Abkehr von der Scheinkultur. Die Kleidung der Wandervögel als Spiegel ihrer Gesinnung und inneren Einstellung


Seminararbeit, 2012

38 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort, Fragestellung und Methode

2. Was ist der Wandervogel?

3. Das kleidungstechnische Umfeld des Wandervogels
3.1. Die abgelehnte bürgerliche Kleidung
3.2. Impulse aus der Reformkleidung

4. Wandervogelkleidung
4.1 Die Bekleidung der Wandervögel in der Anfangszeit
4.2 Die versuchte Einführung der Kluft
4.3 Mädchenbekleidung im Wandervogel
4.4 Festkleidung

5. Schlusswort und Fazit

6. Literaturliste, Bildnachweise und Selbstständigkeitserklärung

1. Vorwort, Fragestellung und Methode

Zum Verhältnis von Kleidungsverhalten und Gesellschaft existieren mehrere Theorien verschiedenster Fachrichtungen, u.a. der Anthropologie, der Kunst-, der Sozial- und Kulturgeschichte, der Volkskunde u.a., die hier aus Platzgründen nicht alle aufgeführt werden können.[1]Einig sind sie sich einzig darin, dass Kleidung als Zeichen sozialen Verhaltens betrachtet werden kann und sollte. Ausgegangen werden soll hier davon, dass Kleidung also ein kulturelles Zeichen ist, welches auf bestimmte regionale, soziale, kulturelle, berufsständige, geschlechtliche und altersbedingte Unterschiede zwischen Gruppen hinweist. Hingewiesen werden soll kurz auf den Unterschied zwischen Kleidung und Mode, der längst nicht in allen Theorien begriffen wird, vor allem nicht in denen, die das Phänomen aus kulturanthropologischer Sicht betrachten. Aber„Mode ist nicht gleich Kleidung. Sie ist vielmehr ein Kommentar in Kleidern über Kleidung.“[2]Da die Wandervögel als Individuen, die sich trotz gruppendynamischer Prozesse meistenteils dennoch relativ frei entscheiden konnten, was sie (zumindest in ihrer Freizeit, ergo der Zeit, die sie dem Wandervogelideal am nächsten kommen durften) trugen – bzw., wenn sie die Kleidung nicht selber herstellten, entsprechende Bitten an ihre Eltern richteten – selber auch in mannigfaltigen Diskursen über ihr Kleidungsverhalten reflektierten und diskutierten, ist davon auszugehen, dass die Sachen, die sie bekleideten, für sie mehr als nur zweckdienliche eindimensionale Gegenstände waren und dass sie über diese Objekte, die sie mit Sinn aufluden, Zeichen setzen wollten. Dass dies möglich war, ist zunächst ihrer Schicht – die meisten Wandervögel entstammten bürgerlichen Elternhäusern, in denen eben nicht die Not diktierte, was getragen wurde – wie auch sonst ihrem eher liberal gesinnten Umfeld geschuldet und spricht dafür, die Bekleidung der Wandervögel nicht nur als Kleidung, sondern auch als Mode anzusehen, die ja von jeher„bestimmt [war, Anm. A.S.R.] für wenige Auserwählte, die es sich leisten konnten und wollten, den Träumen einer besseren Zeit nachzuhängen.“[3]Gut erkennbar wird das, was den Wandervögeln wichtig war, auf Fotographien von Fahrten und Festen, die zugleich symbolhaft für die Gesinnung und die Wünsche des Wandervogels ausgedeutet werden können und auch von ihnen selbst als Sinnbilder generiert worden sind. Die Kleidung, die sie auf diesen für sie so wichtigen Ereignissen trugen, kann ebenso interpretiert werden, weil sie, wie zahlreiche Diskussionen innerhalb der wandervogeleigenen Zeitschriften beweisen, keineswegs zufällig getragen worden ist. Kleidung als Mittel und Zeichen der Selbstbestimmung auf dem Weg zur Selbstwerdung, als Maskerade bis zur Verwandlung, ergo bis man ist, was man zu sein begehrt, ist immer auch Hinweis auf eine konstruierte innerliche Wunschwelt, deren Realisierung als in ferner Zukunft geschehend gedacht wird.[4]

