Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert am Beispiel von "Nora" oder "Ein Puppenheim"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

27 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Analyse
2.1. Das Puppenmotiv
2.1.1 Spiel im Schauspiel
2.1.2 Die Metapher des Puppenheims
2.2. Geschlechterbeziehung
2.2.1 Die Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert
2.2.2 Soziologischer Aspekt der Verwendung von Frauentypen
2.2.3 Die Geschlechterdynamik von Nora und Torvald
2.3 Die Frage der Emanzipation
2.3.1 Die gegenwärtige Nora bei Ibsen
2.3.2 Die hypothetische Nora der Zukunft

3. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Sekundärliteratur

1. Einleitung

Der aus Norwegen stammende Henrik Ibsen (1828-1906)[1] gilt als einer der bekanntesten Exilschriftsteller der Weltliteratur. Von seinen 27 Jahren im Ausland verbrachte er 17 in Deutschland, die restlichen 10 in Italien. Seiner Anerkennung in Deutschland ist es zu verdanken, dass er ein breites, europäisches Publikum erreichte und nach seinem Tode von Theaterhistorikern als 'Vater des modernen Dramas'[2] bezeichnet wurde.

Sein 1879 erschienenes Schauspiel in drei Akten Et dukkehjem wurde in Deutschland unter dem Titel Nora oder Ein Puppenheim [3] veröffentlicht . Das Stück hatte seine Uraufführung am 20. Januar 1880 auf dem Kristiania Theater in Oslo. Im gleichen Jahr kam die deutsche Fassung in Hamburg, Wien und Berlin auf die Bühne, allerdings zunächst mit verändertem Schluss[4]. Später wagte man auch, Aufführungen "mit der ursprünglichen Schlußszene, von der Ibsen (1981) andeutete, daß gerade ihretwegen das Stück entstanden sei"[5], in Deutschland zu inszenieren

Die Handlung beschreibt das Leben von Nora und ihre Ehe mit dem Advokaten Torvald Helmer. Nora hat Jahre zuvor die Unterschrift ihres verstorbenen Vaters gefälscht, um Geld für die Behandlung ihres erkrankten Mannes leihen zu können und es vor Torvald geheim gehalten. Nun droht ihr Schuldiger Krogstad, der Angestellter ihres Mannes ist, sie dafür zur Verantwortung zu ziehen, sollte sie Torvald nicht von seiner nahenden Kündigung abhalten. Als Torvald trotz ihrer Bemühungen die Wahrheit erfährt, fürchtet er um sein Ansehen und will Nora zwar in seinem Haus behalten, um nach außen hin den Schein einer funktionierenden Ehe zu wahren, will ihr aber nicht länger erlauben, die Kinder zu erziehen[6]. Die gesellschaftliche Katastrophe wird durch die Rückgabe des Schuldscheins von Krogstad abgewandt, doch Nora hat in der Reaktion Torvalds erkannt, dass sie jahrelang eine Lüge von der perfekten Ehe gelebt hat. In der ursprünglichen Fassung verlässt Nora ihren Mann und sein Haus, um eigenständiges Leben zu führen. In der veränderten Version bleibt sie, um ihrer Kinder willen, bei ihm.

Im Mittelpunkt der nachfolgenden Hausarbeit steht die Charakterisierung von Nora unter Berücksichtigung des Geschlechterdiskurses am Ende des 19. Jahrhundert. Aus dieser Fragestellung ergibt sich folgende Gliederung: In einem ersten Schritt soll anhand einschlägiger Einführungen ein Bezug zur Gattung des Dramas hergestellt und die Bedeutung des Titels mit der Metapher des 'Puppenheims' erläutert werden (Kapitel 2.1).

Den Schwerpunkt der Arbeit bildet die Analyse des Dramas hinsichtlich der Geschlechterkonzeption im zeitlichen Rahmen um 1900 (Kapitel 2.2) und die Frage nach der Emanzipation der Protagonistin (Kapitel 2.3). Das dritte Kapitel der Analyse beinhaltet zudem eine Aufteilung der Betrachtung von Noras Entwicklung zwischen der Figur im Original von Ibsen und unter Berücksichtigung der Zukunftsvoraussage von Elfriede Jelineks Theaterstück Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft[7] aus dem Jahr 1979. Im letzten Schritt der Arbeit (Kapitel 3) erfolgt eine knappe Betrachtung der wichtigsten Ergebnisse, welche eine Antwort auf die Frage geben soll, inwiefern Nora als literarische Frauenfigur den Stereotypen ihrer Zeit entspricht und ob Noras Entscheidung am Ende des Stücks als eine erfolgreiche Emanzipation angesehen werden kann.

