Ästhetische Inszenierungen des Grimmschen Märchens "Rotkäppchen". Entwicklung des Kindheitsbildes anhand von Märchenillustrationen im historischen Zeitverlauf


Hausarbeit, 2012

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Problemstellung und Herangehensweise

2. Inhaltliche Voraussetzungen
2.1 Strömungen westdeutscher Kinderliteratur (KL) im historischen Verlauf
2.2 Märchen als Bestandteil der Kinderliteratur (KL)
2.3 Illustrationen von Märchen

3. Kindheitsbild des Rotkäppchens im historischen Verlauf
3.1 Rotkäppchen aus den Jahren 1872/73 (Rudolf Geißler) und Alexander Zick (1886)
3.2 Rotkäppchen aus dem Jahr 1978 (Janosch)
3.3 Rotkäppchen aus dem Jahr 2001 (Susanne Janssen)

4. Resümee

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Anhang....

„Ich hätte gerne schöne Bilder zu dem Buch, aber das ist eine gar nicht leichte Sache.“1

1. Problemstellung und Herangehensweise

In der vorliegenden Arbeit möchte ich die Entwicklung des Kindheitsbildes anhand von Märchenillustrationen nachvollziehen. Exemplarisch betrachte ich dazu Illustrationen des bekannten Märchens Rotkäppchen. Dabei beschränke ich mich bewusst auf die Darstellung des ersten Aufeinandertreffens zwischen Rotkäppchen und dem Wolf und analysiere die bildnerische Umsetzung der tatsächlich bedrohlichen Situation. Eine ganzheitliche psycholo- gische Auslegung des illustrierten Märchens in den unterschiedlichen Fassungen strebe ich nicht an. Als Referenztext für die Entwicklung der Kinderliteratur (im Folgenden kurz: KL) ziehe ich die Ausführungen von Hans-Heino Ewers: Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinderliteratur seit Ende der 60er Jahre, Anfang der 70er Jahre heran. Im Rahmen der Seminarmitarbeit habe ich wichtige Ausführungen dazu bereits thesenartig in einer Gruppenarbeit vorgestellt. Für den Zusammenhang dieser Arbeit ist bedeutsam, wie die bildliche Umsetzung des Märchens Rotkäppchen und des darin innewohnenden Kindheitsbildes gelingt. Konkreter gefragt: Welche Kindheitsbilder treten über die Illustrationen des bedrohten Rotkäppchens im Zeitverlauf zutage? Wird die tatsächliche Bedrohung im Verlauf der Zeit von dem Rotkäppchen erkannt und das Kindheitsbild dadurch aufgewertet? Insofern besteht in der vorliegenden Arbeit der ikonographische Anspruch, das Kindheitsbild aus den historischen Zeitverläufen zu ermitteln. Meine These zu dem jetzigen Zeitpunkt lautet, dass die Art und Weise der Märchenillustrationen anhand der politisch- gesellschaftlichen Entwicklung nachvollzogen werden kann und ein zunehmend selbstbewussteres Bild vom Kind im Rahmen der kinderliterarischen Reformbewegung in den 1970er Jahren gezeichnet wird.

Zur Bearbeitung dieser aufgeworfenen Thematik skizziere ich im 2. Punkt die Entwicklung der Kinderliteratur (kurz: KL) im Allgemeinen, stelle dabei Märchen als Teil der KL heraus und betrachte schließlich Märchenillustrationen im Speziellen. Dieses trichterförmig angesammelte Wissen dient als Grundlage für die weitere Analyse von insgesamt vier Märchenillustrationen im historischen Verlauf im 3. Punkt. Die darin vorgenommene Analyse folgt im Wesentlichen den Strömungen westdeutscher KL, wie in Punkt 2.1 skizziert wird. In meinem Resümee im 4. Punkt prüfe ich meine Ausgangsthese und reflektiere kritisch die angestellte Analyse, womit auch eine persönliche Einschätzung eingeschlossen ist. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich in der vorliegenden Arbeit für alle Personenbezeichnungen die männliche Anredeform. Die weibliche Form ist dabei stets mitgedacht.

