Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Unzuverlässiges Erzählen im Film
2.1 Eine Definition
2.2 Signale unzuverlässigen Erzählens
3. Unzuverlässiges Erzählen in Gone Girl
3.1 Falsifizierte Analepsen
3.2 Unzuverlässiges voice-over
3.3 Die Täterin in der Opferrolle
4. Schlussfolgerung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Have you ever gone to a film showing and, as the end titles roll, heard from the hostile audience in different parts of the hall not only catcalls but the shouted word “cheat“? Obviously there is something here greater than mere disappointment. To claim that a film cheats is to imply that there is a tacit narrative contract between the film and the viewer, and that the film in some way breaches that contract. (Richter 2005: 11)
Mit einer solchen Form des Betrugs und zwar dem unzuverlässigen Erzählen im Film beschäftigt sich die vorliegende Arbeit. Im Fokus steht hierbei der Film Gone Girl von David Fincher aus dem Jahre 2014.
Unzuverlässiges Erzählen ist eine sehr populäre Art und Weise des filmischen Erzählens, welche in immer mehr Filmen vorkommt, weshalb sie zunehmend an Bedeutung gewinnt. Um einen generellen Einblick darüber zu verschaffen, worum es sich hierbei konkret handelt, soll im Rahmen dieser Arbeit zunächst der Versuch einer Definition des unzuverlässigen Erzählens im Film gegeben werden.
Anschließend werden die filmischen Signale behandelt werden, durch welche ein derartiger Film vom Rezipienten als solcher erkannt werden kann. Schließlich setzt sich diese Arbeit zum Ziel, den Film Gone Girl zu analysieren und herauszufinden, inwiefern dieser unzuverlässig ist. Zu diesem Zweck werden die im Film vorkommenden falsifizierten Analepsen, das unzuverlässige voice-over sowie die Thematik der Opferrolle behandelt und näher betrachtet werden.
2. Unzuverlässiges Erzählen 2.1 Eine Definition
The concept of 'unreliable narration' is based on the interpreter's recognition of textual or normative inconsistencies. If we are presented with an internally consistent narrative account of a story and an (implied) interpretation of it that is in accordance with our own conceptions and expectations, we have no reason to mistrust the reliability of the narrative representation.
(Laas 2008: 25)
Das sogenannte unzuverlässige Erzählen ist nach Helbig bereits in den Stummfilmen zu finden, tritt allerdings erst ab 1990 auch in zahlreichen Filmen Hollywoods auf, während es dort bis dahin eher rar vertreten ist (vgl. Helbig 2005: 135). Für Schlickers ist das unzuverlässige Erzählen eine Subkategorie des verstörenden Erzählens und koexistent zu der „[paradoxalen], [...] [der] explizit [metafiktionalen] und [...] [der] [phantastischen] Erzählung“ (Schlickers 2015: 49). Im Kontrast zum literarischen Werk bedarf es im Film keiner Erzählerfiguren, um unzuverlässig zu erzählen (vgl. Schlickers 2015: 54). Erfolgt es jedoch durch eine Erzählerfigur, so kann diese, in der Literatur wie auch im Film, sowohl extra- als auch intradiegetisch sein (vgl. Schlickers 2015: 53). Die unzuverlässige Erzählung spielt mit der Wahrnehmung des Zuschauers, gibt vor die Geschehnisse aus einer objektiven Sichtweise zu erzählen, welche sich jedoch nach einer spät markierten Fokalisierung meist als subjektiv herausstellt (vgl. Schlickers 2015: 54). „Erst die markierte Öffnung von einer subjektiven hin zu einer neutralen Wahrnehmung des Geschehenen zeigt die Unzuverlässigkeit des vorher Geschehenen an und erzeugt beim Zuschauer eine Art >Aha-Effekt<“ (Poppe 2009: 71)