In dieser Seminararbeit soll die Frage gestellt werden, auf welche Wunschbilder und Werte die Kleidung der Wandervögel, die sich im Laufe der Jahre massiv verändert hat, hinweist und wer über ihre Funktion von der Gruppe ausgeschlossen bzw. in die Gruppe eingeschlossen werden sollte. Beachtet werden soll hier zudem, dass der Wandervogel als Jugendkultur eine Protestgruppe gewesen ist, wenn der Protest auch von den Eltern und Erziehern mitgetragen wurde und sich kein ernsthafter, konfrontativer Widerstand gegen den Zeitgeist und die Gesellschaft findet, eher das Schaffen eines freien Raumes für Menschen einer bestimmten Klasse und Generation.[5]Die Erschaffung dieser eigenen Subkultur - wobei „Subkultur“ hier nicht als „Gegenkultur“, sondern als „Teilkultur“, die durchaus gegenläufige Züge zur „Hauptkultur“ bzw. zur dominanten Kultur tragen kann, begriffen werden soll – generiert bestimmte Regeln, die sich auch auf die Kleidung niedergeschlagen haben. So hat der Wandervogel über die Kleidung deutlich gemacht, dass er sich als jugendliche und selbstbestimmte Elite empfindet[6]. Wie dies konkret vollzogen worden ist, soll hier gezeigt werden. Auch soll auf die ambivalente Wirkung von Mode, hier speziell Jugendmode, eingegangen werden: revolutionär, exkludierend, alternativ, Freiheiten demonstrierend auf der einen Seite, durch das Modediktat die zugehörigen Individuen der Gruppe unterwerfend auf der anderen Seite.[7]Der Wandervogel hat seine Kleidung als Medium genutzt, was er damit ausdrücken wollte, soll hier dargestellt und seine Mode(n) als Gruppensymbol interpretiert werden.

2. Was ist der Wandervogel?

Zunächst kann der Wandervogel trotz fortgeschrittenen Alters einiger seiner Mitglieder als Jugendkultur bzw. Jugendbewegung bezeichnet werden. Allerdings existiert in der Rückschau eine„gesellschaftlich anerkannte Jugendphase“[8]überhaupt erst ab ca. 1850. Die Wandervögel entstammten meistenteils der bürgerlichen Schicht und unterschieden sich ergo in Lebensumständen, Kultur und Verhalten massiv von proletarischen Jugendlichen. Ihnen war eine längere Abhängigkeit vom Elternhaus zu eigen, aber auch eine länger dauernde Ausbildung, weiterhin ist in der Jugendphase das Ausprobieren ansonsten gesellschaftlich nicht anerkannter Verhaltensweisen durchaus genehmigt gewesen. All diese Faktoren trafen Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts auf einen ausgeprägten Kulturpessimismus und auf eine Mythologisierung der Jugend als solche, auf einen regelrechten Jugendkult. Ebenso trugen andere Gegebenheiten der wilhelminischen Ära zum Phänomen Wandervogel bei, zum Beispiel die Abstiegsängste des Bürgertums, seine Solidarisierung mit dem Adel, sein Verharren in Untertanengeist und Standesdünkel. Bürgerliche Kreise waren meistenteils durchsetzt von antiliberalen, antisozialdemokratischen Ressentiments und schillerten eher monarchistisch-nationalistisch, und natürlich, gut erkennbar auch an der Verbindung von Thron und Kirche, protestantisch. Man kann der wilhelminischen Gesellschaft eine gewissen Starr- und Steifheit, auch im Hinblick auf die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern, die ja nun eher unterdrückerisch-bigott waren, ganz sicherlich nicht absprechen. Auch die – da die Kinder und Jugendlichen, die sich dem Wandervogel anschlossen, meist der bildungsbürgerlichen Schicht entstammten, oft humanistischen - Erziehungsanstalten, die die bürgerliche Jugend derzeit durchlaufen hat, vermittelten bei aller auch in ihr grassierender neu aufgekommener Reformpädagogik ebenso die Werte, die zum gesellschaftlichen Überleben notwendig waren: Gehorsam, Disziplin, Fleiß, Vaterlandsliebe.[9]Kennzeichnend war trotz aller Starrheit dennoch vor allem in diesen Schichten auch das Gefühl, in Zukunft werde sich etwas ändern – zum Beispiel gut erkennbar im mehr und mehr Raum einnehmenden Nationalismus und in der Kriegs- und Imperialismuslust weiter Bevölkerungsanteile – sowie ein dezentes Unbehagen an weiteren politischen, technischen und ökonomischen Umwälzungen. Diese Vorahnungen schienen durchaus geeignet, im Einzelnen Verunsicherung über die eigene Perspektive und den eigenen Platz in der Gesellschaft hervorzurufen. Aus dem Jugendkult, aus der Sicht auf die Jugend als besonders „rein“, sittlich und kulturell hochstehend, ja, zu Höherem, zu hohen Taten berufen, ergab sich in liberal-bildungsbürgerlichen Kreisen die Forderung, die Jugend mehr gewähren zu lassen, ihr mehr Freiheiten zuzugestehen. Ohne das Wohlwollen, im Mindesten aber das Tolerieren dieser Gruppen durch die Eltern und Erzieher wäre der Wandervogel ganz sicher gar nicht erst zustande gekommen. Auffallend ist, dass die Jugendlichen sich mit dem Wandervogel weniger gegen ihre Eltern wandten, sondern die Werte derer entstammten Schicht einfach neuinterpretierten und das Bildungsbürgertum damit eher stützten als stürzten, man kann auch sagen: zu seiner Erneuerung beitrugen und damit eine lebensverlängernde Maßnahme einleiteten.[10]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[11]