2. Inhaltliche Voraussetzungen

Die inhaltlichen Voraussetzungen schaffen ein Verständnis für die Strömungen westdeutscher KL im historischen Verlauf (Punkt 2.1), für Märchen als Bestandteil der KL (Punkt 2.2) und schließlich für den Bereich der Illustration von Märchen (Punkt 2.3).

2.1 Strömungen westdeutscher Kinderliteratur (KL) im historischen Verlauf

Die Entwicklung wissenschaftlicher Lehrmeinungen zur KL geht mit der epochal vorherrschenden Kindheitsauffassung einher.2 Wandlungen des Kindheitsbildes können daher anhand der tatsächlich stattgefundenen Umbrüche kindlicher Lebenswelten und den damit veränderten Bedingungen des Aufwachsens nachvollzogen werden.

Ausgehend von dieser „modernisierungstheoretischen“3 Perspektive ist auf die erste Moderne ab dem späten 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert zu verweisen. Auch wenn im vorindustriellen Deutschland Freiheitsrechte eingefordert werden, bleiben Geschlechter- und Altersdifferenzen bestehen, d.h. insbesondere Frauen und Kinder bleiben von diesen Forderungen unberührt.4 Diese beiden sozialen Gruppen bilden gewissermaßen aufzuarbeitende Gegenpole dieser ersten Moderne. Maßgeblich haben Jean-Jaques Rousseau und Gottfried Herder die Kindheitsbilder zu dieser Zeit geprägt, die wiederum die KL begründet und verarbeitet hat. KL erscheint hier auf der einen Seite in einer „philanthropisch- reformpädagogischer“5 Ausprägung, auf der anderen Seite romantisch-verklärt. Sie baut gewissermaßen eine Gegenwelt zur bürgerlichen Erwachsenenwelt - eben auch zur ersten Moderne - auf:

Im Zentrum stehen eine autonome Kinderwelt, ein Reich der Kindheit - in Gestalt entweder einer archaischen Phantasie- bzw. Märchenwelt oder als weitgehend außerhalb der Gesellschaft angesiedelter kindlicher Frei- bzw. Spielraum.6