2. Analyse

2.1. Das Puppenmotiv

2.1.1 Spiel im Schauspiel

Der norwegische Originaltitel des Werks Et dukkehjem bedeutet wörtlich übersetzt Ein Puppenheim. Zunächst kann dieser Titel in Relation zu seiner Gattung betrachtet werden. Bei Nora oder Ein Puppenheim handelt es sich um ein 'Schauspiel in drei Akten'[8] des Genres des naturalistischen Dramas.

Im Drama dominieren traditionellerweise Konflikte, die "aus der der Abweichung von moralischen Normvorstellungen der Gesellschaft resultieren"[9]. Dabei können die Werte der jeweiligen Gesellschaft im Inhalt des Stückes konfirmierend oder hinterfragend verwendet werden[10]. Die Unterscheidung, ob die herrschende Sozialstruktur mit positiven Aspekten besetzt ist oder "das System der sozialen Hierarchien als korrupt und machtorientiert"[11] darstellen, zeigt sich für Ibsens Stück bereits anhand der Szenerie-Beschreibung.

Die geschilderte Einrichtung verordnet die Familie Helmer in den oberen Bereich der Bürgerlichkeit: "Teppich, Porzellannippes und eine Bücherwand mit repräsentativen Einbänden bilden das Interieur"[12].

Unter dem Personenregister der Primärliteratur befindet sich die Anmerkung ' Das Stück spielt in Helmers Wohnung' [13]. Da Nora die tragende Figur des Stückes ist und sich abgesehen von ihrer Ankunft im ersten Auftritt immer in der Wohnung aufhält, reicht es also auch aus, nur einen einzigen Schauplatz auf der Bühne aufgebaut zu haben. Und dieses einzelne Bühnenbild spiegelt Noras ganzes Umfeld wider, ihr buchstäbliches Puppenheim, welches auf der Bühne, wie bei einem realen Spielzeug-Puppenhaus für Kinder dem echten Erlebnis eines Zuhauses zwar ähnelt, aber letztlich nur konstruiert ist.

Die Geschlossenheit ihres dramatischen Umfelds steht dabei im scharfen Gegensatz zum 'off stage'-Bereich, der die Freiheit außerhalb des Puppenheims repräsentiert. Ihre Gebundenheit an die sozialen Normen ihrer Zeit spiegelt sich also bereits im materiellen Aufbau des Theaterstücks wider. Ihr Verlassen des Hauses am Ende des Stücks ist dann nicht mehr Teil dieses dargestellten Raums.

Laut Regieanweisung endet das Drama mit dem Geräusch der zufallenden Tür des Hauses[14] und verdeutlicht auditiv Noras Grenzüberschreitung von der Bühne, welche ihre gesellschaftliche Gefangenschaft ausdrückt, in die für den Betrachter nicht sichtbare, und damit metaphorisch ungewisse Zukunft.

Neben dem Faktor des Schauplatzes bei der Umsetzung des Werkes auf der Bühne, findet sich die Verbindung zwischen Titel und Gattung auch in der Bezugnahme zum 'Schau-Spiel', den eingesetzten Schauspielern und ihrer Tätigkeit des Schauspielerns.

Das Theater beinhaltet immer den Aspekt des Spiels, da es nach dem Prinzip funktioniert, fremde Rollen anzunehmen und diese vor einem Publikum vorzuspielen. Es verweist einerseits "selbstreflexiv auf das Spiel und das Spielerische zurück"[15]. Andererseits stellt es gleichzeitig "ein interaktives Spiel von Schauspielern und Zuschauern"[16] dar, was Birte Giesler als die 'spezifische Ästhetik des Theater-Spiels'[17] bezeichnet, wobei die Trennung zwischen Akteuren und Publikum traditionellerweise aber beständig bleiben muss.