Der Wandervogel ist aus einem 1897 von Hermann Hoffmann gegründeten Stenographenverein hervorgegangen und hatte mehrere Führungs- und Richtungswechsel hinter sich, bis er nach dem Ersten Weltkrieg in den zwanziger Jahren in die Bündischen Jugend über- bzw. in ihr aufging.

DenWandervogel gibt es nicht, es haben mehrere Bünde, auch Gruppen, nebeneinander existiert: Wandervogel Ausschuss für Schülerfahrten, Steglitzer Wandervogel e.V., Altwandervogel, Verband deutscher Wandervögel, Wandervogel Deutscher Bund für Jugendwandern, gemischtgeschlechtliche Gruppen, Verbände für das Mädchenwandern usw.; ebenso gab es wilde Gruppen, von denen sich die Wandervögel allerdings scharf distanzierten. Zu beachten ist, dass kein Bund dem anderen und keine Gruppe der nächsten gleicht.[12]

Der Wandervogel zeichnete sich in der frühen Phase, auch nachdem 1900 Karl Fischer die Führung übernommen hatte, aus durch die Lust am Wandern aber auch als Entwurf einer Gruppe, in der die Steifheit des Umgangs miteinander außer Kraft gesetzt werden und mit der Erfahrung der Natur ein einfacher und autonomer Lebensstil eingeübt werden sollte. In dieser Zeit näherte sich der Wandervogel dem Landstreicherhaften, dem Vaganten- und mittelalterlichem Scholarentum an, in Aussehen wie Benehmen. Raue Zünftigkeit und ein halbwegs verlottertes Äußeres trafen durchaus auch auf Alkohol- und Tabakkonsum (zu späteren Zeiten in diesen Kreisen absolut verpönt!).[13]

Wandervogelgruppen konnten nicht von Schülern, wohl aber nur deren Eltern gegründet werden, auf deren grundsätzlich positive Einstellung zum Wandervogeltum war man stets angewiesen. Im Laufe der Jahre hat sich der Wandervogel eine eigene Kultur angeeignet und ist zu einer Art Jugendbewegung[14], in der die älteren Jugendlichen die jüngeren führten, gewachsen, die über die Jugend der Erneuerung der Gesellschaft und der Welt imaginierte.[15]Das Wandern ist stets das Symbol für das gewesen, was alle Wandervögel zu allen Zeiten trotz Unterschiedlichkeit und Differenzen der Gruppen und Bünde untereinander ( zum Beispiel zur Mädchen-, zur Juden-, zur Abstinenz- und Kleiderfrage) geeint hat: die Rückkehr zum Einfachen, Wahrhaftigen, Reinen, Naturverbundenem, die Rückkehr zu dem Menschen in sich selbst, den die verpönte und in den Augen der Wandervögel krankhafte Auswüchse zeigende Zivilisation längst verschüttet hat.[16]