Allerdings gehören die hier dargestellten Kindergestalten ebenso einer sozialen Wirklichkeit an, innerhalb derer sie sich „wohlerzogen und angepaßt“7 in Vorbereitung auf ihr Erwachsenendasein zeigen. Insofern ist ihr „Frei- bzw. Spielraum“ eingeschränkt. Obwohl diese Tendenzen der KL, wie dargestellt, bereits früh bestehen, erlangt dieses Konzept seinen tatsächlichen Durchbruch erst Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre. Damit ist das Auslaufen der sogenannten „“alten“ KL“8, die auf traditionelle, „erzieherische[.], zivilisierende[.], moraldidaktische[.]“9 Werte setzt, endgültig angezeigt. Als Vertreter für die moderne KL der Nachkriegszeit sind u.a. Astrid Lindgren, Ottfried Preußler, aber Janosch in seinen Anfängen zu nennen. Ab Mitte/ Ende der 1960er Jahre zeichnet sich unmittelbar zur derzeit dominanten Präsenz der modernen KL der Übergang in eine „andere Moderne“10 im Rahmen der Kinderliteraturreform um 1970 ab, der mit dem „Wechsel der fundamentalen Kindheitsmuster“11 zusammenhängt. Die Rolle des Kindes erfährt zu dieser Zeit - ebenso wie die der Frau - eine „erneute[.] und zugleich neuartige[.] Entdeckung“12 und wird auf diese Art und Weise einem unabhängigen und selbstständigen Menschen gleichgesetzt. Die Rollenstereotype aus der ersten Moderne werden hier entsprechend aufgearbeitet. Es lässt sich festhalten, dass die „neue KL in ihrem gesellschaftlichen Kern eine Literatur der kindlichen Gleichberechtigung [ist]“13. Kindliche Helden werden daher ebenso mit natürlichen Herausforderungen des Alltags wie mit Konflikten gegenüber Erwachsenen konfrontiert. Zum einen ist damit der Auftrag an die KL verbunden, Kindern das gesellschaftliche System erklärend darzubieten. Zum anderen kommt als spätere Funktion gegen Ende der 1970er Jahre die Erkundung des Innenlebens von Kindergestalten hinzu, die sich mit ihrer gewonnen Mündigkeit und den Problemen ihrer Selbstständigkeit auseinandersetzen müssen. Daneben bildet die Wiederentdeckung der Kinder und ihres Alltag eine weitere Facette des kindlichen Gleichberechtigungsprozesses ab. Die Kinderwelt findet Beachtung, ohne dabei die Erwachsenenwelt auszuklammern. Dadurch trägt die neue KL zu einem ganzheitlichen Weltbild und einer vollständigen kindlichen Emanzipation bei. Die KL als solche beansprucht dabei „künstlerische Autonomie“14, die die innerliterarische Kommunikation bzw. Leseransprache, den Verwendungszusammenhang und die Gestaltungsprinzipien betreffen. Spätestens hier werden die gestiegenen Ansprüche der schriftliterarisch ausgerichteten neuen KL - vormals eher erzählende KL - offensichtlich. Bedeutsam ist dabei die Tatsache der audiovisuellen Medienprägung von Kindern der neuen KL, so dass von einer „relativ entwickelten Rezeptionskompetenz“15 ausgegangen werden kann. Insofern sind die gestiegenen Ansprüche zum Teil gerechtfertigt. Im Zuge der Übermacht audiovisueller Medien kann ggf.

von einer Aufspaltung der KL in anspruchsvoll-elitäre KL und medial-vermarktete (Trivial-) KL die Rede sein.

Ab den 1980er Jahren beginnt die kinderliterarische Reformbewegung zu verflachen. Der Anspruch „sozialer Phantasie“16, d.h. Fantasie, die auf Veränderung der Wirklichkeit beschränkt ist, kann in „Phasen sozialer Stabilität“17 nicht mehr als alleiniges Maß gerechtfertigt werden. Eine KL der „Ernüchterung und des Daseinernstes“18 ist nicht mehr zeitgemäß. Daher findet von nun an eine Ausweitung fantastischer Konzepte bzw. die Rückbesinnung auf Ansätze der modernen KL der 1950er/ 1960er Jahre statt, die während der Reformbewegung nie gänzlich vom Markt der KL verschwunden waren. Die neuen fantastischen Konzepte werden dadurch legimitiert, dass „jede Wirklichkeit [..], um für den einzelnen erträglich zu sein, der zeitweiligen Außerkraftsetzung [bedarf].“19 Es gilt, Kindern eine „Wirklichkeitsentmachtung“ zuzugestehen und ihnen zwischen „realitätsbezogener Nüchternheit und phantasiemäßiger Ausschweifung“20 einen Weg zum Erwachsenwerden zu bieten. Als Folge ergibt sich in den 1980er Jahren eine Synthese aus der KL der Nachkriegsjahre und der Reformbewegung, die unter den Begrifflichkeiten „Tragikomik und gebrochene Idyllik“21 treffend gefasst werden können. Während die KL der gebrochenen Idyllik beispielsweise Glücksmomente von Kindern anführt, ohne dabei illusionistisch und problemfern zu wirken, bedient sich die Tragikomik der Merkmale des „Involviertsein und Darüberstehen[s]“22. In diesem Nebeneinander der unterschiedlichen Konzepte ab Ende der 1980er Jahre äußert sich die Pluralität kindlicher Welten als real existierende und imaginierte Welt. Allerdings ist bei dieser Vermischung der Konzepte ein reflektierter Umgang gefragt, der den kindlichen Leser mit einbezieht und die grundsätzliche Positionierung des Textes offenlegt.

