Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problembeschreibung / Relevanz des Themas
1.2 Begründung des theoretischen Rahmens / der Methodik
1.3 Aufbau der Arbeit / Vorgehensweise
2. Vorstellung des theoretischen Rahmens und der Prüfkriterien
2.1 Einordnung der These von Obinger/Starke
2.2 Sozioökonomische Theorieschule
2.3 Parteiendifferenztheorie
2.4 Ableitung der Kriterien/Variablen
3. Der Sozialstaat in der Krise - Probleme und Herausforderungen in der post-industriellen Gesellschaft
3.1 Problemlagen in Deutschland Anfang der 2000er-Jahre
3.1.1 Demografischer Wandel
3.1.2 Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen
3.1.3 Reformbedürftigkeit des Arbeitsmarktes / des Sozialsystems
3.1.4 Folgen der Globalisierung
3.2 Zentrale Akteure/Institutionen in Deutschland
3.2.1 Zentrale Akteure/Institutionen in der Arbeitsmarktpolitik
3.2.2 Zentrale Akteure/Institutionen in der Familienpolitik
4. Der Sozialstaat im Wandel – vom fürsorgenden zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat
4.1 Staatstätigkeit in der Arbeitsmarktpolitik
4.1.1 Anwendung der Sozioökonomischen Theorieschule
4.1.2 Anwendung der Parteidifferenztheorie
4.2 Staatstätigkeit in der Familienpolitik
4.2.1 Anwendung der Sozioökonomischen Theorieschule
4.2.2 Anwendung der Parteidifferenztheorie
5. Schluss / Zusammenfassung der Ergebnisse
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Problembeschreibung / Relevanz des Themas
Die Hausarbeit beschäftigt sich mit dem wissenschaftlichen Feld der Wohlfahrtsstaatsforschung in Deutschland. Im Mittelpunkt der Arbeit steht dabei die Analyse der Staatstätigkeit in der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik in den 2000er Jahren. Politische und gesellschaftliche Probleme, wie der demografische Wandel, veränderte soziokulturelle Rahmenbedingungen sowie hohe Arbeitslosigkeit, ließen gerade konservative Wohlfahrtsstaaten ab Ende der 1990er Jahre zu liberalen politischen Instrumenten greifen. Dabei geht es vor allem um die Frage, inwieweit der Sozialstaat durch die politischen Maßnahmen der Bundesregierung umgestaltet wurde. Die sozialpolitische Staatstätigkeit sollte zu einer besseren sozialen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands führen.
Bei der Analyse der Ursachen für die Staatstätigkeit sollen zudem mögliche Einflüsse verschiedener parteipolitischer Ideologien auf die Politikergebnisse der Regierung untersucht werden.
Die politikfeldanalytische Fragestellung lautet: Inwieweit kam es im deutschen Wohlfahrtsstaat, sowohl in der Arbeitsmarkt- als auch in der Familienpolitik, zu einem Wandel, wobei im Feld der Arbeitsmarktpolitik zunehmend eine angebotsorientierte Politik betrieben wird, während sich in der Familienpolitik eine Ausweitung der Sozialausgaben feststellen lässt?
Das Untersuchungsinteresse ergibt sich aus der Tatsache, dass eine (deutliche) Änderung der Wohlfahrtskultur in gewissen Politikfeldern Auswirkungen auf alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland hat. Die in dieser Hausarbeit zu untersuchenden Reformen, u.a. die „Agenda 2010“, haben die Arbeitsmarkt- und Familienpolitik deutlich und nachhaltig verändert.
Die politikwissenschaftlich-politikfeldanalytische Relevanz des Themas und der Fragestellung besteht darin, dass hier am Beispiel der Reformen im Bereich der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik untersucht werden soll, welche sozioökonomischen, gesellschaftlichen oder partei-ideologischen Voraussetzungen dazu geführt haben, dass Maßnahmen von der Politik ergriffen wurden, um die vielfältigen politischen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen.
