch der beiden Kreuzfahrerheere verzögerte sich nochmals, denn Philipp II. musste die Regentschaft gar völlig neu ordnen, da seine Frau, Königin Elisabeth, nach einer Zwillingsgeburt erst 20jährig gestorben war. Doch schließlich traf man sich und kam überein, die englisch-französischen Streitigkeiten für die Dauer des Zuges zu beenden und zog gemeinsam los. Unterwegs trennte man sich aus logistischen Gründen. Philipp II. Augustus stach von Genua aus in See, Richard nach einigen Tagen Verzögerung von Marseille aus.

Der Dritte Kreuzzug hatte unter äußerst schlechten Vorzeichen begonnen. Am 10. Juni 1190 kam Kaiser Friedrich Barbarossa beim Baden in Kleinasien ums Leben, so dass der deutsche Kreuzzug fast gänzlich zum Erliegen kam. Im August und September 1190 hielt sich Richard bei seiner Schwester, der Königin Johanna von Sizilien, auf. Dort traf er auch wieder mit dem französischen König zusammen. Das ohnehin nur lockere Bündnis zwischen beiden Herrschern hatte schon Risse bekommen, und Anfang Februar 1191 kam es zum offenen Streit. Man traf sich mehrfach zu Verhandlungen, und schließlich beruhigte sich die Lage wieder. Militärisch war der englische König in der Folgezeit äußerst erfolgreich; er eroberte unter anderem Zypern und traf schließlich am 8. Juni 1191 vor dem belagerten Akkon ein. Während all dieser Zeit war es im Reich des Plantagenet schon zu ersten Unstimmigkeiten gekommen, denen wir uns nun zuzuwenden haben.

England ohne Richard

König Richard konnte beruhigt ins Heilige Land aufbrechen. Die Regentschaft über sein Riesenreich lag bei William Longchamp in starken Händen. Zudem hatte die Königinmutter Eleonore ein wachsames Auge auf die Dinge, die im Angevinischen Reich vor sich gingen. Besonders ihren jüngsten Sohn Johann beobachtete sie skeptisch, denn sie traute ihm nicht. Die folgenden Ereignisse sollten ihr in ihrer Skepsis auch Recht geben. Denn obwohl William Longchamp trotz seiner geringen Körpergröße als starker und charismatischer Charakter bekannt war, so galt er jedoch auch als eitel, überheblich und Besitz ergreifend. Für die meisten zeitgenössischen Chronisten war Longchamp ein politischer Opportunist, der sowohl seine geistliche als auch die weltliche Macht für seine Zwecke einzusetzen wusste. Er war sich nicht zu schade, mit seinen Ämtern und Würden zu prahlen, denn er war nicht nur Kanzler Englands und Bischof von Ely, sondern darüber hinaus auch noch päpstlicher Legat. Gerade letzteres Amt gab William Longchamp eine nicht zu unterschätzende Macht in England in die Hand, da viele englische Bischofssitze verwaist oder vakant waren, da ihre Inhaber mit König Richard ins Heilige Land gezogen waren. Auch soll es vorgekommen sein, dass William Longchamp königliche Befehle entweder ignorierte oder durch Gegenerlasse außer Kraft setzte. Richard, der den Winter 1190/91 bei seiner Schwester Königin Johanna von Sizilien verbrachte, erhielt von den Vorwürfen gegen William Kunde und sandte den Erzbischof Gautier von Rouen nach England, um die Lage zu überprüfen und gegebenenfalls zu beruhigen. Doch William Longchamp weigerte sich von Beginn an, seine Arbeit mit dem Erzbischof zu teilen, so dass Gautier zur Untätigkeit verurteilt war. In seiner Machtfülle hatte Longchamp nur einen Menschen wirklich zu fürchten, und das war Johann, der das Tun des Kanzlers argwöhnisch betrachtete, vielleicht auch, weil er gern selbst im Land den Ton angegeben hätte. Dies lässt sich allein schon daran erkennen, dass Johann sich beeilte und schon bald nach dem Aufbruch seines königlichen Bruders ins Heilige Land verlauten ließ, sein Bruder habe gar nicht die Absicht nach Europa zurückzukehren, sondern wolle sich im Nahen Osten ein Königreich schaffen und habe daher ihn, Johann, zu seinem Nachfolger in England auserkoren.