2.2 Märchen als Bestandteil der Kinderliteratur (KL)

Ein Märchen lässt sich grundsätzlich als „welthaltige Abenteuererzählung von raffender, sublimierender Stilgestalt“23 fassen. Auch wenn die Brüder Grimm im 19. Jahrhundert Volksmärchen durch ihre Kinder- und Hausmärchen (KHM) in die Klasse der Kindermärchen aufgenommen haben - hier insbesondere Wilhelm Grimm durch seine Überarbeitungen der KHM bis zur Fassung letzter Hand aus dem Jahr 185724 - bilden Märchen bis heute „eine Altersgrenzen übergreifende literarische Form [..] und dementsprechend auch Texte für erwachsene Leser [..]“25. Schließlich kann jede Kultur weltweit auf eine Tradition volkstümlicher Erzählungen zurückblicken.26

In der vorliegenden Arbeit werden Märchen bzw. Märchenillustrationen als Bestandteil der Kinderliteratur ausgewertet. Der folgende Blick auf die Funktionen und den Bildungswert von Märchen soll eine derartige Zuordnung des Märchens erschließen. Als sogenannte ‚Schwellenliteratur‘ ermöglichen Märchen Kindern den Zugang zu grundlegenden Erzählformen, die sie zunächst hörend und später selber lesend erfahren können.27 Neben dieser emotionalen Komponente können Märchen durch ihre recht einheitliche stilistische Gestalt auch von Kindern unterschiedlicher kognitiver Niveaus rezipiert werden. Diese grundlegenden Sprach- und Gesellschaftserfahrungen des Märchens hat bereits der griechische Philosoph Platon erkannt und das Märchen als „Erziehungsmittel von höchster Bedeutung“28 gewürdigt, wodurch Geist und Seele der Kinder geformt werde. Die vorherrschende „Dominanz eindrücklicher Bilder im erzählerischen Geschehen“29 befähigen das Märchen dazu, die Imaginationskraft sowie die Antizipationsfähigkeit des Kindes maßgeblich auszuprägen.30 Hierzu stellt Haas treffend fest:

Die Wahrheit und Wirklichkeit des sprachlichen Bildes verbürgt jedenfalls diesen Zusammenhang allen Seins intensiver als das logische Kalkül des Verstandes, und in diesem Sinne stellt das Märchen im Übrigen auch so etwas wie den Eingang in die erzählerisch-komplexe und ja keineswegs nur realistische Hochliteratur einerseits und in die entwickelte spezifisch phantastische Literatur andererseits dar.31

Märchen fungieren in diesem Sinne als Schlüssel für die eigene Kultur. Weiterhin bildet das Nebeneinander von Realistischem und Fantastischem sowie die Erfahrung einer grausamen und ‚erlösungsbedürftigen‘ Welt des Märchens wichtige Entwicklungsschritte von Kindern gungen zu Funktion und Bildungswert einer universellen Erzählform. Baltmannsweiler 2011. S. 17 - 36, hier: S. 20). ab.32 Kindern werden Verhaltensmöglichkeiten und Lösungsmuster aufgezeigt, was die Ausbildung emotionaler Intelligenz beflügelt. Schließlich können Märchen bei Kindern ein Verständnis für fremde Kulturen und Hierarchien sowie eine Vorstellung von der Vergangenheitsdimension erzeugen.33

