"Ich entdecke meine Sinne". Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter


Projektarbeit, 2017

36 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Teil
2.1 Definition und Geschichte der Rhythmik
2.2 Der Wahrnehmungsprozess
2.3 Die Bedeutung der Wahrnehmung und ihrer Sensibilisierung im Kindesalter
2.4 Die Sinne
2.4.1 Taktile Wahrnehmung
2.4.2 Vestibuläre Wahrnehmung
2.4.3 Kinästhetische Wahrnehmung
2.4.4 Visuelle Wahrnehmung
2.4.5 Auditive Wahrnehmung
2.4.6 Olfaktorische und gustatorische Wahrnehmung
2.5 Wahrnehmungssensibilisierung in der Rhythmik

3. Praktischer Teil
3.1 Anthropogene Voraussetzungen
3.2 Soziokulturelle Voraussetzungen
3.3 Stundenbilder
3.3.1 Vorbereitung und Reflexion der ersten Doppeleinheit
3.3.2 Vorbereitung und Reflexion der zweiten Doppeleinheit
3.3.3 Vorbereitung und Reflexion der dritten Doppeleinheit

4. Resümee des Gesamtprojekts und Ausblick

5. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Ich habe mich dazu entschlossen, mein Diplomprojekt zum Thema ‚Ich entdecke meine Sinne – Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter‘ zu verfassen. Diese Entscheidung hat eine meiner Kurzaktivitäten während des Hortpraktikums im ersten Semester meiner Ausbildung zur Sozialpädagogin sehr stark beeinflusst. Besagte Aktivität bestand aus drei Spielen zum Thema ‚Wahrnehmungssensibilisierung‘. Dabei konnte ich erkennen, dass einige Kinder dahingehend viel mehr Förderbedarf haben, da sie mit der Reizzuordnung, Verarbeitung und Selektion derselben auffallende Defizite zeigten, welche nicht nur mir, sondern auch der gruppenführenden Pädagogin zuvor nicht aufgefallen waren. Außerdem konnte ich bei den Kindern im Hort erleben, dass sie viel Spaß an den wahrnehmungszentrierten Übungen und Spielen hatten und sich mit Freude und Motivation am Angebot beteiligten. Doch nicht nur die Freude der Kinder an dieser Form der Förderung, sondern auch die Tatsache, dass die Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter einen hohen Stellenwert einnimmt, veranlassten mich dazu, mein Diplomprojekt zu dieser Thematik durchzuführen.

Die Wahl der Institution (Kindergarten St.) lässt sich auf zwei Faktoren zurückführen. Zum einen konnte ich in der theoretischen Erarbeitung dieser Thematik feststellen, dass der Wahrnehmungssensibilisierung vor allem im vorschulischen Alter besondere Bedeutung zukommt, da Kinder in dieser Entwicklungsphase sehr empfänglich für die Sinnesschulung sind und von Angeboten dahingehend besonders profitieren. Außerdem werden durch die aktive Wahrnehmungssensibilisierung viele Fertigkeiten in kognitiver Hinsicht gefördert, worauf in der folgenden schulischen Ausbildung aufgebaut wird. Zum anderen ist der Kindergarten St. stark auf die Sinnesschulung fokussiert und zählt diese zu den primären Zielen der kindlichen Förderung. Dies begründet sich auch insbesondere in der Tatsache, dass der Kindergarten eine Integrationsgruppe führt und die Integrationskinder laut der gruppenführenden Pädagogin ganz besonders der kontinuierlichen Aktivierung der Sinne und deren gezielter Sensibilisierung bedürfen und von Angeboten dahingehend daher besonders profitieren.

2. Theoretischer Teil

Der theoretische Teil dieser Ausarbeitung soll grundlegende Informationen zum Thema ‚Wahrnehmung‘ geben. Nach einer kurzen Einführung in das Konzept der Rhythmik wird dabei sowohl der Prozess des Wahrnehmungsvorgangs beleuchtet, als auch auf die Bedeutung der Wahrnehmung für das menschliche Leben und die Notwendigkeit einer gezielten Förderung im Kindesalter eingegangen. Außerdem werden jene Sinne, auf deren Sensibilisierung sich der praktische Teil dieser Arbeit stützt, in theoretischer Hinsicht behandelt. Den Abschluss der theoretischen Ausarbeitung dieser Thematik bildet die Vorstellung der Rhythmik als mögliches Konzept zur Förderung der Wahrnehmungssensibilisierung.