Die Auseinandersetzungen zwischen dem Kanzler des Reiches und dem Prinzen entzündeten sich an der Burg von Lincoln und deren Besitz. William Longchamp trachtete offenbar nach dem Besitz der Burg, so dass der Burgherr Prinz Johann um Hilfe anrief. William sammelte Truppen um sich und marschierte nach Lincoln. Er ignorierte die Aufforderung des Prinzen, sich wieder aus Lincoln zurückzuziehen, so dass Johann im Gegenzug die Burgen von Nottingham und Tickhill besetzte, offenbar, um diese „als Pfand für die Aufhebung des Belagerungszustandes verwenden zu wollen.“[20] Johann hielt sich um diese Zeit in England auf, obwohl er seinem königlichen Bruder hatte schwören müssen, England während seiner Abwesenheit nicht zu betreten, um mögliche Aufstände seines ehrgeizigen Bruders zu verhindern.[21] Die Situation konnte nur dadurch entspannt werden, dass am 10. April 1191 Papst Clemens III. starb und dadurch Longchamps Amt als päpstlicher Legat nichtig wurde. William erkannte, dass er mit seiner weltlichen Macht als Kanzler allein gegen Johann nichts ausrichten konnte, schloss eiligst Frieden und zog sich zurück. Animositäten verbanden William Longchamp auch mit Gottfried dem Bastard, dem unehelichen Sohn Heinrichs II., der zum Erzbischof von York gewählt worden war. Nun wollte Gottfried Besitz von seiner Erzdiözese nehmen. Eingedenk des Schwurs gegenüber dem König (s. Fußnote 21) wollte Longchamp den Kleriker an der Landung in England hindern. Als Gottfried dennoch am 14. September 1191 englischen Boden betrat, wurde er gleich durch Leute des Kanzlers in Empfang genommen und in eine Festung verbracht. Des Weiteren verlor er alle seine Besitzungen, die vom Kanzler eingezogen wurden. Als Prinz Johann von der Sache Wind bekam, machte er bei den Grafen, Baronen und Bischöfen Stimmung gegen den Kanzler. Unter anderem die Bischöfe von Bath und Chester machten ihrem Unmut über den eigensinnigen kleinen Longchamp Luft. Auf diesen Druck hin ließ Longchamp Gottfried wieder frei, der sich nach London begab, um sich bitter über Longchamp zu beklagen. Longchamp floh derweil nach Windsor und später nach London in den Tower, dies alles, „nachdem es einige Scharmützel zwischen seinen Leuten und denen von Johann ohne Land gegeben hatte.“[22]

Dass William Longchamp den Bogen endgültig überspannt hatte, zeigte eine erregte Versammlung, die am 08. Oktober 1191 in der Londoner St.-Pauls-Kathedrale stattfand. Hier erklärte Johann William Longchamp als Kanzler von England für abgesetzt und übergab das Amt des Kanzlers an Gautier von Rouen und Willian den Marshall weiter. Oberste Richter des Landes wurden Hugo Bardulf und William Bruere. Longchamp blieb nichts anderes übrig als sein Amt abzugeben, und nach einigen größeren Schwierigkeiten gelang es ihm, sich in die Normandie einzuschiffen. Er unterließ es natürlich nicht, sich mehrfach bei Amtsbrüdern und dem Papst über seine Behandlung (er war u. a. gefangen gesetzt worden) zu beschweren. Die Folge war eine Reihe von Exkommunikationen, die eine große Zahl von englischen Diözesen traf. Das Chaos war perfekt, denn Exkommunikationen bedeuteten immer ein Stück Unsicherheit für die Diözesen, denn das bedeutete, dass Exkommunizierte keine Gottesdienste mehr halten oder an Gottesdiensten teilnehmen durften und so das geistliche Leben Schaden erlitt.