Die Aufführung eines Schauspiels im Theater hat den Anspruch der Unterhaltung seiner Zuschauer, so wie auch Nora als Figur für Torvald die Funktion der Unterhaltung übernimmt. Sie tanzt für ihn und sie verkleidet sich auf seinen Wunsch. Sie spielt mit dieser Maskerade ihre Rolle für seine Zufriedenheit, wie auch die Schauspielerin wiederum ihre Rolle als Nora bei betreten der Bühne einnimmt. Diese Art des Spielens ist jedoch nicht positiv mit dem Aspekt der 'Freude am Spiel' konnotiert.

Mit der Drohung von Krogstad verirrt sich Nora dann innerhalb des Stückes in ein zum Scheitern verurteiltes Versteckspiel mit der Wahrheit. Lou Andreas-Salomé beschreibt das Auftreten von Nora im Laufe der fortschreitenden Handlung folgendermaßen:

"der Probetanz einer Tarantella ist es, mit welchem sie Helmers Aufmerksamkeit vom Brief abzulenken sucht. Im Bestreben unbefangen zu erscheinen, artet Noras gewohnter Frohsinn in ausgelassene, fieberhafte Wildheit aus. [...] So mündet ihr Eheleben mit Helmer in die unnatürliche, fast wilde Schaustellung eines eingelernten Tanzes aus, dem er in harmlosen Ergötzen zusieht."[18]

Ihr Verhalten steigert sich mit der nahenden Enthüllung zunehmend und ihrem Charakter wird alle Natürlichkeit, die fundamental ist für die Illusion des Theatergeschehens als Realität, genommen. Im Anschluss daran kommt es zum Höhepunkt der Handlung, als die Wahrheit endgültig offenbart wird und beendet sowohl Noras Versteckspiel, als auch ihre unbeschwerte 'Zeit des Spiels'[19] in Helmers Wohnung.

2.1.2 Die Metapher des Puppenheims

Abgesehen von der Verbindung zur Gattung des Werks kann die Wahl des Titels gleichzeitig als eine Anspielung auf die Motivik vom kindlichem Spiel und dem metaphorischen Puppenhaus als inhaltliches Merkmal des Stückes interpretiert werden.

"Schau, hier sind neue Kleider für Ivar - auch ein Säbel. Da ein Pferdchen und eine Trompete für Bob. Und hier eine Puppe und ein Puppenbett für Emmy"[20]. Der Anfang des Stücks vermittelt den Eindruck, Nora verbringe ihre Zeit damit, einzukaufen und Zeit mit ihren Kindern zu verbringen - allerdings nicht, um diese groß zu ziehen. Nora möchte "Sorgenfrei sein, [...] Mit den Kindern spielen und sich tummeln können"[21]. Die Kinder treten in dem Drama nur auf, wenn Nora mit ihnen spielt[22] oder sie an das Kindermädchen Anne-Marie übergibt[23].

Noras Umgang mit Geld ist unüberlegt, sie fertigt Torvalds Besorgnis hinsichtlich ihrer Ausgaben mit den Worten "Ach was, so lange können wir ja borgen"[24] ab. Hinsichtlich ihres eigenen Vergehens der Unterschriftenfälschung ist sie uneinsichtig, teilt Christine stolz mit: "Ich bin's, die Torvald das Leben gerettet hat. [...] Ich war's, die das Geld beschaffte"[25], nachdem Christine ihr vorwirft, 'die Mühen und Beschwerden des Lebens'[26] nicht zu kennen.

Sie versucht weiterhin, die Wahrheit über ihre Tat so lange wie möglich vor ihrem Gatten geheim zu halten. Ihr Verhalten im Zeitraum der Konfrontation von Krogstad bis zur Enthüllung kann zusätzlich als ein Spiel bezeichnet werden, dass sie betreibt, weil sie den Ernst ihrer Lage nicht vollständig begreifen kann und die drohenden Folgen nicht tragen will. Ihre Gründe für die Unterschriftenfälschung hält sie dabei für moralisch unanfechtbar:

Krogstad: Wenn ich dies Papier dem Gericht vorlege, dann werden sie nach den Gesetzen verurteilt.

Nora: Das glaube ich nicht. Eine Tochter sollte nicht das Recht haben, ihren alten todkranken Vater mit Kummer und Sorgen zu verschonen? Eine Frau nicht das Recht, ihrem Manne das Leben zu retten? Ich kenne die Gesetze nicht so genau; aber ich bin mir sicher, irgendwo steht darin, daß so etwas erlaubt ist.[27]

Dies und Aussagen wie "Aber denken wir nicht an Geschäfte; das ist so langweilig"[28] oder dass sie sich laut Regieanweisung die Ohren zuhält und "Unsinn! Lustig; lustig!"[29] ausruft, als Doktor Rank davon spricht, seinen Tod vor Augen zu haben, unterstreichen den kindhaften Charakter der Protagonistin. Sie verhält sich zu keinem Zeitpunkt, wie es von einer Erwachsenen, einer Ehefrau oder einer Mutter zu erwarten wäre.