Eine weitgehende Vereinheitlichung der einzelnen Bünde unter einem Einigungsbund, auch inhaltlich, hat von 1911 bis 1919 stattgefunden. Im Laufe der Jahre hat der Wandervogel seine innere Kultur immer weiter verfeinern, differenzieren und eher auf einen gemeinsamen Nenner bringen können:„Reinheit, Wahrheit, Liebe“[17]. Völkische und deutschtümelnde Elemente wie die Not zur Erneuerung nicht nur des Einzelnen, sondern auch des deutschen Volkes haben in ihm ebenso Platz gefunden wie lebensreformerische Impulse, die den Abwurf alles Unechten, Steifen, Künstlichen vom Menschen anstrebten. Zum Wandern hinzu kamen ebenso das Singen und Sammeln von Volksliedern und das Praktizieren von Volkstänzen als wichtige Bestandteile deutscher Kultur[18]und eine romantisierende Sicht auf die deutsche Bauernschaft, die als die noch wahrhaftigste und geerdetste, ungekünsteltste Schicht des deutschen Volkes wahrgenommen worden ist, ja, als sein Ursprung. Wichtig ist den Wandervögeln stets auch die Gemeinschaft als solche gewesen, tiefe Freundschaften und Kameradschaften wie auch das Bestehen von Schwierigkeiten und das Überwinden von Hindernissen auf Fahrten, das ja auch Gruppen zusammenschweißen und zu einer Art Schicksalsgemeinschaft formen kann. Wert gelegt worden ist bei aller Erfahrung der Körperlichkeit[19]stets auf eine enterotisierte Atmosphäre (zwischen den Geschlechtern[20], eine gewisse homoerotische Spannung kann den Jungengruppe schlechterdings abgesprochen werden[21]), auch in gemischtgeschlechtlichen Gruppen sind die Kameradschaftlichkeit[22]und das Reinheitsideal oberstes Prinzip gewesen. Mädchen und Jungen wurden dabei zeitgemäß verschiedene Rollen und damit auch verschiedene Verhaltensweisen zugeordnet. Ebenso aber hat der Wandervogel auch Kriegsspiele abgehalten und, obwohl er stets betont hat, mit Politik nichts zu schaffen haben zu wollen, der Heroisierung des „jungen deutschen Mannes“ Vorschub geleistet. Dementsprechend haben sich männliche Wandervögel zu Beginn des Ersten Weltkrieges meistenteils freiwillig gemeldet (und sind, zahlenmäßig erheblich dezimiert und grundlegend verstört und desillusioniert, wiedergekommen).[23]Nach dem Ersten Weltkrieg hat der Wandervogel sich der Politisierung nicht mehr ausreichend erwehrt. Die Freiheit der ersten Jahre ist in eine Art Gleichschaltung verwandelt worden, bis der Wandervogel selbst in die bündische Jugend übergegangen ist.[24]

3. Das kleidungstechnische Umfeld des Wandervogels

3.1. Die abgelehnte bürgerliche Kleidung

Kleidung bzw. Accessoires als Träger von Zeichen drücken nicht nur den individuellen Geschmack und Gesinnung bzw. die den sie tragenden Menschen umgebenden Gegebenheiten aus, sondern sie weisen als Zeichen der Zugehörigkeit einer Gruppe eben auch soziale, regionale und nationale Konnotationen auf und sind in die jeweilige historische politische Kultur stets eingebunden, repräsentieren sie ergo auch.[25]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[26]