1.2 Begründung des theoretischen Rahmens / der Methodik
Mit Blick auf den theoretischen Zugang fiel die Wahl auf die sozioökonomische Theorieschule und die Parteiendifferenztheorie. Dadurch kann die Fragestellung aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln analysiert werden. Während die sozioökonomische Theorie bei der Frage nach den Ursachen für Staatstätigkeit auf die Existenz bestimmter gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Problemlagen sowie ausgewählter sozialer und ökonomischer Kennzahlen abstellt, nimmt die Parteiendifferenztheorie die politischen und gesellschaftlichen Akteure ins Blickfeld der Untersuchung. Aus der Perspektive dieser Theorie spielt die parteipolitische Zusammensetzung eine große Rolle für die Staatstätigkeit einer Regierung. Die inhaltlich differierenden Parteien würden ihre Policies an den Erwartungen ihrer Wählerschaft ausrichten. Neuere Ansätze weisen zudem auf die Bedeutung institutioneller und politischer Rahmenbedingungen für das Regierungshandeln hin (vgl. Reiter 2011: 29; vgl. Kiesow 2015: 29-31).
Die vorliegende Hausarbeit wird als Einzelfallstudie konzipiert und hat sich auf Basis einer empirisch-analytischen Fragestellung zum Ziel gesetzt, die Veränderungen des Wohlfahrtsstaates in den ausgewählten Politikfeldern zu untersuchen. Da sowohl individuelles politisches Verhalten und politische Einstellungen als auch politisch-institutionelle, verfassungsmäßige und sozioökonomische Rahmenbedingungen sowie die in den politischen Prozessen eingebundenen Parteien im Fokus der Analyse stehen, kann die Arbeit auf der Mikro- ebenso wie auf der Makroebene verortet werden.
Die zu verwendenden Daten werden sowohl quantitativ als auch qualitativ gewonnen. Quantitative Statistiken liefert zum Beispiel die OECD oder das Statistische Bundesamt. Darüber hinaus wird das empirische Material über diverse Fachliteratur, Artikel aus Fachzeitschriften sowie die qualitative Inhaltsanalyse von Texten und Dokumenten gewonnen.
1.3 Aufbau der Arbeit / Vorgehensweise
Ziel der Hausarbeit ist es zu analysieren, inwieweit sich der Wohlfahrtsstaat in Deutschland in jüngerer Vergangenheit von einem konservativen zu einem liberalen Wohlfahrtstypus gewandelt hat sowie eine Beurteilung, ob die These vom Wandel zu einer angebotsorientierten Politik („supply-side welfare state“-These) für Deutschland zutrifft. Als abhängige Variable gelten hierbei die zu erklärenden, angenommenen Veränderungen in den Regelungsfeldern Arbeitsmarkt- und Familienpolitik. Die Messung der Veränderungen erfolgt über den Grad an Kommodifizierung, den Grad an Stratifizierung sowie den Grad an De-Familialisierung. Kommodifizierung beschreibt den Grad der Befreiung des einzelnen Individuums von der Tatsache, seine Arbeitskraft als Ware auf dem Markt anbieten zu müssen (vgl. Eichler 2011: 13). Er wird über die Lohnersatzrate sowie über die Zugangsrestriktionen, Dauer und Höhe von Sozialleistungen gemessen. Mit Stratifizierung ist die Schichtung der Gesellschaft gemeint (vgl. Eichler 2011: 15). Diese wird über das Verhältnis von Normalarbeits- zu Niedriglohnarbeitsverhältnissen ermittelt. De-Familisierung drückt schließlich aus, inwiefern vor allem die Frau innerhalb der Familie über andere Personen (im konservativen Wohlfahrtsregime ist dies der Mann als „breadwinner“) finanziell abgesichert ist (vgl. Loer u. Reiter 2016: 11). Der Begriff wird in unterschiedlichen Dimensionen verwendet und erhoben. Für diese Hausarbeit wird dieses Merkmal in erster Linie über die Erwerbstätigkeit der Frauen gemessen.