Die Figuren thematisieren dies auch wiederholt im direkten Umgang mit Nora. Torvald bezeichnet sie als ein Kind, als Nora versucht, ihn vom Lesen des Briefes abzuhalten und er ihr mit der Aussage "Das Kind soll seinen Willen haben"[30] nachgibt. Neben vielseitigen Kosenamen bezeichnet er sie außerdem auch als "Mein süßes kleines Püppchen"[31].

Frau Linde konfrontiert Nora bereits bei ihrer ersten Unterhaltung im Haus der Helmers mit "Du bist ein Kind, Nora"[32] und später ein zweites Mal, als Nora von ihrer und Torvalds familiärer Beziehung mit Doktor Rank spricht und sie ihr antwortet: "In manchen Dingen bist du noch wie ein Kind, liebe Nora"[33]. Da sie Nora aus früherer Zeit kennt, ist Frau Linde außerdem derjenige Charakter, der auf Noras altes Leben blicken und ihre Unreife mit der Frage "bist du noch immer nicht vernünftig geworden?"[34] unterstreichen kann.

Dazu gehört auf indirektem Wege ebenfalls ihr Vater, dessen Umgang mit ihr mehrmals mit ihrer Beziehung mit Torvald verglichen wird.

Im Gespräch mit Doktor Rank sagt Nora: "Als ich noch zu Hause war, liebte ich natürlich Papa am meisten. [...] Aber sie spüren wohl, daß es mir mit Torvald ähnlich geht wie mit Papa"[35]. Sie sieht keinen Unterschied in der Liebe, die ihr Vater und ihr Ehemann für sie empfinden und betrachtet beide "ehrfürchtig, innig, mit großen, gläubig bewundernden Kinderaugen emporblickend"[36].

Sie zweifelt daher keinen Augenblick daran, von ihm im Gegenzug die gleiche väterliche Nachsicht zu erhalten und bedingungslos in Schutz genommen zu werden für ihre Tat. Ihr wird die Realität aber letztlich bewusst, als diese Illusion von Torvald zerfällt.

Nora: Aber unser Heim war nichts andres als eine Spielstube. Zu Hause, bei Papa, wurde ich wie eine kleine Puppe behandelt, hier wie eine große. Und die Kinder wiederum waren meine Puppen. Ich war recht vergnügt, wenn du mit mir spieltest, so wie die Kinder vergnügt waren, wenn ich mit ihnen spielte. Das war unsere Ehe, Torvald.[37]

Lou Andreas-Salomé umschreibt ihre Erkenntnis mit den Worten: "Der Übergang aus ihren sorglosen, unbekümmerten Mädchentagen in die Ehe ist ihr darum wenig mehr gewesen als ein Umzug"[38].

Der Titel des Werkes fasst Noras Leben unter der Metapher des Puppenhauses zusammen. "Das Kindliche ist es, das ihren Liebreiz, ihre Gefahr, ihr Schicksal ausmacht."[39] sagt Andres-Salomé über Noras zentrale Charaktereigenschaft. Sie ist innerlich noch ein Kind, das es nicht besser weiß. Sie ist eine Puppe für die beiden tragenden Figuren in ihrem Umfeld und ihr Leben bis zum Wendepunkt in letzten Abschnitt des Dramas verbringt sie spielend in der kleinen Welt des Puppenheims. Alles, was sie für ihr Leben gehalten hat, ist ebenso falsch wie jede Umsetzung des Werkes auf der Bühne. Und mit dem Ende des Schauspiels endet idealerweise auch Noras Leben als Spielfigur.

2.2. Geschlechterbeziehung

2.2.1 Die Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert

Ute Frevert bezeichnet die Differenz der Geschlechter als "fundamentale, ursprüngliche, je geradezu archetypische soziale Unterscheidung überhaupt"[40], da man sie "in allen historischen und gegenwärtigen Gesellschaften"[41] antrifft. Ambivalent sind dabei jedoch die Schärfe und die Art der Unterscheidung. Sie ist abhängig von verschiedenen Faktoren, wie beispielsweise "vom Entwicklungsstand wirtschaftlicher Arbeitsteilung, von den Strukturen politischer Machtausübung, vom Grad gesellschaftlicher Verflechtung und - ganz entscheidend - von der Ausdifferenzierung eines kulturellen Systems, das Unterscheidungen legitimiert und interpretiert"[42].