Die bürgerliche Mode der Jahre 1890 bis 1914 war deutlich von dem Willen geprägt, nicht nur die jeweilige nationale, sondern auch möglichst eine hochständige soziale Zugehörigkeit zu repräsentieren (oder auch, bezüglich des sozialen Status´: vorzutäuschen!). Hinsichtlich Herren- wie Damenkleidung existierte eine gewisse Steifheit, sie sich im Laufe der Jahre verstärkte. Männer höherstehender oder auch reaktionär-bürgerlicher Kreise ersetzten den Frack durch das Jackett, trugen lange Hosen, Hemden, Westen, Mäntel, gestärkte Hemdbrust, Hut (Zylinder oder Filzhut), vor allem aber einen brettsteif gestärkten kinnhohen Kragen, den sogenannten „Vatermörder“, der allzeit für gute Haltung gesorgt haben wird. Weiterhin beliebt war der Bart, dessen Schnitt und Form gern dem jeweiligen Patriarchen des Kaiserreichs angeglichen wurde. Zusätzliche Accessoires waren Handschuhe, Stock und (goldene) Uhr sowie möglichst teure Manschettenknöpfe und Krawattennadeln. In den besseren Kreisen entwickelte sich eine Art verständiges Einvernehmen darüber, dass der Mensch gehobenen Status´ zu jeder Gelegenheit passend und dem Anlass angemessen gekleidet zu sein habe. Was genau das en detail das bedeutete, wurde über einen komplizierten Code, eine Art Geheimwissen der besseren Gesellschaft, ausgehandelt und definierte so für alle Eingeweihten klar ersichtlich, wer dazugehörte und wer nicht. Auch die Damenmode wurde durch den großen Putz bestimmt: die Schnitte hatten möglichst dem Trend zu entsprechen, die Stoffe und Kleidungsdetails (Pailetten, Spitzen, Bordüren,…) möglichst kostbar zu sein. Üblich war es, Kleidung maßgeschneidert anfertigen zu lassen.[27]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[28]

Ein Accessoire, welches die „feine Dame“ nie und nimmer wegzulassen hätte, war das Korsett, mit dessen Hilfe sich Frauen in manchmal stundenlanger Prozedur zur schlanken Taille wie eben auch zu Atemnot und innerorganischen Verkrüppelung schnüren ließen. In Anbetracht der wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Frau nimmt ihr äußerliches Anpreisen durch das Hervorheben sekundärer Geschlechtsmerkmale und als fraulich markierter Eigenheiten wie Gesäß, Beine, Hüften auf dem Heiratsmarkt wenig Wunder; beachtenswert ist hingegen die Doppelmoral und Prüderie, mit der dies geschah – so hatten diese zugleich sichtbar und verhüllt zu sein. Die „feine Dame“ trug, je nach Anlass, entweder Kleid mit Schleppe oder Bluse mit fußlangem Rock; ihre Füße waren meistenteils in viel zu kleine, aber schicke Schnürschuhe gezwängt, sodass sie, schleppen- und schuhbedingt, höchstens trippeln konnte. Die Schleppe musste außerdem gerafft bzw. getragen werden, ohne Hut (darauf Verzierungen: Feder oder ganze Vögel, Blumen oder ganze Blumensträuße,…), Handtasche, Handschuhe und Regen- bzw. Sonnenschirm hatte die Dame ebenso nicht aus dem Haus zu gehen. Die Haare zeigten sich in Wellen hochgesteckt oder zu turmähnlichen Gebilden geformt.[29]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[30] [31]

Selbst Zeitgenossen sahen in der Frau des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine„Märtyrerin, die mit heldenhaftem Lächeln Leiden erduldete und verbarg. (…) Oft waren die Hüte nur auf einer Seite mit Blumen und Bögen garniert, so daß das ganze Gewicht auf eine Stelle drückte. Nach zehn Minuten bekam man Kopfschmerzen, das Korsett ließ einen nicht atmen, die Kragenstäbchen bohrten sich in den Hals ein, die ungeheuren Ballonärmel hinderten jede freie Bewegung. So gingen die Frauen heldenhaft lächelnd auf die Promenade und hielten in der rasch ermüdenden Hand die Schleppe hoch.“[32]

[...]


[1]Marion Grob gibt einen guten und kritischen Überblick zu den wichtigsten Theorien in Grob, Marion, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen in Deutschland im 20. Jahrhundert, Münster 1985, S. 14 - 30

[2]Vinken, Barbara, Mode. Spiel mit Grenzen, in: Nixdorff, Heide (Hg.), Das textile Medium als Phänomen der Grenze – Begrenzung – Entgrenzung, Berlin 1999, S. 97 – in diesem Essay liefert Vinken eine schöne Übersicht über die Geschichte der Mode an sich

[3]Ebd.