2.1 Definition und Geschichte der Rhythmik

Die rhythmisch-musikalische Erziehung bzw. Rhythmik ist eine Unterrichtsmethode, welche sich an den menschlichen Bedürfnissen orientiert und sich über kognitive und physische Aktivitäten vollzieht, die einander unterstützen. Außerdem ist Rhythmik ein künstlerisch-pädagogisches Fachgebiet, in welchem die Erprobung musik- und bewegungszentrierter Fertigkeiten im Vordergrund steht. Neben der Musik und der Bewegung zählen außerdem die Stimme (Sprache, Gesang), sowie die Nutzung diverser Materialien zu den Mitteln der Rhythmik. Das handlungsorientierte und improvisatorische Agieren soll Erfahrungen ermöglichen, die zur Sensibilisierung der Wahrnehmung, der Förderung sozialer Kompetenzen, sowie zur Entfaltung der Kreativität beitragen, welche die Ziele der Rhythmik bilden. Um von einem rhythmisch-musikalischen Angebot sprechen zu können, müssen entweder zwei Ziele, zwei Mittel oder ein Ziel und ein Mittel der Rhythmik eingesetzt bzw. verfolgt werden (vgl. Stummer 2014, S. 26).

Die Rhythmik, wie wir sie heute kennen, wurde am Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Schweizer Komponisten und Musiker Emile Jaques-Dalcroze begründet und entwickelte sich aus der Musikerziehung. Ursprünglich geht diese Idee jedoch auf das antike Griechenland zurück, da die damals bekannte Ausdrucksform ‚Musiké‘ aus einer Kombination verschiedener rhythmisch orientierter Kunstformen (Musik, Tanz und Poesie) bestand. Aufgrund des revolutionären Zeitgeistes des frühen 20. Jahrhunderts kam es erneut zu einem Verschmelzen verschiedener Ideen. Jaques-Dalcroze war besonders am Entwickeln einer umfassenden musikalischen Bildung interessiert, die nicht mehr das gezielte Erlernen einzelner künstlerisch-musikspezifischer Fertigkeitsbereiche anstrebte, sondern eine Verschmelzung von Improvisation, Harmonielehre und Gehörbildung vorsah. Außerdem nehmen laut Jaques-Dalcroze motorische Handlungen einen hohen Stellenwert beim Erwerb musikspezifischer Fertigkeiten ein, da sie die Erfassung von musikalischen Vorgängen nachweislich erleichtern. Die Grundidee des Konzepts der Rhythmik bildet bis heute das multisensorische Lernen (vgl. Stummer 2014, S. 20f).

2.2 Der Wahrnehmungsprozess

Wahrnehmung bezeichnet die Fähigkeit des Menschen, diverse Umweltreize über die Sinnessysteme aufzunehmen und diese zu verarbeiten (vgl. Stummer 2014, S. 48; Zimmer 1993, S. 64). Außerdem schließt diese Begrifflichkeit auch die Bearbeitung emotionaler Prozesse ein (vgl. Stummer 2014, S. 48). Es handelt sich bei der Wahrnehmung um einen subjektiven Vorgang, da idente Begebenheiten von unterschiedlichen Personen aus deren individuellen Perspektiven erlebt werden und folglich zu verschiedenen Bewertungen führen können (vgl. Zimmer 2012, S. 17). Sowohl das aktuelle physische und emotionale Befinden, als auch Umwelteinflüsse und Erinnerungen sind wichtige Faktoren, welche die Wahrnehmung grundlegend beeinflussen (vgl. Hirler 2012, S. 9). Der Vorgang der sinnlichen Wahrnehmung ist ein ganzheitlicher Prozess, da die Umwelt nicht allein durch einzelne Sinnesorgane erschlossen wird, sondern durch eine Kombination derselben, welche die ganze Person mit ihren Wünschen, Gefühlen, Erfahrungen, Erwartungen und Erinnerungen mit einbezieht (vgl. Zimmer 2012, S. 25ff).

Da wir Menschen in einer reizüberfluteten Welt leben, welche die Sinne aufgrund der massiven Reizzufuhr überfordern würde, filtert jeder Mensch gewisse Reize heraus. Dies wird als ‚selektive Wahrnehmung‘ bezeichnet (vgl. Stummer 2014, S. 48). Diese Differenzierung der Sinnesreize und die Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen sind notwendig für die Orientierung in der uns umgebenden Welt (vgl. Zimmer 1993, S. 64). Die Funktionsfähigkeit der Sinne ist uns Menschen angeboren, da sich die Sinne bereits im pränatalen Entwicklungsstadium herausbilden. In den ersten Wochen und Monaten wird die Zusammenarbeit derselben erlernt. Durch alle Handlungen des Kindes wird seine Wahrnehmungsfähigkeit weiter differenziert (vgl. Zimmer 2012, S. 46f). So verfügen bereits Säuglinge über die Fähigkeit für sie bedeutsame Reize wahrzunehmen und auch aus einer Vielzahl an Reizen jene zu selektieren. So sind sie beispielsweise in der Lage, die Stimme der Mutter aus einem Stimmengewirr wahrzunehmen (vgl. Zimmer 1993, S. 64f).