Auch Helbig ist der Meinung, dass „zahlreiche Fälle von Unzuverlässigkeit darauf beruhen, dass eine scheinbar unpersönliche Fokalisierung in Wahrheit figurengebunden ist.“ (Helbig 2005: 134) Er führt zudem an, dass man in Bezug auf unzuverlässiges Erzählen nicht nur zwischen persönlicher und unpersönlicher Fokalisierung differenzieren muss, sondern zudem die normativ-ideologischen Unzuverlässigkeit von der faktischmimetischen Unzuverlässigkeit abgrenzen muss (vgl. Helbig 2005: 134). Als normativideologisch wird hierbei die Tatsache bezeichnet, dass „sich die Aussagen eines Erzählers tendenziell nicht in Einklang mit den moralischen Normen des Textes befinden,“(Helbig 2005: 134) während bei der faktisch-mimetischen Unzuverlässigkeit „ein Sachverhalt falsch wiedergegeben wird“ (Ebd.), was in Form von durch die Fokalisierungsinstanz falsifizierten Bildern geschieht (vgl. Helbig 2005: 134). Außerdem spricht der Autor im Zusammenhang mit dem unzuverlässigen Erzählen von underreporting sowie von misreporting, da die Unzuverlässigkeit entweder durch Quantität oder durch Qualität zum Ausdruck kommen kann (vgl. Helbig 2005: 134-135). Nach Helbig „ist daher zwischen einer eingeschränkten Kommunikativität und einer eingeschränkten Authentizität der Fokalisierungsinstanz [zu] [differenzieren].“ (Helbig 2005: 135) Konkret bedeutet die eingeschränkte Kommunikativität die zwar vorhandene, jedoch unzureichende Darstellung von diegetischen Elementen, während mit der eingeschränkten Authentizität das Fehlen der gezeigten Elemente auf der Ebene der Diegese und damit eine falsche Darstellung der Realität gemeint ist. Die eingeschränkte Authentizität zeugt folglich von einem „mangelnden Wahrheitsgehalt der Informationen.“ (Helbig 2005: 135)
In der unzuverlässigen Erzählung wird der Kamera eine gewichtige Rolle zuteil, da sie auf der extradiegetischen Ebene durch Visualisierung und/ oder durch die Verknüpfung mit einem voice-over oder einer Off-Stimme mit der Figur konspiriert und damit die Wahrnehmung des Zuschauers lenken und manipulieren kann. So wird dem Rezipienten seine Täuschung erst durch einen twist bewusst, durch welchen er erfährt, dass die angebliche Konformität nur fingiert war (vgl. Schlickers 2015: 55). Nach Schlickers lässt sich die Komplexität des unzuverlässigen Erzählens im Film wie auch im Buch damit begründen, dass es sich auf zwei Ebenen abspielt, und zwar:
1.) aufEbene der erzählten / gezeigten Welt, wo auf Ebene des énoncé oder der énonciation falsche bzw. unzuverlässige Informationen über den Erzähler oder die ,Kamera‘ vermittelt werden; 2.) aufEbene der intratextuellen Instanzen, wo der implizite Autor den impliziten Leser bzw. den impliziten Zuschauer hinters Licht führt, wozu er eine Erzählerinstanz einsetzt, die falsche bzw. unzuverlässige Informationen vermittelt. (Schlickers 2015: 55)
Trotz der Komplexität dieses Phänomens, führt die Autorin sechs Charakteristika des unzuverlässigen Erzählens im Film an. Demzufolge findet die Täuschung des Rezipienten durch die Erzählinstanz auf extradiegetischer Ebene statt. Als weiteres Merkmal nennt Schlickers die Pointe, den sogenannten plot twist, durch welchen die erfolgte Irreführung aufgelöst wird. Dieser grenzt die unzuverlässige Erzählung, nach Meinung der Autorin, von der ambigen, der paradoxalen und der phantastischen Erzählung ab (vgl. Schlickers 2015: 55). Außerdem kann „[das] unzuverlässige Erzählen [...] auf Ebene des Erzählens (énonciation) und / oder des Erzählten {énoncé) stattfinden.“ (Schlickers 2015: 55) Auch lässt sich die Täuschung oftmals durch die unterschiedlichen Perspektiven im Film erkennen. So wird etwa die externe oder aber die Nullfokalisierung eingesetzt, welche sich zu einem späteren Zeitpunkt als interne Fokalisierung herausstellt. Es ist jedoch auch möglich, dass eine als intern ausgewiesene Fokalisierung zur Täuschung des Rezipienten dient. Ein weiteres Merkmal wird von Schlickers wie folgt beschrieben (vgl. Schlickers 2015: 55):