Auch Königinmutter Eleonore sah, dass die Lage im Reich langsam aber sicher außer Kontrolle geriet. Sie mochte ihren Sohn Johann nicht, und ebenso wenig gefiel ihr, was William Longchamp als Regent anstellte. Völlig um ihre Ruhe war es geschehen, als bekannt wurde, dass Philipp II. Augustus von Frankreich vorzeitig aus dem Heiligen Land in sein Reich zurückgekehrt war. Sie ahnte zu Recht nichts Gutes, denn sie kannte 1.) den Ehrgeiz ihres Jüngsten, und sie wusste 2.) dass der Kapetinger begehrliche Blicke auf den englischen Festlandsbesitz geworfen hatte. Anfang 1192 begab sie sich nach England, um sich einen Überblick zu verschaffen. So ritt sie auch in das Bistum Ely. Über ihre Inspektionsreise berichtet Richard von Devizes:

„[…] Königin Eleonore nämlich, besuchte verschiedene Herrenhäuser in der Nähe von Ely, die ihr gehörten […]. Da kamen in allen Dörfern und Weilern Männer, Frauen und Kinder zu ihr, die nicht unbedingt zu den allerärmsten gehörten. Ein Volk in Tränen und Jammer, mit nackten Füßen, die Kleider in Unordnung, das Haar ungekämmt. Sie wandten sich unter Tränen an sie, konnten vor Kummer kaum sprechen. Niemand brauchte zu erklären, was sie sagen wollten, man konnte es ihren Gesichtern ablesen. Unbeerdigte Leichen lagen hier und da auf den Feldern, da ihre Bischöfe jegliches christliches Begräbnis unterbunden hatten. Die Königin begriff, woher eine derartige Härte kam, sie selbst nämlich war voll Mitleid […]. Sie kümmerte sich nicht mehr um ihre eigenen Dinge, sondern begab sich nach London und bat den Erzbischof von Rouen, oder besser gesagt, sie forderte ihn auf, alle Güter des Bischofs dem Bistum zurückzugeben und die Exkommunikation desselben Bischofs, sofern sie seine Kanzlerschaft betraf, aufzuheben, die in der Provinz von Rouen ausgesprochen worden war. Wo gab es einen Mann aus Eisen, der nicht vor dieser Frau weich geworden wäre und nicht auf ihre Wünsche gehört hätte?“[23]