Der Wahrnehmungsprozess ist ein komplexer Vorgang und macht ein Zusammenspiel von Körper, Gehirn und Sinnesorganen erforderlich. Das Geschehen erfolgt dabei in vier Schritten:

Reiz à Reizaufnahme à Reizverarbeitung à Reaktion Zuerst wirkt ein Reiz auf die Sinnesorgane und wird in weiterer Folge an das Gehirn ins Zentralnervensystem weitergeleitet (vgl. Stummer 2014, S. 48f; Zimmer 2012, S. 31). Im nächsten Schritt verknüpft er sich dort mit den bereits gespeicherten Erfahrungen und wird bewertet und verglichen. Abschließend wird eine Reaktion ausgelöst. Die Verarbeitung der Informationen kann umso effektiver erfolgen, je mehr Sinne am Wahrnehmungsprozess beteiligt sind, weswegen in der Rhythmik im Zuge diverser Wahrnehmungsförderungsangebote stets die Erprobung mehrerer Sinne fokussiert wird (vgl. Stummer 2014, S. 48f).

2.3 Die Bedeutung der Wahrnehmung und ihrer Sensibilisierung im Kindesalter

Die Sinne ermöglichen es den Menschen, mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten und mit ihr zu kommunizieren (vgl. Zimmer 2012, S. 14). Über unsere Sinnesorgane werden Informationen aus der Umwelt an uns weitergeleitet, die für das Überleben notwendig sind. Menschliches Leben wäre durch eine fehlende Reizzufuhr somit unmöglich. Unser Organismus ist auf neue Reize angewiesen, da er ansonsten verkümmern würde. Außerdem hat eine vertiefte und bewusste Wahrnehmung erheblichen Einfluss auf ein positives Lebensgefühl und ist Voraussetzung für soziales und kreatives Handeln (vgl. Stummer 2014, S. 50f).

„Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, bei dem sich das Kind mit allen Sinnen seine Umwelt aneignet und sich mit ihren Gegebenheiten auseinandersetzt.“ (Zimmer 2012, S. 15) Vielfältige sinnliche Erfahrungen bilden daher die Basis für das Kind, seine Umwelt und ihre Eigenschaften kennenzulernen. Die Ermöglichung dieser Erfahrungsprozesse bedarf allerdings einer Umgebung, die dem kindlichen Bedürfnis nach aktivem und selbstständigem Handeln entgegenkommt (vgl. Zimmer 2012, S. 14f). Neurologisch erfordert ein gesunder Entwicklungsprozess des Kindes die Vernetzung der Nervenzellen untereinander und mit den verschiedenen Hirnregionen, was durch die Aktivierung der Sinne gewährleistet wird (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 7). Durch häufiges Üben können die Sinne eine sensible Wahrnehmung der Umwelt ermöglichen und gute Leistungen erzielen. Insbesondere Menschen, die einen Sinn nicht nutzen können (z.B. durch Blindheit oder Taubheit) und darum ihre restlichen Sinne verstärkt nutzen, lassen durch deren hervorragend ausgebildete Restsinne erahnen, welches Entwicklungspotential tatsächlich in unseren Sinnen steckt (vgl. Zimmer 2012, S. 19).

Ein weiterer positiver Aspekt der Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter ist die Tatsache, dass auch die Aufmerksamkeit und Konzentration gefördert werden (vgl. Stummer 2014, S. 51), da sie mit der Wahrnehmung eng verbunden sind (vgl. Hirler 2012, S. 17). Um bestimmte Reize herausfiltern zu können, bedarf es einer konzentrierten Haltung, um die Aufmerksamkeit einzig einer bestimmten Informationsquelle zuwenden zu können (vgl. Zimmer 1993, S. 64).

Die Notwendigkeit der institutionell geförderten Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter ergibt sich vor allem in der Hinsicht, dass immer häufiger Wahrnehmungsstörungen bei Kindern beobachtbar werden. Dies ist das Ergebnis der veränderten Lebensbedingungen, in welchen Kinder in unserer Gesellschaft aufwachsen. Der Bewegungsdrang der Kinder wird durch Erwachsene zunehmend als störend empfunden und bis zu einem gewissen Grad unterbunden und auch in der Schule wird langes Stillsitzen von den Kindern abverlangt. Außerdem sind Kinder in unserer medienorientierten Welt vor allem in visueller und akustischer Hinsicht Reizüberflutungen ausgesetzt, die sie nicht verarbeiten können. Auf der anderen Seite werden die körpernahen Sinne durch den Bewegungsmangel aufgrund der verstärkten Beschäftigung mit digitalen Medien, wie Fernsehen, PC und Handy viel zu wenig genutzt und unterfordert. Diese und weitere Veränderungen im heutigen Alltag tragen dazu bei, dass deren Wahrnehmungsfähigkeit zunehmend abstumpft (vgl. Zimmer 2012, S. 22ff). In Folge dessen zeigen immer mehr Kinder hyperaktive und unruhige Verhaltensweisen, welche sowohl aus der mangelnden Befriedigung des Bewegungsdrangs hervorgehen, als auch eine Reaktion der Kinder auf die einseitigen Reizüberflutungen sind. Die Tatsache, dass die Kinder diese Menge an Informationen nicht mehr angemessen, nämlich im selbstständigen Tun und Handeln mit dem eigenen Körper, verarbeiten können, lösen in ihnen Stress-Symptome aus, die sich vor allem in Form von Bewegungsunruhe, Konzentrationsmangel und Nervosität äußern (vgl. Zimmer 2012, S. 24).