In Kapitel 2 erfolgt zunächst eine Einordnung der These von Obinger und Starke in Bezug auf die Situation in Deutschland. Danach werden, mit der sozioökonomischen Theorieschule und der Parteiendifferenztheorie, die beiden theoretischen Konzepte vorgestellt. Aus den theoretischen Konzepten leiten sich abschließend die für das Analysekapitel nötigen Prüfkriterien bzw. die unabhängigen Variablen ab.
Kapitel 3 thematisiert, neben der systematischen Darstellung der Problemlagen in Deutschland (Beschreibung der abhängigen Variable), auch zentrale Akteure und Institutionen als Basisinformationen zum Thema.
in Kapitel 4 findet die eigentliche Analyse mit Blick auf die Fragestellung statt (Untersuchung der unabhängigen Variablen, die aus den Theorien abgeleitet wurden). Dabei wird im jeweiligen Politikfeld zunächst die sozioökonomische Theorieschule und im Abschluss daran die Parteiendifferenzhypothese angewandt. Schließlich erfolgt ein Überblick über sämtliche Veränderungen in beiden Politikfeldern.
2. Vorstellung des theoretischen Rahmens und der Prüfkriterien
2.1 Einordnung der These von Obinger/Starke
Herbert Obinger und Peter Starke haben in ihrer Forschungsarbeit mit dem Titel „Welfare State Transformation: Convergence and the Rise of the Supply Side Model“ herausgefunden, dass der Wohlfahrtsstaat in den Mitgliedsstaaten der OECD insgesamt nicht auf dem Rückzug sei und auch von einer Stagnation nicht die Rede sein könne (vgl. Obinger/Starke 2014: 18). Die Staaten hätten sich, im Zuge neuer Herausforderungen wie der steigenden Arbeitslosigkeit, dem demografischen Wandel oder der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen, jedoch immer stärker zu marktkonformen und ermöglichenden Wohlfahrtsstaaten entwickelt (vgl. ebd.: 9).
In der Arbeitsmarktpolitik zeigte sich dieser Wandel durch das Aktivierungsparadigma. Hiermit sollte die Arbeitslosigkeit gesenkt und auch schwer vermittelbare Menschen in Arbeit gebracht werden. Zu den Reformmaßnahmen zählten Einschnitte bei der Leistungsgewährung, mehr Eigenverantwortung bei der Jobsuche und der Teilnahme an speziellen Programmen sowie Qualifizierungen für Arbeitslose (vgl. ebd.: 15f.).
Die Familienpolitik hat in allen OECD-Staaten an Bedeutung gewonnen. Die Schwerpunkte liegen hierbei auf einer besseren Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, einer Erhöhung der Erwerbstätigenquote von Müttern sowie einer besseren frühkindlichen Förderung (vgl. ebd.: 16f.).
Die beiden Wissenschaftler nutzen die Bezeichnung des „angebotsorientierten Wohlfahrtsstaates“, um alle Feinheiten der wohlfahrtsstaatlichen Transformation zu beschreiben. Unter diesem Oberbegriff subsumieren sie dabei die Begriffe „Aktivierung“, „Beschäftigungsfähigkeit“ sowie die Investition in das soziale Kapital, also den Menschen. Zudem betonen Obinger und Starke die wachsende Bedeutung von Förderanreizen, welche allerdings wiederum marktkonform sein müssten (vgl. ebd.: 19f.)
Mit Blick auf Deutschland kann die von Herbert Obinger und Peter Starke analysierte Transformation des Wohlfahrtsstaates, in Richtung einer immer stärkeren Ausrichtung am Markt, bestätigt werden.