Es bewahrheitete sich zudem, was sie befürchtet hatte: König Philipp II. Augustus und Prinz John verbündeten sich und sorgten in den Provinzen Richards für Unruhe. Der französische König war sich nicht zu schade, sich beim Papst, als er auf seiner Rückreise aus dem Heiligen Land in Italien Station machte, über Richard zu beschweren. Er bat den Papst, sich an Richard revanchieren zu dürfen, da dieser ihn schlecht behandelt hätte. Er wollte sich als Wiedergutmachung unter anderem die Normandie aneignen. Doch der Papst durchschaute Philipps Absichten und verbot dem König unter Bannandrohung, Richards Länder auch nur anzutasten; Richard Löwenherz war ein Kreuzfahrer, und es galt als unchristlich, sich den Besitz eines abwesenden Kreuzfahrers anzueignen. Königin Eleonore schrieb mehrfach ihrem Sohn im Heiligen Land, und ihre Botschaften wurden immer drängender. Immer wieder ließ Johann verbreiten, Richard werde nicht zurückkehren und hätte Johann zu seinem Nachfolger designiert. Schließlich konnte Richard nicht länger zögern und trat den Heimweg an, um seinen Bruder zu maßregeln und den französischen König in seine Schranken zu weisen. Am 9. Oktober 1192 begann seine Rückreise, und bereits im Dezember befand er sich vor Wien. Doch weiter kam er nicht. Denn obwohl er verkleidet war, wurde er erkannt und gefangen. Herzog Leopold von Österreich sah die Gelegenheit zur Rache an Richard, denn dieser hatte ihn im Heiligen Land tief gekränkt und bei einem Streit die herzogliche Standarte in den Staub geworfen. Zu Recht lässt sich sagen: „Damit begann ein Geiseldrama, das den englischen König nicht nur für Monate an der Rückkehr in sein Reich hindern, sondern auch gravierende Konsequenzen für die politischen Kräfteverhältnisse im gesamten Abendland haben sollte.“[24] Die Gefangenschaft Richards gewann nämlich dadurch an Brisanz, als das Herzog Leopold ihn an seinen obersten Lehnsherrn, Kaiser Heinrich VI., überstellte, der wiederum mit den französischen Kapetingern verbündet war, während seine größten Gegner im Reich, die Welfen, enge Bande zu den Engländern geknüpft hatten. Der Welfenherzog Heinrich der Löwe von Sachsen und Bayern war Schwager Richards und nach seinem Sturz 1180 mehrfach im englischen Exil gewesen. So wurde Richards Gefangenschaft auch ein Politikum zwischen den Welfen und Staufern… Am 28. Dezember 1192 setzte der Kaiser den französischen König davon in Kenntnis, dass man den „inimicus imperii nostri et turbator regni tui“ [25] („den Feind unseres Reiches und Störer Deiner Herrschaft“) gefangen habe. Richard wurde an verschiedenen Orten des Reiches gefangen gehalten, zunächst scharf, später seinem Rang entsprechend, indem man ihm gestattete, Besuch zu empfangen und Kontakt in seine Heimat aufzunehmen. Der englische König traf mehrfach mit dem Kaiser zusammen und wurde auch den Reichsfürsten präsentiert. Man legte für ihn ein Lösegeld von 100.000 Mark fest – eine Unsumme, wohl ungefähr fünf bis sechs Millionen Euro.

In England traf die Nachricht von der Gefangennahme des Königs im Februar 1193 ein. Man war zwar geschockt, doch so bereitwillig, wie es die Sagen um Robin Hood Glauben machen wollen, waren die Engländer nicht, das Lösegeld zusammenzutragen. Anders ausgedrückt: „Den Engländern […] war ihr König weder lieb noch teuer, ihre einzige Erinnerung an ihn, der so selten daheim war, bestand darin, dass er sie immer geschoren hatte wie die Schafe, und sie hätten es lieber gesehen, ihn nicht wieder zu sehen.“[26]

Wie auch immer die Engländer über ihren König dachten, sie mussten ihren Teil zur Befreiung Richard beitragen. Inzwischen war in ganz Europa bekannt geworden, was dem englischen König geschehen war, und immer mehr Autoritäten solidarisierten sich mit ihm. Leopold von Österreich war vom Papst mit der Exkommunikation belegt worden, und auch gegen den französischen König hatte er seine Bannandrohung wiederholt, nur den Kaiser ließ er aus politischen Erwägungen außen vor, doch das allein reichte Eleonore bei weitem nicht; sie forderte noch mehr Engagement vom Pontifex, und ihre Verbitterung über seine Untätigkeit wuchs:

„Oft habt Ihr wegen unwichtiger Dinge Eure Kardinäle ans Ende der Erde geschickt und mit großer Vollmacht ausgestattet, aber in so einer verzweifelten wie bedauernswerten Situation habt Ihr nicht den geringsten Unterdiakon oder Messgehilfen entsandt. Die Könige und Fürsten dieser Erde haben sich gegen meinen Sohn verschworen. Fern von HERRN wird er in Ketten gehalten, während andere sein Land verwüsten […] Und während all dieser Zeit bleibt Petri Schwert in der Scheide Dreimal habt Ihr versprochen, Legaten zu schicken, habt es jedoch nicht getan […] War es das, was Ihr mir in Châteauroux unter Versicherung Eurer Freundschaft und Treue versprochen habt? Inzwischen weiß ich leider, dass wichtige Versprechen nichts sind als bloße Worte.“[27]