Die Wahrnehmungssensibilisierung im vorschulischen Alter macht vor allem auch dahingehend Sinn, da jene Basisfertigkeiten in der körperlich-geistigen Entwicklung ausgebildet werden, auf denen in der Schule aufgebaut wird. Diese sind die Grundlage für das abstrakte Lernen, welches von Schulkindern abverlangt wird. Wenn Kinder in der Schule durch unruhiges und unkonzentriertes Verhalten auffallen, ist dies ein klares Zeichen dafür, dass diese Basisfertigkeiten noch nicht entsprechend ausgebildet sind (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 8). Somit dient die Sensibilisierung der Sinne im vorschulischen Alter in gewisser Weise auch der Vorbereitung auf die Schule, da die richtige Verbindung der Sinneserfahrungen, welche durch Übung erlangt werden kann, für alle Lernprozesse notwendig sind. Vielseitige und häufige Bewegungsangebote eignen sich ideal dazu, die Verknüpfung der Sinne zu fördern (vgl. Zimmer 1993, S. 64f). Diese Verknüpfung von Wahrnehmung (Reiz) und Bewegung (Reaktion) wird unter dem Begriff ‚Sensomotorik‘ zusammengefasst (vgl. Stummer 2014, S. 52).

Auch die Integration der sinnlichen Wahrnehmung in den Schulalltag ist anzustreben, weil Inhalte und Informationen nachhaltiger und effektiver gespeichert werden, je mehr Sinne am Lernprozess beteiligt sind. Auch das tiefere Verständnis durch mehr Assoziationsmöglichkeiten wird durch sinnliches Lernen ermöglicht, wodurch das Kind ein aufmerksameres und motivierteres Lernverhalten zeigt (vgl. Zimmer 2012, S. 27ff). Außerdem kann Lernen vor dem neunten Lebensjahr noch nicht allein durch den reinen Verstand erfolgen, sondern bedarf einer körperlich-sinnlichen Informationsvermittlung (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 8).

Die Sinnesschulung zielt vor allem auch darauf ab, einen feinfühligen Umgang mit der eigenen Person, den Mitmenschen und der Umwelt herzustellen, sowie ein Gleichgewicht zwischen dem Menschen und seinem materiellen und sozialen Umfeld zu schaffen (vgl. Zimmer 2012, S. 29).

2.4 Die Sinne

Bezüglich der Anzahl unserer Sinne gibt es unterschiedliche Auffassungen. Es gibt Ansätze, die von fünf Sinnen sprechen, andere vermuten, dass es sieben Sinne gibt und wiederum andere Quellen besagen, dass dem Menschen bis zu dreizehn Sinnesbereiche zur Erschließung seiner Umwelt zur Verfügung stehen. Darunter fallen der Sehsinn, Gehörsinn, Geschmackssinn, Geruchssinn, Temperatursinn, Berührungs- und Drucksinn, Schmerzsinn, Spannungs- und Kraftsinn, Lagesinn, Stellungssinn, Drehbewegungssinn und die Organempfindungen. Der Begründer der Waldorfpädagogik Rudolf Steiner ging sogar so weit, einen Lebenssinn, Sprach- und Wortsinn, Ich-Sinn und Gedankensinn einzuführen. Diese anthroposophisch orientierten Erweiterungen konnten sich allerdings bis heute in der Wahrnehmungs- und Sinnespsychologie nicht durchsetzen. Trotzdem sind diese zu einem bedeutenden Bestandteil des heute bekannten pädagogischen Konzepts der Waldorfpädagogik avanciert (vgl. Zimmer 2012, S. 53ff).

Die klassischen Sinne, die in allen Ansätzen genannt werden, verfügen über ein eigenes Sinnesorgan. Darunter wird konkret das Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten verstanden. Die Existenz dieser fünf Sinne wurde bereits von Aristoteles vermutet. In der Vergangenheit wurde ihnen allerdings eine unterschiedliche Wertigkeit zugeschrieben. Während das Sehen und Hören als höhere Sinne bezeichnet wurden, galten das Tasten, Riechen und Schmecken als niedrigere Sinne, da sie als weitaus weniger bedeutsam eingestuft wurden. Daher widmeten sich wissenschaftliche Forschungen zum Thema Wahrnehmung vor allem dem Sehsinn. Mittlerweile wurde diese Valenz durchaus in Frage gestellt (vgl. Zimmer 2012, S. 53). So stuft Montagu beispielsweise den taktilen Sinn als bedeutendsten Sinn ein, weil er über die Haut erfahrbar wird und diese seiner Meinung nach das wichtigste Sinnesorgan ist, mit der Begründung, da sie für das Überleben unverzichtbar ist (vgl. Montagu 1994; zit. nach Zimmer 2012, S. 53).