[4]Vgl. Schad, Wolfgang, Zur Anthropologie der Bekleidung, in: Nixdorff, Heide (Hg.), Das textile Medium als Phänomen der Grenze – Begrenzung – Entgrenzung, Berlin 1999, S. 76 f.

[5]Zu Klassen- und Generationsbewusstsein in Jugendkulturen auch Murdock, Graham und McCron, Robin, Klassenbewusstsein und Generationsbewusstsein, in: Clarke, John u.a. (Hg.), Jugendkultur als Widerstand, Frankfurt am Main 1981

[6]Dies ist allgemein Ansinnen und Ausdruck von Jugendmode, siehe Baacke, Dieter, Wechselnde Moden. Stichwörter zur Aneignung eines Mediums durch die Jugend, in: Baacke, Dieter u.a. (Hg.), Jugend und Mode, Leverkusen 1988

[7]Vgl. Dollase, Rainer, „Von ganz natürlich bis schön verrückt“ – Zur Psychologie der Jugendmode, in: Baacke, Dieter u.a. (Hg.), Jugend und Mode, Leverkusen 1988, S. 93

[8]Grob, Protestgruppen, S. 30

[9]Vgl. Scholtz, Harald, Der Wandervogel im Kontext der Jugendpolitik des Wilhelminischen Kaiserreichs, in: Herrmann, Ulrich (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[10]Vgl. Grob, Protestgruppen, S. 40 - 51

[11]Grafik 2, http://2.bp.blogspot.com/-nhmwouiVSu0/TtiHp2GA4ZI/AAAAAAAAEmA/2TkMYUuaE_4/s1600/norwegen_1913_2.jpg, letzter Zugriff am 15. Sept. 2012

[12]Eine sehr ausführliche Geschichte des Wandervogels bietet Helwig, Werner, Die blaue Blume des Wandervogels. Vom Aufstieg, Glanz und Sinn einer Jugendbewegung, Baunach 1998

[13]Vgl. Gerber, Walther, Zur Entstehungsgeschichte der deutschen Wandervogelbewegung. Ein kritischer Beitrag, Bielefeld 1957, S. 13 - 89

[14]Vgl. Herrmann, Ulrich, Wandervogel und Jugendbewegung im geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext vor dem Ersten Weltkrieg, in: ds. (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[15]Zur Jugend als Mythos und Symbolträger und zum Jugendkult zu Beginn des letzten Jahrhunderts: Stambolis, Barbara, Mythos Jugend – Leitbild und Krisensymptom. Ein Aspekt der politischen Kultur im 20. Jahrhundert, Schwalbach / Ts. 2003 ; Stoff, Heiko, Ewige Jugend. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis ins Dritte Reich, Köln 2004; Eckert, Roland, Jugend als Utopie: Der Wandervogel, in: Herrmann, Ulrich (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[16]Vgl. Aufmuth, Ulrich, Die deutsche Wandervogelbewegung unter soziologischem Aspekt, Göttingen 1979, S. 219 - 228

[17]So die Wandervogelführung selbst in dem Text „Was ist der Wandervogel?“, Aus der Festschrift „Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeierauf dem Hohen Meißner 1913“, Abdruck in Herrmann, Ulrich (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[18]Angestoßen wurde dies vor allem durch den Sachsengau, vgl. Siefert, Hermann, Untersuchungen zur Entstehung und Frühgeschichte der Bündischen Jugend, S. 173 – 185; zum sächsischen und speziell Dresdner Wandervogel vgl. Ulbricht, Justus H., Aufbruch an Elbe und Saale. Anfänge sächsischer Jugendbewegung, in: Dresdner Geschichtsverein e.V. (Hg.), Dresdner Hefte - Beiträge zur Kulturgeschichte, In Wanderkluft und Uniform. Jugendbewegung in Sachsen, 26. Jahrgang, Heft 90, 2/2007 und Müller, Alexander Konrad, der Wandervogel in Dresden, ebd.