Im Zuge der sogenannten „Hartz-Reformen“ kam es zu einem weitreichenden Umbau der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Der eingeschlagene Wandel, von einem fürsorgenden zu einem aktivierenden Wohlfahrtsstaat, lässt sich grob in zwei Kategorien einteilen: Durch Instrumente der Flexibilisierung und Subvention wurde erstens die Zeitarbeit und der Sektor der Minijobs massiv ausgeweitet. Zweitens erhöhte die Politik durch eine deutlich restriktivere und kürzere Leistungsgewährung den Druck auf Arbeitslose eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen (vgl. Broschinski 2013: 9-11).
Im Gegensatz dazu lässt sich im Bereich der Familienpolitik, in jüngerer Vergangenheit, eine Ausweitung der Investitionen feststellen. Die Einführung eines Elterngeldes als Lohnzusatzleistung oder der massive Ausbau des Betreuungsangebotes für Kinder seien hier exemplarisch genannt (vgl. Gerlach 2009).
2.2 Sozioökonomische Theorieschule
Eine Kernnahme der sozioökonomischen Theorieschule definiert das Tätigwerden des Staates als eine „Reaktion auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen und auf hierin wurzelnde Funktionsprobleme politischer Gemeinwesen“ (Schmidt/Ostheim 2007: 29). Demnach stehe Staatstätigkeit im Zusammenhang mit der Existenz bestimmter sozialer und ökonomischer Kennzahlen (vgl. Reiter 2011: 29). Während die klassischen Vertreter dieser Theorieschule staatliches Handeln hauptsächlich durch die genannten Rahmengrößen determiniert sehen, beziehen jüngere Arbeiten auch weitere Faktoren wie den demografischen Wandel, parteipolitische Positionen oder institutionelle Strukturen als mögliche Einflüsse auf Staatstätigkeit mit in ihre Untersuchungen ein (vgl. ebd.: 29f.). Laut dem deutschen Nationalökonomen Adolph Wagner nehmen das Handlungsfeld und die Ausgabenquote des Staates mit fortschreitender technischer und wirtschaftlicher Entwicklung stetig zu. Der Staat entwickle sich hierbei „vom reinen Ordnungs- und Rechtsstaat zum Wohlfahrtsstaat“ (ebd.: 30).
Der amerikanische Organisationssoziologe Harold L. Wilensky fand heraus, dass neben dem sozioökonomischen Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft auch der Faktor „Alter“ eine bedeutende Rahmenbedingung für staatliches Handeln im Wohlfahrtsstaat darstellt. (vgl. ebd.: 30). Dabei spielt die Altersstruktur sowohl im Bezug auf das Sozialsystem als auch hinsichtlich der Bevölkerung eine die öffentlichen Ausgaben beeinflussende Rolle (vgl. ebd.: 30f.). Wilensky brachte mit dem Aspekt der „institutionellen Trägheit“ von Sozialsystemen und der Hervorhebung des Faktors demografischer Wandel/gesellschaftliche Alterung wichtige neue Erkenntnisse in die wohlfahrtsstaatliche Policy-Forschung ein (vgl. ebd.: 31).
Der Interessenfokus der Vertreter dieser Theorie hat sich derweil verschoben. Ging es früher um den Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen des Staates, liegt das Hauptaugenmerk heute auf bewahrenden oder sogar reduzierenden staatlichen Aktivitäten. Zudem ist, neben den wirtschaftlichen und sozialen Aspekten, mit der finanziellen Situation eines Landes eine weitere Einflussgröße hinzugekommen (vgl. ebd.: 31f.). Um die vorhandenen Schwächen der sozioökonomischen Theorieschule in der Politics- und Polity-Dimension auszugleichen, wird darüber hinaus die Parteiendifferenztheorie in der Analyse verwendet.
2.3 Parteiendifferenztheorie
Unabhängig von der jeweiligen Ausprägung liegt der Parteiendifferenztheorie folgende Annahme zugrunde: „Die parteipolitische Färbung von Legislative und Exekutive macht einen Unterschied in der Politik, und zwar in der Politikproduktion ('policy output') ebenso wie bei den letztendlichen Resultaten der Staatstätigkeit ('policy outcome')“ (Schmidt/Ostheim 2007: 51). Im Folgenden werden nun die verschiedenen Ausprägungen dieser Theorie vorgestellt.