Die fünf klassischen Sinne können durch weitere sogenannte ‚körpernahe Sinne‘ ergänzt werden. Diese Kombination wird unter dem Begriff ‚Grundwahrnehmungsbereiche‘ zusammengefasst. Die darin inkludierten Sinne werden in zwei Gruppen unterteilt, nämlich die körperfernen und körpernahen Sinne (vgl. Zimmer 2012, S. 55). Zu den Nahsinnen zählen das taktile, kinästhetische, vestibuläre, gustatorische und olfaktorische System, während das auditive und das visuelle System den Fernsinnen zugeordnet werden (vgl. Stummer 2014, S. 56; Zimmer 2012, S. 55).

Jene Sinne, die Informationen bezüglich des eigenen Körpers liefern (körpernahe Sinne), werden generell vor jenen Sinnessystemen ausgebildet, welche zur Entschlüsselung körperferner Reize verhelfen (Fernsinne). Insbesondere die taktilen, vestibulären und kinästhetischen Erfahrungen sind für die kindliche Entwicklung essentiell, da diese über jene Sinnessysteme erfolgen, die zuerst ausgebildet werden und auf ihnen die Entwicklung der anderen Sinnesbereiche aufbaut (vgl. Zimmer 1993, S. 65f).

Aufgrund der Tatsache, dass die einzelnen Sinne eng miteinander in Verbindung stehen, werden bei der spielerischen Wahrnehmungsschulung, welche auf einen Sinn fokussiert, auch die übrigen Sinne mit trainiert. Beispielsweise wird in Übungen zur Förderung der vestibulären Wahrnehmung auch der visuelle Sinn, sowie die Raumorientierung gefördert oder beim blinden Balancieren neben dem vestibulären System ebenso der taktile Sinn aktiviert (vgl. Hirler 2012, S. 21).

2.4.1 Taktile Wahrnehmung

Der Tastsinn entwickelt sich bereits im Mutterleib vor allen anderen sensorischen Systemen. Er ist bereits funktionsfähig, wenn sich der Hör- und Sehsinn erst zu bilden beginnen. Reize im taktilen Bereich werden über die Haut wahrgenommen. Sie ist unser größtes Organ und ermöglicht es uns die Beschaffenheit von Gegenständen aufgrund ihrer Form und ihres Materials zu ergründen und dient der Temperatur- und Schmerzwahrnehmung (vgl. Zimmer 1993, S. 66; Zimmer 2012, S. 103). Die Haut gilt außerdem als das bedeutendste Kommunikationsmittel des Menschen und wird als erste Sprache des Neugeborenen bezeichnet (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 10; Zimmer 2012, S. 107).

Für Säuglinge sind Hautberührungen essentiell um überleben zu können. Durch sanfte Berührungen und Körperwärme kann das Neugeborene mit der Mutter kommunizieren und somit sein Grundbedürfnis nach Sicherheit und Halt stillen. Taktile Erfahrungen im Säuglingsalter aktivieren eine Vielzahl an Nervenzellen im Gehirn und begünstigen deren Verschaltung (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 10). Doch auch im fortschreitenden Kindes- und Erwachsenenalter nimmt die taktile Schulung einen wichtigen Stellenwert ein. Das Anfassen und Berühren von Gegenständen ist für Kinder die natürlichste und angenehmste Art, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen und diese kennenzulernen. Auch Erwachsene benötigen manchmal den Tastsinn, um in einer Angelegenheit Gewissheit zu erlangen, beispielsweise bei frisch gestrichenem Holz, und genießen es ebenso wie Kinder, taktile Reize über die Haut bewusst erspüren zu können, zum Beispiel in Form einer Massage oder durch warmes Wasser in der Badewanne (vgl. Stummer 2014, S. 61).

Taktile Wahrnehmungsschulung soll bei der Differenzierung und Verbalisierung diverser Eindrücke helfen und dazu beitragen, ein Gespür für andere Menschen zu entwickeln, sowie für die eigenen Empfindungen und Bedürfnisse empfänglich zu werden. In praktischer Hinsicht soll dies mit dem aktiven Berühren des eigenen Körpers, anderer Personen und unterschiedlicher Gegenstände gewährleistet werden (Stummer 2014, S. 61).