2.3 Illustrationen von Märchen

In ihrer Konstitution sind Märchenillustrationen grundsätzlich von Bilderbüchern zu unterscheiden - auch wenn Märchenillustrationen gelegentlich als Beispiele in die Debatte um Bilderbücher eingebracht werden:34 Während Bilderbücher die medialen Ebenen von Wort und Bild so miteinander verschränken, dass die Bild- und Wortsprache zu einer gemeinsamen Aussage zusammenfließen, besteht die wortsprachliche Äußerung bei der Illustration unabhängig von der Visualisierung. Diese Funktion lässt sich aus der Wortbedeutung des lateinischen Verbs „illustrare“ (erläutern, aufklären, verschönern) ableiten. Entsprechend geht Heinrich Wolgast im Jahr 1906 bei Illustrationen von dem Anliegen aus, „einen Text durch bildliche Darstellung ‚beleuchtet‘ zu sehen“35. Auch wenn die Illustration dabei dem Text verpflichtet ist, kann ihr die Rolle eines eigenständig erzählenden Mediums zugeschrieben werden.36 Jens Thiele definiert die Rolle eines Illustrators sogar mit der eines Märchenerzählers, der die historische Textgrundlage nach persönlichem Empfinden, den Umständen der Zeit und des Raumes sowie im Hinblick auf die Adressaten auslegt.37 Demnach kommen durch die Art und Weise der Visualisierung die Einstellung des Künstlers wie auch zeitgenössische Werthaltungen zur historischen Grundlage zum Vorschein. In Anbetracht dieser bedeutungstragenden Betätigung von Märchen-Illustratoren ist es daher gerechtfertigt, ihnen eine Autorenfunktion einzuräumen.38 Diese Einschätzung zur Funktion von Märchenillustrationen soll für die vorliegende Arbeit maßgeblich sein. Sie korrespondiert mit der didaktischen Forderung, Zwischenbereiche und Hintergründe von Märchen durch Illustrationen sichtbar zu machen.39 Dagegen steht die Meinung, die Märchenillustrationen als Einengung der kindlichen Fantasie betrachtet.40

Wilhelm Grimm hat bereits früh die Bedeutung von Illustrationen erkannt, wie im Eingangszitat dieser Arbeit angeführt, und hat eine Bebilderung der Erzählungen angeregt.41 Als einer der ersten deutschen Märchenillustratoren tritt E.T.A. Hoffmann zum Märchen Das fremde Kind auf. Die Grimmschen Märchen wurden erstmals von George Cruikshank in einer englischsprachigen aus dem Jahr 1923 illustriert. Spätestens zu diesem Zeitpunkt bestand Wilhelm Grimm auf eine bebilderte Ausgabe der Märchen. Sein Bruder Ludwig Emil Grimm lieferte diesen Beitrag mit spätromantischen Radierungen im Jahr 1826. Der weitere Verlauf der Grimmschen Märchenillustrationen lässt sich grundsätzlich anhand der Entwicklungen in der bildenden Kunst und den technischen Veränderungen bei den Reproduktionsbedingungen nachvollziehen:42 Während Radierungen und spätbiedermeierliche Holzschnitte vor allem bei Ludwig Richter im 19. Jahrhundert dominant waren, brachte der Jugendstil und insbesondere der Expressionismus ab den 1920er Jahren eine neue Farbigkeit und Emotionalität hervor. Die Entwicklung wird tendenziell mit einer abstrahierenden Illustrationsweise, beispielsweise bei Gerhard Oberländer, in den 1970er Jahren fortgesetzt. Allerdings gab es immer auch gegenläufige Tendenzen, wie zum Beispiel „konkrete Illustrationen ohne Hintergründigkeiten“43 bei Werner Klemke aus dem Jahr 1963. Heutige Märchenillustrationen scheinen alle Stile zu erlauben, „wenn man nur die konventionelle Illustration vermeidet.“44