Der implizite Autor setzt die unzuverlässige Erzählung intentional ein, d.h. Fehler, Irrtümer bzw. goofs zählen nicht dazu. Da die unzuverlässige Erzählung an die intratextuelle Instanz des impliziten Autors gebunden ist, handelt es sich um ein internes textuelles Phänomen, daher werden extratextuelle Indizien in Form von Epitexten (Interviews, Trailer, Plakate etc.) ausgeschlossen. (Schlickers 2015: 55)
Erscheinen im Film also etwa Plakate, die in jedweder Form auf die Unzuverlässigkeit hinweisen könnten, so sind diese nicht intentional durch den impliziten Autor plaziert und nicht Teil der unzuverlässigen Erzählung. Schließlich bleibt zu erwähnen, dass das unzuverlässige Erzählen sich nicht in vollem Maße auf die Erzählung erstrecken muss, sondern durchaus auch nur in einzelnen Szenen oder Sequenzen Vorkommen kann (vgl. Schlickers 2015: 55-56). Somit kann man das unzuverlässige Erzählen als „ein narratives Verfahren [bezeichnen], das punktuell eingesetzt werden kann.“ (Schlickers 2015: 56) 2.2 Signale unzuverlässigen Erzählens Helbig nennt in seinem Werk mehrere Signale, die es dem Zuschauer ermöglichen, eine unzuverlässige Erzählung als solche zu erkennen. Als erstes Erkennungsmerkmal gibt er hier die Persönlichkeit des Erzählers an. Hat der Erzähler beispielsweise psychische Leiden wie etwa eine Schlafstörung, so kann dies das Misstrauen des Rezipienten wecken. Auch der Beruf sowie private Aktivitäten, können Ausschluss darüber geben, ob dem Erzähler grundsätzlich zu trauen ist oder nicht. Als weiteres Signal unzuverlässigen Erzählens führt der Autor die Aussagen des Erzählers an. Bezeichnet er zum Beispiel andere Personen als Lügner (vgl. Helbig 2005: 137) und „zieht eine ausdrückliche Parallele zwischen ihrem und seinem eigenen Verhalten“ (Helbig 2005: 137) wie etwa in Fight Club., so kann dies ein weiteres Indiz dafür sein, dass es sich nicht um eine gänzlich zuverlässige Erzählung handelt. Auch die Selbstreflexivität des Erzählers und sein Bewusstsein als Ich-Erzähler können dazu dienen, eine Erzählung als unzuverlässig zu entlarven. Kommentiert er beispielsweise mittels voice-over die Geschehnisse und spricht den Rezipienten direkt an, so können Zweifel an seiner Authentizität aufkommen (vgl. Helbig 2005: 137), da „[dies] [...] als Teil einer Strategie gewertet werden [kann], die es darauf anlegt, übliche Sehgewohnheiten zu unterlaufen.“ (Helbig 2005: 138) Des Weiteren nennt Helbig die Unterbrechungen der visuellen Authentizität (vgl. Helbig 2005: 138) So werden in unzuverlässigen Erzählungen zum Teil „kurze, scheinbar unpersönlich fokalisierte Handlungen gezeigt, die sich im Nachhinein als mentale Lokalisierungen des Erzählers herausstellen.“ (Helbig2005: 138)
Die genannten Signale weisen zwar auf eine unzuverlässige Erzählerfigur hin, markieren jedoch nicht explizit die Unzuverlässigkeit des gesamten Films (vgl. Helbig 2005: 139). Helbig konstatiert, dass „[um] Bilder ihrerseits als unzuverlässig zu entlarven, [...] ein vergleichbares Hierarchiegefälle vorliegen [muss], also eine Vergleichsfolie, die einen noch höheren Objektivitätsgrad beanspruchen kann als die Bilder des Films.“ (Helbig 2005: 140) Dies geschieht beispielshalber, wenn das allgemeine Weltwissen des Zuschauers und die „Perspektive der Fokalisierungsinstanz“ (Helbig 2005: 140) divergieren. Ein weiteres explizites Signal für eine unzuverlässige Erzählung können subliminale Bilder darstellen. Da diese von extremer Kürze sind, sind siejedoch nur mit äußerster Konzentration zu erkennen. Handelt es sich beispielsweise in einem Film bei zwei Charakteren um ein und dieselbe Person, kann es Vorkommen, dass über die Einstellung der einen Person, die jeweils andere Person für einen kurzen Augenblick eingeblendet wird, sodass diese Kongruenz deutlich gemacht wird (vgl. Helbig 2005: 141).