2.4.2 Vestibuläre Wahrnehmung

Das vestibuläre System nimmt die Funktion der Gleichgewichtsregulierung des Körpers ein und befindet sich im Innenohr (vgl. Zimmer 1993, S. 66). Es entwickelt sich am Ende des zweiten Schwangerschaftsmonats und wird durch jede Lageveränderung des Ungeborenen trainiert. Nach der Geburt ermöglicht es uns eine gut geschulte vestibuläre Wahrnehmung, den eigenen Körper mit den Kräften der Schwerkraft in Einklang zu bringen (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 32). Somit ist das vestibuläre System dafür zuständig, dass wir unseren Körper aufrecht halten und uns in unserer Umgebung orientieren können, sowie den Organismus, Drehbewegungen und Beschleunigungen wahrzunehmen und darauf entsprechend zu reagieren (vgl. Zimmer 2012, S. 128).

Die vestibuläre Wahrnehmung steht mit vielen anderen Wahrnehmungssystemen in Verbindung (vgl. Zimmer 1993, S. 66). Besonders eng ist jene mit der kinästhetischen Wahrnehmung (vgl. Zimmer 2012, S. 128), da die Bewegungskoordination ein gut geschultes Gleichgewicht erfordert und dazu beiträgt, das Verletzungsrisiko möglichst gering zu halten (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 32). An der Gleichgewichtserhaltung sind aber auch andere Wahrnehmungssysteme mitbeteiligt. So ist es beispielsweise schwieriger das Gleichgewicht zu halten, wenn die Augen geschlossen sind (vgl. Zimmer 1993, S. 66). Ein gut ausgebildetes vestibuläres System bildet außerdem die Basis für die Entwicklung von Hör- und Sehsinn (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 32; Zimmer 2012, S. 129). Das Gleichgewichtssystem ist unter anderem auch für die Wachheit und Konzentrationsfähigkeit verantwortlich. Wenn Kinder in der Schule beispielsweise mit dem Stuhl schaukeln ist dies ein Zeichen dafür, dass sie ein vestibuläres Reizdefizit haben (vgl. Zimmer 2012, S. 130).

Die vestibuläre Wahrnehmung kann durch Bewegungsangebote trainiert werden, die das Auf- und Abbewegen des Körpers in senk- und waagrechter Hinsicht ermöglichen (z.B.: Trampolin), durch Drehbewegungen (z.B.: Karussell), sowie Schaukelbewegungen (z.B.: Hängematten), diverse Balanceübungen (vgl. Zimmer 2012, S. 134f) und der Erprobung unterschiedlicher Fortbewegungsarten (vgl. Hirler 2012, S. 25).

2.4.3 Kinästhetische Wahrnehmung

Der Begriff ‚Kinästhetik‘ kommt aus dem Griechischen und bedeutet ‚Wahrnehmung der Bewegung‘ (vgl. Ellneby 1998, S. 29). Dabei werden Zeit-, Raum-, Spannungs- und Kraftverhältnisse in Bezug auf die eigene Bewegung erfahrbar gemacht. Der kinästhetische Sinn wird auch als Muskel- und Gelenksinn, Lagesinn oder Tiefensinn bezeichnet, da Reize nicht aus der Umwelt wahrgenommen werden, sondern aus dem Körperinneren stammen. Die Muskeln, Gelenke und Sehnen sind mit Rezeptoren ausgestattet, welche der Reizaufnahme dienen und dem Gehirn Informationen über die Lage des Körpers weiterleiten (vgl. Stummer 2014, S. 64; Zimmer 2012, S. 115). Das kinästhetische System ermöglicht eine Bewegungsorientierung im Dunkeln.

Im dritten Schwangerschaftsmonat beginnt sich das kinästhetische System zu entwickeln und ist somit neben dem taktilen und vestibulären System in diesem frühen Schwangerschaftsstadium funktionsfähig, indem der Fötus seine Muskeln und Gelenke aktiviert. Jede Art von Bewegung trägt zur Sensibilisierung der kinästhetischen Wahrnehmung bei. Die Förderung der Eigenwahrnehmung ist dabei besonders wichtig für das Körperbewusstsein (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 65), die Erkennung räumlicher Anordnungen diverser Körperteile, die Grob- und Feinmotorik, die Konzentrationsfähigkeit, die Erweiterung sozialer Kompetenzen und die kognitive Leistungsfähigkeit (vgl. Stummer 2014, S. 65). Eine Bewegung muss 20.000 Mal wiederholt werden, bis sie im Gehirn so gespeichert ist, dass sie als automatisiert gilt (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 65). In praktischer Hinsicht wird die kinästhetische Wahrnehmung durch bewusst gesetzte Spannungs- und Entspannungsübungen und Bewegungsspiele aller Art gefördert. Der Körper soll durch den Kontakt mit Materialien, Räumlichkeiten und anderen Personen besser erspürt werden, um das Körpergefühl weiter differenzieren (vgl. Stummer 2014, S. 65), die Grenzen des Körpers erfassen und eine Vorstellung über denselben entwickeln zu können (vgl. Zimmer 2012, S. 115).