Das Konzept von Männlichkeit und Weiblichkeit für den Zeitraum des späten 19. Jahrhundert basiert auf einer Teilung der Lebensräume: "Dem Mann der Staat, der Frau die Familie"[43].

Im Bereich 'öffentlicher außerhäuslicher Tätigkeit'[44] erfüllte der Ehemann seine Rolle als "Ernährer und Beschützer der Familie"[45]. Mit der allgemeinen Wehrpflicht und dem erfolgreichen Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wurde auch das 'Ideal des patriotisch-wehrhaften Bürgerhelden' in das hegemoniale Männlichkeitskonzept im Laufe des 19. Jahrhundert zunehmend integriert[46]. Zu den Aufgaben der Frau zählten im 'privaten innerhäuslichen' Bereich vor allem die Kindererziehung und die Führung des Haushalts[47], weil "ihre biologische Fähigkeit, Kinder gebären und stillen zu können, sie dafür zu prädestinieren schien"[48]. Die "Dominanz des Mannes in der Gesellschaft"[49] im Vergleich zur Frau war eindeutig, weswegen er ihren "ideellen Rang und die soziale Position"[50] bestimmte.

Außerdem wurden sowohl Männern als auch Frauen, ausgehend von der Annahme, die 'Natur' habe die Geschlechter polarisierend erschaffen, spezifische Charaktereigenschaften zugeteilt. Der Mann galt als aktiv, die Frau als Passiv. Der Mann war stark und kühn, während die Frau schwach sein musste. Der männliche Geist arbeitete rational und frei, die von ihm abhängige Frau galt als emotionales Wesen[51]. Und beide galten grundsätzlich als "in ihren Geschlechtseigentümlichkeiten unveränderliche Wesen"[52]. Ihre Differenz, die als naturgegeben angesehen wurde, stellte "eines der wichtigsten Erkennungs- und Distinktionszeichen [dar], mit denen sich das Bürgertum des späten 18. und 19. Jahrhunderts von anderen sozialen Klassen und Schichten zu unterscheiden suchte"[53].

Die Zeit um 1900 ist in vielen Bereichen allerdings als eine Zeit des Umbruchs anzusehen. Die im frühen 19. Jahrhundert eintretende Industrialisierung ermöglicht den Frauen den Eintritt ins Erwerbsleben, wodurch sich ihr Wirkungskreis aus dem ursprünglich ausschließlich familiären Bereich erweitert[54]. Eine junge Generation lehnt sich gegen "die tradierte öffentliche und private Moral der Vätergeneration"[55] auf, was Georgette Boner als eine "Tradition der Traditionsverneinung"[56] bezeichnet. Als wesentliche Merkmale der Zeit treffen "Zukunftsangst, Endzeitgefühl und Weltschmerz"[57] auf "Aufbruchsstimmung und Euphorie"[58].

Die industriell und kulturell eintretenden Veränderungen wirkten sich auf diese Ordnung von bürgerlichen Geschlechterbeziehungen und ihre Berufs- und Familienstruktur aus. Die neue Beteiligung der Frauen am gesellschaftlichen Leben verschiebt die etablierten Konzepte und öffnet einen Diskurs für ihre Neubestimmung. Die geteilte Geschlechterordnung kann zwar als etabliert angesehen werden, ist aber nicht gleichzusetzen mit einen endgültigen Ende der Geschlechterdebatte[59]. Stattdessen kamen immer mehr Forderungen nach gleichwertigen Rechten, wie beispielsweise besseren Bildungschancen und dem Wahlrecht, für Frauen im Zuge der 'bürgerlichen Gleichheit- und Freiheitsdebatte'[60] auf.