3. Kindheitsbild des Rotkäppchens im historischen Verlauf

Mit dem Erscheinen der KHM der Brüder Grimm im Jahr 1812 fand eine weite Verbreitung des Märchens Rotkäppchen in Deutschland statt. Zur folgenden Analyse des innewohnenden Kindheitsbildes werden Illustrationen zur Begegnung zwischen Rotkäppchen und dem Wolf im Wald herangezogen und mit den Ausführungen in Punkt 2.1 von Hans-Heino Ewers in Verbindung gebracht. Diese Begegnung zwischen den beiden Handlungsfiguren wird als Schlüsselszene seit den Anfängen der Märchenillustrationen besonders häufig illustriert und eignet sich daher besonders für historisch-vergleichende Analysen. Exemplarisch werden hier Bebilderungen der Jahre 1872/73 und 1886, des Jahres 1978 sowie 2001 beleuchtet.

Die historische Textgrundlage beschreibt die Szene wie folgt: „Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf, Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht.“45 Alle hier zu analysierenden Bebilderungen basieren auf dieser bzw. ähnlichen Textgrundlagen. Aufgrund der Abhängigkeit vom Text, wie in Punkt 2.3 beschrieben, ist davon auszugehen, dass die tatsächlich bedrohliche Situation mit dem Wolf in den Abbildungen verharmlost dargestellt wird. Allerdings kann vor dem Hintergrund der Autorenfunktion von Bildillustratoren und der Ausführungen von Ewers die Vermutung aufgestellt werden, dass die Illustrationen unterschiedliche Interpretationen des Kindheitsbildes darbieten und damit den Strömungen der KL folgen. Meine konkrete These lautet dazu: Je mehr sich die Illustrationen von der Textvorlage entfernen und die tatsächlich gefährliche Situation darstellen, umso stärker wird das Kind als aufgeklärtes und mündiges Wesen begriffen.

Zur praktischen Analyse von Märchenillustrationen schlägt Christoph Schmitt insgesamt zehn Kategorien vor, die Illustrationen als Produkt analysieren.46 Um das Kindheitsbild des Rotkäppchens zu klären, sind insbesondere die Drucktechniken und Kunststile, der Grad der Stilisierung, die historische Konkretisierung der Handlungsfiguren und des Außenraumes sowie das Szenenformat heranzuziehen. Über den letzten Punkt wird die Blickführung des Betrachters beleuchtet, was die Blickausrichtung zwischen den Handlungsfiguren automatisch mit einschließt.47 Schließlich kann der Grad der Bedrohung nur über die Gesamtwirkung der Illustration ermittelt werden. Daraus lassen sich wiederum Rückschlüsse auf das Kindheitsbild ziehen. Durch die vorgenommenen Einschätzungen können die Illustrationen auch nach den Kategorien Annemarie Verweyens eingeordnet werden. Verweyen ordnet Illustrationen in vorlagengetreue Bebilderungen, den Symbolgehalt hervorkehrende Illustrationen, gefühlsintensive Bebilderungen und kommentierende bis parodierende Illustrationen.48 Diese Einordnungen stehen wiederum für unterschiedliche Interpretationen der Illustratoren.

[...]


1 Wilhelm Grimm im Jahr 1819 in einem Brief an Frau von Haxthausen mit der Bitte, die Kinder- und Hausmärchen zu illustrieren; zit. nach Bode, Andreas: Märchenillustrationen im Wandel der Zeit. Baltmannsweiler 2011. S. 37 - 96, hier: S. 38.

2 Vgl. im Folgenden Ewers, Hans-Heino: Themen-, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinderliteratur seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. 1995. S. 257 - 278.

3 Ebd.: S. 258.

4 Vgl. zur Ambivalenz dieser „ersten“ Moderne auch Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt am Main 1993. S. 92 ff.

5 Ewers, Hans-Heino: Themen-, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinder- literatur seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. 1995. S. 257 - 278, hier: S. 259.

6 Ebd.: S. 259.

7 Ebd.: S. 261.

8 Ewers, Hans-Heino: Themen-, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinderliteratur seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. 1995. S. 257 - 278, hier: S. 260.