2.4.4 Visuelle Wahrnehmung

Das visuelle System ist der im Alltag am stärksten beanspruchte Sinnesbereich und einer ständigen Reitüberflutung ausgesetzt. Damit ist das Auge, über welches optische Reize wahrgenommen und ins Gehirn geleitet werden das bedeutendste Informationsorgan des Menschen (vgl. Zimmer 1993, S. 66). Zu den Leistungen des visuellen Systems zählen das Erkennen von Farben, Mustern und Formen, die Helligkeitsunterscheidung und die Dunkeladaption, worunter man die Anpassung des Auges an die Dunkelheit versteht (vgl. Zimmer 2012, S. 65). Besonders bedeutsam ist die visuelle Wahrnehmung für die Orientierung im Raum und in der Umwelt, zur Erfassung von Gegenständen in der Umgebung und zur gezielten Bewegungssteuerung (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 80).

Bei der Geburt ist die visuelle Wahrnehmung noch nicht so weit entwickelt wie die anderen Sinne. Die visuellen Fähigkeiten eines neugeborenen Säuglings beschränken sich auf eine unscharfe und kontrastarme Sicht und die Fixierung unbewegter Gegenstände (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 80; Zimmer 2012, S. 69). Zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr ist das visuelle System besonders entwicklungsfähig (vgl. Stummer 2014, S. 57). Sowohl Seh- als auch Tastsinn nehmen hinsichtlich des kindlichen Entwicklungs- und Lernprozesses den bedeutendsten Stellenwert ein. Diese Kombination wirkt sich außerdem äußerst positiv auf die Auge-Hand-Koordination aus (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 80).

Sinnesschulung im visuellen Bereich ermöglicht es uns Menschen genauer zu beobachten und im Sinne der Reizselektion vor allem beim Sehsinn detailliertere Informationen aus dem Gesehenen herauszufiltern (vgl. Stummer 2014, S. 57).

2.4.5 Auditive Wahrnehmung

Akustische Reize werden über das Ohr aufgenommen. Es ermöglicht uns Töne, Klänge und Geräusche wahrzunehmen und im Zuge des Wahrnehmungsprozesses zu unterscheiden. Anders als beim Sehsinn kann sich das Ohr einer möglichen Reizüberflutung nicht entziehen, da die Ohren nicht geschlossen werden können. Das auditive System ist für die Kommunikation unbedingt erforderlich, insbesondere weil sich die Entwicklung der Sprache unter anderem über die auditive Wahrnehmung vollzieht. Außerdem ermöglicht uns der Hörsinn Informationen in Bezug auf räumliche Gegebenheiten durch die Schallwellen zu erhalten und zu nutzen (vgl. Zimmer 2012, S. 83). Ebenso wie der Sehsinn, dient die auditive Wahrnehmung der Orientierung. Vor allem in Situationen, welche den Sehsinn funktionslos werden lassen (z.B. in der Dunkelheit) kommt dem Hörsinn besondere Bedeutung zu (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 106).

Bereits vor der Geburt nimmt der Fötus sowohl die Stimme und den Herzschlag der Mutter wahr, als auch diverse Geräusche, die ihren Ursprung außerhalb des Mutterleibs haben, wie zum Beispiel Musik oder andere Stimmen (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 106). Nach der Geburt ist das Gehör bereits gut entwickelt und der Säugling ist fähig, Wahrgenommenes zu lokalisieren und die Intensität und Dauer von Tönen wahrzunehmen. Außerdem beeinflussen akustische Reize auch schon die Stimmung des Neugeborenen (vgl. Zimmer 2012, S. 88).

Wahrnehmungssensibilisierung im auditiven Bereich ermöglicht ein Vertiefen persönlicher Erlebnisse (z.B. Lieblingsmusik hören) und zielt auf eine differenziertere Reizverarbeitung und Reizselektion ab, sowie auf die Erweiterung des Wortschatzes, die Überwachung stimmlicher Äußerungen (Sprechen und Singen), die Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit und das Richtungshören (vgl. Stummer 2014, S. 59). In praktischer Hinsicht wird das Gehör durch Spiele und Wahrnehmungsübungen gefördert, welche ein aufmerksames Zuhören voraussetzen. Die Sensibilisierung gestaltet sich als besonders intensiv, wenn dabei die Augen bewusst geschlossen werden (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 107).

2.4.6 Olfaktorische und gustatorische Wahrnehmung

Diese beiden Sinnessysteme werden bewusst in Kombination behandelt, da sie zueinander eng in Verbindung stehen. So erschwert zum Beispiel eine Einschränkung des Geruchssinns (olfaktorische Wahrnehmung) auch das Schmecken (gustatorische Wahrnehmung), wie es bei einer Erkältung der Fall ist (vgl. Stummer 2014, S. 71). Das Wahrnehmungsorgan des olfaktorischen Sinnessystems ist die Nase, während geschmackliche Reize über die Zunge ans Gehirn geleitet werden (vgl. Stummer 2014, S. 56).