In der liberalen Aufbruchsphase der 1860er Jahre dominierte ein egalitäres Konzept weiblicher Befreiung als Emanzipationsmodell. Mit dem Argument, "sozialer Fortschritt und Liberalisierung der Gesellschaft seien auf die Dauer nur zu garantieren, wenn alle gesellschaftlichen Gruppen - also auch die Frauen - daran beteiligt wären"[61], forderten die Vertreter dieses Modells das 'Recht auf Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung'[62] für bürgerliche Frauen in der Arbeitswelt der Männer ein. Die Freiheit zur Erwerbstätigkeit sollte dabei mit der Grundlage der Selbsthilfe nicht nur "die beschränkten Berufsaussichten, die kärglichen Verdienstmöglichkeiten und demütigenden Lebensbedingungen"[63] von Frauen aller Stände verbessern, sondern einen gesellschaftlichen Ort für die Frau außerhalb des Familienlebens schaffen, in dem das weibliche Individuum eine 'persönliche Emanzipation' erfahren kann[64].

In den 1870er Jahren kam das Emanzipationsmodell der 'geistigen Mütterlichkeit' den Weiblichkeitsvorstellungen der männlichen Zeitgenossen etwas mehr entgegen als das vorangegangene, sprengte aber dennoch partiell den Rahmen des bürgerlich-männlichen Politikverständnisses[65]. Dieses sollte eine "Anpassung des Frauenbildungsniveaus an männliche Standards, ohne die Eigenart des 'weiblichen Wesens' zu gefährden"[66] ermöglichen, sowie die "mit dem Begriff 'Weiblichkeit' assoziierten Attribute der Passivität durch die stärkere Betonung des Aspekts des Dienens und der Pflichterfüllung"[67] verdrängen. Die Definition der Frau durch ihre Rolle in der Familie sollte aufrecht erhalten werden, ohne ihre Funktion nur auf den familiären Kontext zu beschränken, da ihre 'natürliche' Mütterlichkeit sie dazu bestimmte, als eine 'Volksmutter' auch "soziale Verantwortung in der von männlicher Realpolitik einseitig geprägten Gesellschaft"[68] zu tragen.

In der Diskussion um Rechtsgleichheit wurde auch das Konzept der Ehe zunehmend öffentlich kritisiert. Bei der Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuchs 1896 drückten neben weiblichen Unterstützern der Frauenbewegung auch engagierte Sozialisten und Sozialistinnen, Ärzte, Sexualwissenschaftler und Paare selbst ihre Empörung aus[69]. Dieses besagte:

"Frauen und Mütter wurden weiterhin bevormundet, die Machtlosigkeit von Ehefrauen über ihr Vermögen und über ihre Kinder hatte sich nicht geändert, nicht eheliche Kinder waren weiterhin nicht mit den ehelichen gleichgestellt und die Einschränkung der Scheidungsgründe erweiterte nicht die Scheidungsmöglichkeiten, sondern verringerte sie."[70]

Unter dem Stichwort 'Geschlechterkonflikt' trafen traditionalistisches Gedankengut der männlich dominierten Gesellschaft und die Emanzipationsbestrebungen der Frauenbewegung mit der Unterstützung sozialistischer Gruppen aufeinander.

[...]


[1] Eine detaillierte Darstellung der wichtigsten Lebensstationen von Henrik Ibsen findet sich etwa in: Bjorn Hemmer: Ibsen. Handbuch. München: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 17-29.

[2] vgl. Hemmer: Ibsen. S. 17.

[3] Dieses Werk wird hier und nachfolgend nach der Ausgabe Henrik Ibsen: Nora oder Ein Puppenheim. Stuttgart: Reclam 1959. zitiert und mit dem Kürzel 'N' versehen.

[4] vgl. N: S. 87.

[5] N: S. 87.

[6] vgl. N: S. 77.

[7] Dieses Werk wird hier und nachfolgend nach der Ausgabe Elfriede Jelinek: Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft. In: Nyssen, Ute; Friedrich, Regine (Hrsg): Elfriede Jelinek: Theaterstücke. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1992. S. 7-78. zitiert und mit dem Kürzel 'J' versehen.

[8] vgl. N: S. 1.

[9] Sander, Margarete: Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek. das Beispiel "Totenauberg". Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 60.

[10] vgl. Sander: Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek, S. 60.

[11] Sander: Textherstellungsverfahren bei Elfriede Jelinek, S. 60.

[12] Ursula Bock: Die Frau hinter dem Spiegel. Weiblichkeitsbilder im deutschsprachigen Drama der Moderne. Berlin: Lit Verlag 2011, S. 327.

[13] vgl. N: S. 3.

[14] vgl. N: S. 86.