Die erste Variante prägen dabei Douglas A. Hibbs und Edward Tufte. Beide stellen einen Zusammenhang zwischen der parteipolitischen Position einer Regierung und deren Wirtschaftspolitik her. Zudem orientierten sich, nach Ansicht der Wissenschaftler, die Parteien bei den Inhalten ihrer Politik an den Interessen der aktuellen und potenziellen Wählerschaften, um ihre Macht möglichst lange zu sichern. Hibbs und Tufte stimmen zudem drittens überein, dass ärmere Menschen linke Parteien favorisieren, während reichere Bürger eher zu rechts-liberalen oder rechts-konservative Parteien tendieren (vgl. Kiesow 2015: 29-31).
Tufte geht jedoch in zwei Punkten über die Theorie von Hibbs hinaus. Parteiendifferenzen verlieren demnach an Einfluss, sobald ein bedeutsames wirtschaftliches Problem vorliegt bzw. die nächste Wahl nicht mehr allzu fern ist (vgl. ebd.: 31f.).
Alexander M. Hicks und Duane H. Swank enwickelten die ursprüngliche Variante der Parteiendifferenztheorie weiter und bezogen erstmals auch die Rahmenbedingungen für Staatstätigkeit in ihre Untersuchungen mit ein (vgl. ebd.: 33). Als konkrete Beispiele nannten sie „sozioökonomische Faktoren (…) staatliche administrative Institutionen, aber auch Interessenverbände, die Regierungen in ihrer Handlungsfähigkeit beschränkten“ (ebd.). Als weiterere „begrenzende Faktoren“ seien zusätzlich die Parteien in der Opposition sowie etwaige kleine Koalitionspartner zu beachten (vgl. ebd.).
Hicks und Swank entdeckten in ihren Untersuchungen der wohlfahrtsstaatlichen Politik sogenannte „Ansteckungseffekte“ auf Seiten der Parteien. Die Beeinflussung könne dabei sowohl von Oppositionsparteien als auch von kleineren Regierungsparteien erfolgen. Die Grundannahme ist, dass linke Parteien, unter gleichen Regierungsbedingungen, mehr wohlfahrtsstaatliche Initiative zeigen als ihre ideologischen Gegenspieler. Rechte Regierungsparteien würden, in Folge einer „Ansteckung“, demnach ihre Ausgaben für Sozialleistungen erhöhen, wobei umgekehrt linke Regierungen in ihren Anstrengungen für den Wohlfahrtsstaat gebremst würden (vgl. Schmidt/Ostheim 2007: 54).
Zur weiteren Ausdifferenzierung der Parteiendifferenztheorie hat ebenfalls Carles Boix beigetragen. Boix stellte in seinen Untersuchungen fest, dass jegliche politische Regierung stets das Ziel eines möglichst hohen Wirtschaftswachstums habe (vgl. Kiesow 2015: 34). Der Weg dorthin könnte allerdings unterschiedlicher nicht sein: Während sozialdemokratische Parteien „eine interventionistische Politik bevorzugten“, setzten konservative Regierungen auf „einen ungehinderten Wettbewerb und einen störungsfrei funktionieren Marktmechanismus“ (ebd.).
Schließlich sind noch Reimut Zohlnhöfer und Manfred G. Schmidt zu nennen. Diese arbeiteten vier Rahmenbedingungen heraus, unter denen Regierungen ihre Vorstellungen am besten durchsetzen können: eine ideologische Einigkeit innerhalb der Koalition, Unterstützung der Regierung durch die Mehrheit der Bevölkerung, eine große Mehrheit der Regierung im Parlament sowie eine geringe Anzahl an potenziellen Vetospielern (vgl. ebd.: 35).