Da es sich bei diesen Markierungen zwar um explizite, aber sehr dezente Hinweise auf die Unzuverlässigkeit der Erzählung handelt, lässt „sich hier, etwas paradox, von verdeckten expliziten Markierungen sprechen [...]. Das Kriterium der Explizitheit [...] [der] [Signale] ist dabei also nicht deren Auffälligkeit, sondern deren Mangel an Ambivalenz.“ (Helbig 2005: 142)
Neben diesen expliziten Signalen existieren auch implizite Markierungen der unzuverlässigen Erzählung, wie zum Beispiel Veränderungen des Bewusstseinszustands. So kann jede Handlung, die eine Figur vollzieht und durch welche sie potentiell in einen anderen Bewusstseinszustand gelangt, ein Indiz für eine unzuverlässige Erzählung darstellen. So kann etwa das scheinbare Erwachen aus einem Traum, das in Wirklichkeit jedoch noch Bestandteil des Traumes ist oder aber Handlungen wie die Einnahme von Drogen dazu führen, dass der Rezipient die anschließende Erzählung als fingiert wahrnimmt (vgl. Helbig 2005: 142).
Auch ungewöhnliches Verhalten von Personen kann implizit auf eine unzuverlässige Erzählung hinweisen. Ein Beispiel hierfür ist das Nicht-Reagieren einer Figur auf eine andere. Wenn eine Figur etwa mit der anderen redet, diese sie aber nicht wahrzunehmen bzw. zu ignorieren scheint, kann das ein Hinweis darauf sein, dass der Gesprächspartner nicht existiert, sondern nur ein Konstrukt der Imagination der anderen Figur ist und somit eine mentale Fokalisierung vorliegt (vgl. Helbig 2005: 143). Schließlich kann die Intertextualität ein implizites Indiz für Unzuverlässigkeit darstellen. Damit ist der filmische Bezug auf Erzählungen gemeint, welche für ihre unzuverlässige Erzählweise bekannt sind wie etwa Alice im Wunderland (vgl. Ebd.).
Im folgenden Punkt soll nun betrachtet werden, wie sich die unzuverlässige Erzählung und die damit einhergehende Täuschung des Zuschauers in David Finchers Werk Gone Girl verhält.
3. Unzuverlässiges Erzählen in Gone Girl 3.1 Falsifizierte Analepsen
David Finchers Gone Girl aus dem Jahre 2014, der die Suche nach der verschwundenen Amy Dunne erzählt, stellt einen geeigneten Analysegegenstand für das unzuverlässige Erzählen im Film dar, da dem Zuschauer durch den, in der Mitte des Films gelegten plottwist., bewusst wird, dass er bis dorthin getäuscht wurde. Und zwar von der bis dahin durch das Geschehen führenden Ich-Erzählerin Amy Dunne selbst. Auch wenn die Eröffnungsszene den Zuschauer zunächst eine subjektive Sicht aus Nick Dunnes Perspektive suggeriert, wird der restliche Verlauf hauptsächlich aus Amys Sicht erzählt.
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