Doch Eleonore tat noch mehr. Gleich nachdem Richards missliche Lage in England bekannt worden war, fasste die oberste Finanzverwaltung den Beschluss, „dass sämtliche Bischöfe, Kleriker, Grafen und Barone, alle Abteien und Propsteien ein Viertel ihres Einkommens für das Lösegeld des Königs zur Verfügung stellen mussten und sogar die silbernen Abendmahlskelche dafür verwendet werden sollten.“[28] Während sich Eleonore mit Unterstützung des Erzbischofs Hubert von Canterbury und dem wieder in Gnaden aufgenommenen Kanzler William Longchamp damit abmühte, das immense Lösegeld zu sammeln, verließ Prinz Johann England und traf in Frankreich mit König Philipp II. Augustus zusammen. Die beiden vereinbarten, Richards Besitz untereinander aufzuteilen, Philipp erhielt unter anderem die Normandie rechts der Seine und einige wichtige Festungen.

Zu Beginn des Jahres 1194 spitzte sich die Lage der Beiden jedoch zu. Es verdichteten sich die Anzeichen, dass Kaiser Heinrich VI. bereit sei, Richard freizulassen. Zunächst hatte er jedoch das Lösegeld als 150.000 Mark erhöht, was in England noch zwei weitere Erhebungen an Geldern und Steuern nötig machte. Bei der dritten Erhebung griff man verstärkt zum Mittel der Dethesaurisierung, was bedeutet, dass man liturgische Gefäße einschmolz, um Geld zu gewinnen. Dennoch reichte es nicht. England musste 200 Geiseln stellen. Prinz Johann und König Philipp wandten sich beide an den Kaiser, der tatsächlich bereit war, Richard freizulassen, und baten ihn, Richard in Haft zu behalten und boten ihm 1000 Mark pro weiteren Haftmonat. Der Kaiser brauchte Geld für seine ehrgeizige Italienpolitik, sodass er sich bereit zeigte, auf das Angebot einzugehen, und nicht nur das: Er stellte König Richard bei einer Zusammenkunft vor die Wahl, England gegen einen Jahreszins von 5000 Pfund Sterling als kaiserliches Lehen zu nehmen oder an Frankreich ausgeliefert zu werden. Richard, der seine Heimreise endlich fortsetzen wollte, biss in diesen sauren Apfel und vermittelte sogar im Streit zwischen Kaiser Heinrich VI. und dem 1180 gestürzten Herzog Heinrich dem Löwen von Sachsen und Bayern, dem Richard lange Jahre als Schwager auch familiär verbunden gewesen war. Daraufhin wurde der König, der bei den deutschen Fürsten großen Eindruck hinterlassen hatte, freigelassen. Keine Geringere als Eleonore war es, die das zusammengetragene Lösegeld, selbstverständlich schwer bewacht, nach Deutschland brachte, um gleichzeitig ihren Sohn heimzuholen. Im Februar 1194 trafen Mutter und Sohn nach fünf Jahren in Mainz zusammen, in Antwerpen bestiegen beide das Schiff, dass im, März die englische Küste erreichte. England hatte seinen König wieder, die Verschwörung Johanns und Philipps II. hatte ihr Ziel nicht erreicht.

[...]


[1] Zitiert aus: Régine Pernoud: „Der Abenteurer auf dem Thron. Richard Löwenherz König von England“, dtv, München 1996, S. 30. (In der Fo9lge zitiert als: Pernoud: „Abenteurer“).

[2] Siehe zu dieser Thematik bei Pernoud: a. a. O., S. 33ff. und: John Gillingham: „Richard Löwenherz. Eine Biographie“, Claasen Verlag, Düsseldorf, 1981, S. 49-70.

[3] Earl: Graf, der diesen Titel keinem Grundbesitz verdankt.