2.4 Ableitung der Kriterien/Variablen
Aus den theoretischen Konzepten werden wiederum die folgenden unabhängigen Variablen abgeleitet. Aus der sozioökonomischen Theorieschule leiten sich für den ökonomischen Bereich ab: Wirtschaftswachstum, Haushaltsdefizit, Arbeitslosenquote, Lohnnebenkosten, Anteil an Beschäftigten im Niedriglohnsektor bzw. in atypischen Beschäftigungsverhältnissen, Ausgaben für Arbeitslosigkeit, Ausgaben für familienpolitische Leistungen (Geld- und Infrastrukturleistungen). Für den gesellschaftlichen Bereich werden abgeleitet: Demografischer Wandel, Geburtenrate, Betreuungsangebot, Veränderte gesellschaftliche Lebensweise. Politisch-institutionelle Einflüsse und Rahmenbedingungen ergeben sich schließlich aus der Parteiendifferenztheorie: Parteipolitische Zusammensetzung und Machtbasis der Regierung, Ideologische Einigkeit der Regierungsparteien, Staatlich-institutionelle Ausgestaltung (Föderalistische Struktur, Opposition).
3. Der Sozialstaat in der Krise - Probleme und Herausforderungen in der post-industriellen Gesellschaft
3.1 Problemlagen in Deutschland Anfang der 2000er-Jahre
3.1.1 Demografischer Wandel
Der demografische Wandel wird die Gesellschaft nachhaltig verändern. Im Wesentlichen lassen sich derzeit vier Entwicklungen feststellen: Zunächst steht der seit langer Zeit auf niedrigem Niveau verharrenden Geburtenrate eine immer höhere Lebenserwartung der Menschen gegenüber. Eine zahlenmäßig kleinere Bevölkerung wird zweitens zu einer geringeren Bevölkerungsdichte führen, wobei es hier starken regionalen Unterschieden kommen könnte (vgl. Schmid 2012). Drittens nimmt die ungleiche Verteilung der Altersstruktur immer stärker zu. Den Zahlen des Statistischen Bundesamtes lässt sich entnehmen, dass der Bevölkerungsanteil der 1-18-Jährigen konstant abnimmt, für die Altersgruppen ab 40 Jahre aufwärts jedoch ein kontinuierlicher Anstieg zu verzeichnen ist. (vgl. ebd.; vgl. Statistisches Bundesamt 2017a). Dies hat viertens zur Folge, dass das durchschnittliche Alter sowohl der erwerbsfähigen Bevölkerung als auch der Gesamtbevölkerung stetig und deutlich zunehmen (vgl. Schmid 2012).
Die gesellschaftliche Alterung „dürfte tiefgreifende gesamtwirtschaftliche Veränderungen auslösen und die Institutionen der sozialen Sicherung vor große Herausforderungen stellen“ (Kallweit/Weigert 2016: 218). Immer weniger Einzahlungen in die Sozialversicherungen auf der einen Seite und immer mehr Rentenbezieher auf der anderen Seite lassen den „Generationenvertrag“ brüchig werden und führen zu Konflikten zwischen Jungen und Alten (vgl. Schmid 2012).
Auch der Arbeitsmarkt ist betroffen. Die Arbeitskräfte werden nicht nur älter, sondern die Zahl der erwerbsfähigen Menschen geht auch deutlich zurück. Sind es aktuell noch ungefähr 50 Millionen, könnten sich die Zahl bis ins Jahr 2060 auf 36 Millionen reduzieren (vgl. Hradil 2012).
Im Gesundheitssystem kommt es, bei immer geringeren Beitragseinnahmen, zu kontinuierlich wachsenden Ausgaben durch mehr pflegebedürftige Personen in Folge der höheren Lebenserwartungen der Menschen (vgl. Schmid 2012).
Sämtliche angesprochene Veränderungen münden in ein dauerhaft abgeschwächtes Wirtschaftswachstum sowie eine stärkere Belastung der arbeitenden Bevölkerung durch höhere Steuern und Sozialabgaben (vgl. Kallweit/Weigert 2015: 218).
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