9 Ebd.: S. 260.

10 Ebd.: S. 260.

11 Ebd.: S. 260.

12 Ebd.: S. 261.

13 Ebd.: S. 261.

14 Ebd.: S. 266.

15 Ebd.: S. 269.

16 Ewers, Hans-Heino: Themen-, Formen- und Funktionswandel der westdeutschen Kinderliteratur seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. 1995. S. 257 - 278, hier: S. 271.

17 Ebd.: S. 272.

18 Ebd.: S. 271.

19 Ebd.: S. 272.

20 Ebd.: S. 272.

21 Ebd.: S. 273.

22 Ebd.: S. 274.

23 Lüthi, Max zit. nach Petzoldt, Leander: Märchen, Mythen und Sagen. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Grundlagen - Gattungen. Band 1. Hohengehren 2000. S. 246 - 266, hier: S. 248. Weitere stilistische Merkmale sind ein „parataktischer Satzbau, formelhafte Wendungen, direkte Rede und Verse [..] und das Happy End“ (ebd.: 248). Ferner bilden die ausgeprägte Handlungsorientierung und das Dreizahl- Muster strukturgebende Elemente des Märchens (vgl. Haas, Gerhard: „ Erzähl ‘ mir doch ein Märchen! “ Ü berle-

24 Petzoldt, Leander: Märchen, Mythen und Sagen. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Grundlagen - Gattungen. Band 1. Hohengehren 2000. S. 246 - 266, hier: S. 246 ff.

25 Haas, Gerhard: „ Erzähl ‘ mir doch ein Märchen! “Ü berlegungen zu Funktion und Bildungswert einer universellen Erzählform. Baltmannsweiler 2011. S. 17 - 36, hier: S. 17.

26 Vgl. ebd.: S. 19.

27 Vgl. ebd.: S. 19 f.

28 Ebd.: S. 22.

29 Ebd.: S. 23.

30 Vgl. ebd.: S. 23; vgl. auch Petzoldt, Leander: Märchen, Mythen und Sagen. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Grundlagen - Gattungen. Band 1. Hohengehren 2000. S. 246 - 266, hier: S. 250.

31 Haas, Gerhard: „ Erzähl ‘ mir doch ein Märchen! “Ü berlegungen zu Funktion und Bildungswert einer universellen Erzählform. Baltmannsweiler 2011. S. 17 - 36, hier: S. 23/ 24.

32 Vgl. Haas, Gerhard: „ Erzähl ‘ mir doch ein Märchen! “Ü berlegungen zu Funktion und Bildungswert einer uni- versellen Erzählform. Baltmannsweiler 2011. S. 17 - 36, hier: S. 25 ff.; vgl. insbesondere zur psychologischen Begründung von Märchen für Kinder Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. 28. Auflage. München 2008.

33 Vgl. Haas, Gerhard: „ Erzähl ‘ mir doch ein Märchen! “Ü berlegungen zu Funktion und Bildungswert einer universellen Erzählform. Baltmannsweiler 2011. S. 17 - 36, hier: S. 27 ff.; Einwände gegen den Bildungswert vom Märchen, wie etwa, dass Märchen von der Realität ablenken, zu grausam und barbarisch seien und die geistige Entwicklung von Kindern verzögern, widerlegt Haas mit verschiedenen Wissenschaftspositionen (vgl. ebd.: S. 30 ff.).

34 Vgl. im Folgenden Schmitt, Christoph: Die Märchenillustration - Bildnerische Reflexionen auf Märchen der Brüder Grimm. Baltmannsweiler 2005. S. 68 - 92, hier S. 68 f.

35 Wolgast, Heinrich zit. nach ebd.: S. 69.

36 Vgl. Schmitt, Christoph: Die Märchenillustration - Bildnerische Reflexionen auf Märchen der Brüder Grimm. Baltmannsweiler 2005. S. 68 - 92, hier: S. 70.