[19]Dazu vgl. Wedemeyer-Kolwe, Der „neue Mensch“ in seinem „neuen Körper“: Jugendbewegung und Körperkultur, in: Herrmann, Ulrich (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[20]Dazu vgl. Klönne, Irmgard, „…nicht Wasser mehr und Feuer…“ Das Geschlechterverhältnis in der Jugendbewegung, in: Herrmann, Ulrich (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[21]Vgl. auch die Darstellung des frühen Wandervogels unter dem Aspekt auch der Homoerotik: Blüher, Hans, Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 2 Bände, Berlin 1912 und eine Reflektion darüber vgl. Herrmann, Ulrich, Den Wandervogel verstehen – eine Annäherung im Lichte einer frühen Selbstdeutung, in: ds. (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[22]Vgl. Schwarte, Norbert, Kameradschaftlichkeit als Leitbild: Jugendbewegung und Jugendhilfe, in: Herrmann, Ulrich (Hg.), „Mit uns zieht die neue Zeit…“ Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung, Weinheim / München 2006

[23]Fritz, Michael u.a., „… und fahr´n wir ohne Wiederkehr.“ Ein Lesebuch zur Kriegsbegeisterung junger Männer, Band 1: Der Wandervogel, Frankfurt am Main 1990, v.a. S. 43 - 137

[24]Vgl. Siefert, Hermann, Untersuchungen zur Entstehung und Frühgeschichte der Bündischen Jugend, Diss., 1961, S. 71 - 134

[25]Vgl. Müller, Siegfried, Kleider machen Politik, in: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Kleider machen Politik. Zur Repräsentation von Nationalstaat und Politik durch Kleidung in Europa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Oldenburg 2002, S. 6 und vgl. Müller, Siegfried, Kleidung und Nation – ein Vergleich, in: Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg (Hg.), Kleider machen Politik. Zur Repräsentation von Nationalstaat und Politik durch Kleidung in Europa vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Oldenburg 2002, S. 51

[26]Grafik 3, http://www.historical-costumes.eu/08_Text_Gr%C3%BCnderzeit_Jugendstil/01_Herren_gr%C3%BCnderzeit_1870er_jahre_gro%C3%9F.jpg, letzter Zugriff 15. Sept. 2012

[27]Vgl. Grob, Protestkleidung, S. 82 - 90

[28]Grafik 4, http://2.bp.blogspot.com/-YjKkgbTJujA/TxsVuw2-rTI/AAAAAAAABck/ww25y105GwQ/s320/tumblr_kuly6ukfJm1qarrqqo1_400.jpg, letzter Zugriff am 15. Sept.

[29]Vgl. Grob, Protestkleidung, S. 82 - 90

[30]Grafik 5, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/7/7a/3916Chapeau_tendu.png/220px-3916Chapeau_tendu.png, letzter Zugriff am 15. Sept. 2012

[31]Grafik 6, http://www.historical-costumes.eu/08_Text_Gr%C3%BCnderzeit_Jugendstil/08_brautkleid_gr%C3%BCnderzeit_1875_gro%C3%9F.jpg, letzter Zugriff am 15. Sept. 2012

[32]Welsch, Sabine (Hg.), Ein Ausstieg aus dem Korsett. Reformkleidung um 1900, Mathildenhöhe Darmstadt, 3. Februar bis 17. März 1996, S. 8

Ende der Leseprobe aus 38 Seiten

Details

Titel
Abkehr von der Scheinkultur. Die Kleidung der Wandervögel als Spiegel ihrer Gesinnung und inneren Einstellung
Hochschule
Technische Universität Dresden
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
38
Katalognummer
V370944
ISBN (eBook)
9783668488267
ISBN (Buch)
9783668488274
Dateigröße
2118 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
abkehr, scheinkultur, kleidung, wandervögel, ausdruck, spiegel, gesinnung, einstellung, mode
Arbeit zitieren
Anne S. Respondek (Autor:in), 2012, Abkehr von der Scheinkultur. Die Kleidung der Wandervögel als Spiegel ihrer Gesinnung und inneren Einstellung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370944

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