[15] Giesler, Birte: Formen und Funktion von Spiel und Ritual in Igor Bauersimas futur de luxe. In: Anz, Thomas; Klauen, Heinrich (Hrsg.): Literatur als Spiel. evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin: Walter de Gruyter 2009, S. 391.

[16] Ebd.

[17] vgl. Giesler: Formen und Funktion von Spiel und Ritual, S. 391.

[18] Lou Andreas-Salomé: Henrik Ibsens Frauengestalten. Psychologische Bilder nach seinen sechs Familiendramen. Taching am See: MedienEdition Welsch 2012, S. 35.

[19] vgl. N: S. 81.

[20] N: S. 7.

[21] N: S. 19-20.

[22] vgl. N: S. 25-26.

[23] vgl. N: S. 27.

[24] N: S. 6.

[25] N: S. 16-17.

[26] vgl. N: S. 15.

[27] N: S. 32.

[28] N: S. 21.

[29] N: S. 48.

[30] N: S. 61.

[31] N: S. 26.

[32] N: S. 15.

[33] N: S. 41.

[34] N: S. 13.

[35] N: S. 52.

[36] Andreas-Salomé: Henrik Ibsens Frauengestalten, S. 22.

[37] N: S. 81.

[38] Andreas-Salomé: Henrik Ibsens Frauengestalten, S. 22.

[39] Ebd..

[40] Ute Frevert: 'Mann und Weib, und Weib und Mann'. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München: C.H.Beck 1995, S. 8.

[41] Ebd.

[42] Frevert: Mann und Weib, S. 9.

[43] Art. Frauenfrage, In: Meyers Konversationslexikon, Bd. 6, Mannheim 1894, S. 822. ; vgl. Frevert: Mann und Weib, S. 39.

[44] vgl. Marion Gerards: Frauenliebe - Männerliebe. Die Musik von Johannes Brahms und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010, S. 30.

[45] Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 30.

[46] vgl. Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 34.

[47] vgl. Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 30.

[48] Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 34.

[49] Nike Wagner: Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 12.

[50] Wagner: Geist und Geschlecht, S. 12.

[51] vgl. Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 30.

[52] Frevert: Mann und Weib, S. 56.

[53] Frevert: Mann und Weib, S. 141.

[54] vgl. Nike Wagner: Geist und Geschlecht, S. 13.

[55] Franz X. Eder: 'Diese Theorie ist sehr delikat...'. Zur Sexualisierung der 'Wiener Moderne'. In: Nautz, Jürgen; Vahrenkamp, Richard (Hrsg.): Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1993, S. 162.

[56] Georgette Boner: Arthur Schnitzlers Frauengestalten. Diss. Zürich: Wienterthur 1930, S. 5.

[57] Susanne Mildner: Konstruktionen der Femme fatale. Die Lulu-Figur bei Wedekind und Pabst. Frankfurt am Main: Peter Lang 2007, S. 25.

[58] Ebd.

[59] vgl. Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 36.

[60] vgl. Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 36.

[61] Herrad U. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung und männliches Bildungsbürgertum 1860-1880. In: Frevert, Ute: Bürgerinnen und Bürger. Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 197.

[62] vgl. Gerards: Frauenliebe - Männerliebe, S. 36.

[63] Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 191.

[64] vgl. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 191.

[65] vgl. Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 190.

[66] Bussemer: Bürgerliche Frauenbewegung, S. 200.

[67] Ebd.

[68] Ebd.

[69] vgl. Edith Saurer: Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2014, S. 135.

[70] Saurer: Liebe und Arbeit, S. 135.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert am Beispiel von "Nora" oder "Ein Puppenheim"
Hochschule
Universität des Saarlandes  (Germanistik)
Veranstaltung
Gendertheorie in der literaturwissenschaftlichen Praxis
Note
2,3
Autor
Jahr
2015
Seiten
27
Katalognummer
V370057
ISBN (eBook)
9783668477438
ISBN (Buch)
9783668477445
Dateigröße
637 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
nora, Henrik Ibsen, nora oder ein puppenheim, puppenheim, gender, geschlechterverhältnisse, 19. Jahrhundert, Frauentypen, Geschlechterdynamik, Spiel im Spiel, elfriede jelinek
Arbeit zitieren
BA Jenny Spanier (Autor:in), 2015, Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert am Beispiel von "Nora" oder "Ein Puppenheim", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370057

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