[4] England stand zwischen 1013 und 1042 unter dänischer Herrschaft.

[5] Christine und Pierre Lauffray: „Die Plantagenets“, Editions Rencontre, Lausanne 1969, S. 11.

[6] Lauffray: a. a. O., S. 11-12.

[7] Wilhelms Vor-Vorgänger auf dem englischen Thron, Eduard der Bekenner (1042-1066), hatte lange Jahre im Exil in der Normandie am Hofe Wilhelms gelebt. Als Eduard 1042 den englischen Thron bestieg, war er nicht nur der letzte Angelsachse auf dem Thron, sondern kann, aufgrund seines normannischen Hintergrundes, auch als erste normannische König Englands gelten.

[8] Lauffray: a. a. O., S. 13.

[9] Lauffray: a. a. O., S. 14f.

[10] Justitiar, Kanzler und Schatzmeister.

[11] Outremer: So nannte man im Abendland das Heilige Land.

[12] Aus völlig unerfindlichen Gründen hatte eine Fürstenversammlung in Akkon, an der auch König Ludwig VII. von Frankreich und seine damalige Frau Eleonore von Aquitanien teilnahmen, beschlossen, einen Angriff auf Damaskus zu wagen, anstatt Edessa zu befreien. Widersinnig war dieses Unternehmen deshalb, da Damaskus den Christen freundschaftlich verbunden war.

[13] Nikolas Jaspert: „Die Kreuzzüge“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2. Auflage 2004, S. 46.

[14] Jaspert: a. a. O., S. 47.

[15] Wilfried Westphal: „Richard und Saladin. Der Dritte Kreuzzug“, Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern 2006, S. 14.

[16] Hans Eberhard Mayer: „Geschichte der Kreuzzüge“, Kohlhammer Verlag Stuttgart, 9. Auflage 2000, S. 112.

[17] Genauer nachzulesen in: William Stubbs (hrsg.): Gesta Henrici II et Ricardi I regis, Rolls Series 49, London 1869, S. 31.

[18] Pernoud: „Abenteurer“, S. 81.

[19] Pernoud: „Abenteurer“, S. 88.

[20] Pernoud: „Abenteurer“, S. 196.

[21] Régine Pernoud dazu: „Richard hatte seinen beiden Brüdern [Johann und dem unehelichen Gottfried] den Schwur abgenommen, nicht nach England zu gehen, solange er abwesend sei. Ihre Mutter hatte jedoch den Schwur für Johann [in Anbetracht der zugespitzten Situation mit William Longchamp] aufgehoben. (Pernoud: „Abenteurer“, S. 196).

[22] Pernoud: „Abenteurer“, S. 197.

[23] Pernoud: „Abenteurer“, S. 201f.

[24] Dieter Berg: „Die Anjou-Plantagenets“, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2003, S. 80.

[25] Berg: ebd.

[26] Siegfried Fischer-Fabian: „Die deutschen Cäsaren. Triumph und Tragödie der Kaiser des Mittelalters“, Verlag Knaur, ohne Ort und Jahr, S. 263.

[27] Pernoud: „Abenteurer“, S. 221.

[28] Pernoud: „Abenteurer“, S. 220.

Ende der Leseprobe aus 48 Seiten

Details

Titel
Von Löwenherzen, eisernen Herrschern und Schattenkönigen. Drei Aufsätze zu bedeutenden Herrschergestalten der Geschichte
Autor
Jahr
2017
Seiten
48
Katalognummer
V369889
ISBN (eBook)
9783668482852
ISBN (Buch)
9783668482869
Dateigröße
2160 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
löwenherzen, herrschern, schattenkönigen, drei, aufsätze, herrschergestalten, geschichte
Arbeit zitieren
Konstantin Noack (Autor:in), 2017, Von Löwenherzen, eisernen Herrschern und Schattenkönigen. Drei Aufsätze zu bedeutenden Herrschergestalten der Geschichte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/369889

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