37 Thiele, Jens: Bilderbücher verstehen. Neue Ü berlegungen zu einem alten Anspruch. Oldenburg 1991. S. 7 - 16, hier S. 16.

38 Vgl. Schmitt, Christoph: Die Märchenillustration - Bildnerische Reflexionen auf Märchen der Brüder Grimm. Baltmannsweiler 2005. S. 68 - 92, hier: S. 70.

39 Ries, Hans zit. nach Verweyen, Annemarie: Die Illustrationen zu den Kinder- und Hausmärchen in den deutschsprachigen Ausgaben der Jahre 1945 bis 1984. Marburg 1985. S. 193 - 286, hier: S. 195.

40 Vgl. hier beispielsweise Maier, Karl Ernst: Jugendliteratur. Formen, Inhalte, pädagogische Bedeutung. Bad Heilbrunn 1993: S. 21.

41 Vgl. im Folgenden Bode, Andreas: Märchenillustrationen im Wandel der Zeit. Baltmannsweiler 2011. S. 37 - 96, hier: S. 38 ff.

42 Vgl. Freyberger, Regina: Märchenbilder - Bildermärchen. Illustrationen zu Grimms Märchen 1819 - 1945.

Ü ber einen vergessenen Bereich deutscher Kunst. Oberhausen 2009. S. 21 ff.; vgl. auch Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Herausgegeben von Klaus Doderer. Weinheim/ Basel 1977. S. 426.

43 Bode, Andreas: Märchenillustrationen im Wandel der Zeit. Baltmannsweiler 2011. S. 37 - 96, hier: S. 63.

44 Ebd.: S. 88.

45 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Nr. 26: Rotkäppchen. 1857 (Ausgabe letzter Hand). S. 157.

46 Vgl. Schmitt, Christoph: Die Märchenillustration - Bildnerische Reflexionen auf Märchen der Brüder Grimm. Baltmannsweiler 2005. S. 68 - 92, hier: S. 73 ff. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Kategorien: Produktion, Adressatenbezug, Die Vorlage und ihre medialen Traditionen, Zur äußeren Gestaltung des Wort-Bild- Verhältnisses, Drucktechniken und Kunststile, Grad der Stilisierung, Historische Konkretisierung, Szenenwahl, Szenenformat, Darstellung grausamer Einzelzüge.

47 In diesem Zusammenhang wird auf den Beitrag von Elisabeth Hohmeister zu Kinderblicken verwiesen (vgl. Hohmeister, Elisabeth : (K)einer sieht mich. Augen, Blicke und Blickkonstruktionen im Bilderbuch. Oldenburg 2007. S. 57 - 72). Auch wenn Hohmeister stärker auf subtile Formen der Gewalt abzielt, können Blickkonstruk- tionen beim bedrohten Rotkäppchen als sehr aufschlussreich für das Kindheitsbild gewertet werden.

48 Verweyen, Annemarie: Die Illustrationen zu den Kinder- und Hausmärchen in den deutschsprachigen Ausgaben der Jahre 1945 bis 1984. Marburg 1985. S. 193 - 286, hier: S. 196 f.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Ästhetische Inszenierungen des Grimmschen Märchens "Rotkäppchen". Entwicklung des Kindheitsbildes anhand von Märchenillustrationen im historischen Zeitverlauf
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Kunst und Medien)
Veranstaltung
Dunkle Bilder. Ästhetische Inszenierungen von Bedrohung, Schrecken und Angst im Bilderbuch
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
23
Katalognummer
V370971
ISBN (eBook)
9783668487543
ISBN (Buch)
9783668487550
Dateigröße
631 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rotkäppchen, Bilderbuch, Inszenierung
Arbeit zitieren
Master of Education Katharina Preuth (Autor:in), 2012, Ästhetische Inszenierungen des Grimmschen Märchens "Rotkäppchen". Entwicklung des Kindheitsbildes anhand von Märchenillustrationen im historischen Zeitverlauf, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370971

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