Obwohl diesen beiden Sinnen in unserer heutigen schnelllebigen Gesellschaft weniger Bedeutung zugeschrieben wird als der taktilen, visuellen und auditiven Wahrnehmung, haben sie doch einige wichtige Funktionen (vgl. Stummer 2014, S. 71). Der Geruchssinn ermöglicht dem Menschen im Gegensatz zu vielen Tieren zwar nicht die Orientierung, dient aber in manchen Situationen als wichtigstes Wahrnehmungssystem zur Eruierung und Warnung vor Gefahren (z.B. Feuer) und nimmt somit eine Schutzfunktion ein (z.B. verdorbene Lebensmittel erkennen). Zudem sind Gerüche tief verankert in unserem Gedächtnis und rufen Erinnerungen hervor. Damit werden auch Emotionen geweckt, da diese oft mit Erinnerungen in Verbindung stehen (vgl. Zimmer 2012, S. 140). Auch bei der Partnerinnen- und Partnerwahl spielt der Geruchssinn eine Rolle. Unbewusst wird dabei jemand gewählt, deren/dessen Immunsystem mit dem eigenen harmoniert (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 128; Stummer 2014, S. 71). An dieser Stelle muss auch die wohltuende und heilende Wirkung von Düften erwähnt werden, welche nun wieder entdeckt wird. So sollen sich ätherische Öle, die aus diversen Gewürzen, Kräutern und Heilpflanzen gewonnen werden, positiv auf Körper und Geist auswirken, die Konzentration fördern und die Stimmung verbessern (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 128; Zimmer 2012, S. 140f). Der Geschmackssinn dient ebenso wie der Geruchssinn zur Überprüfung, ob Nahrungsmittel verträglich sind und zur Steigerung des Wohlbefindens beim Verzehr hochwertiger Nahrung (vgl. Stummer 2014, S. 71). Außerdem dient er zur Unterscheidung ähnlich aussehender Lebensmittel und zur Anregung der Verdauung (vgl. Zimmer 2012, S. 147).

Der Geruchssinn entwickelt sich ca. in der zweiundzwanzigsten Schwangerschaftswoche und ist nach der Geburt schon gut entwickelt, weswegen Neugeborene verschiedene Gerüche schon unterscheiden können. Evolutionsbedingt lösen einige Gerüche (z.B. Feuer) eine Angst- bzw. Fluchtreaktion hervor (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 128). Der Geschmackssinn entwickelt sich ab dem dritten Schwangerschaftsmonat, weswegen es dem Fötus bereits im Mutterleib möglich ist zu schmecken. Die Geschmacksknospen auf der Zunge ermöglichen das Schmecken unterschiedlicher Geschmacksempfindungen. Insgesamt unterscheidet man zwischen fünf Geschmacksqualitäten, nämlich süß, salzig, sauer, bitter und umami, was ‚herzhaft‘ oder ‚würzig‘ bedeutet (vlg. Zimmer 2012, S. 148). Jedoch erfolgen nur zwanzig Prozent der Aufnahme von Geschmacksempfindungen über die Zunge, die restlichen achtzig Prozent werden in Form von Duft- und Aromastoffen über die Nase aufgenommen (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 129), was wiederum den engen Zusammenhang von Geruchs- und Geschmackssinn bestätigt.

Die Wahrnehmungssensibilisierung im gustatorischen Bereich ist für Kinder vor allem deswegen wichtig, da das Nahrungsangebot heute mit zahlreichen künstlichen Geschmacksstoffen angereichert ist, wodurch eine Einschränkung der Geschmacksentwicklung verursacht wird (vgl. Bestle-Körfer und Stollenwerk 2013, S. 129). Die olfaktorische und gustatorische Wahrnehmungsschulung fokussiert die Erkennung, Unterscheidung und Wertschätzung unterschiedliche Gerüche und Geschmäcker frischer Lebensmittel. Auch persönliche Erfahrungen und dabei entstehende Emotionen, sowie Nahrungsmittelvergeudung und -armut können thematisiert werden (vgl. Stummer 2014, S. 71).

2.5 Wahrnehmungssensibilisierung in der Rhythmik

Die Wahrnehmungssensibilisierung bildet eines der drei Hauptziele der Rhythmik (vgl. Stummer 2014, S. 47). Aber auch durch die beiden weiteren Ziele (Förderung des Sozialverhaltens und der Kreativität) wird die Wahrnehmungsschulung unterstützt, welche durch den Einsatz der Mittel der Rhythmik (Musik, Stimme und Sprache, Bewegung und Materialien) ermöglicht und umgesetzt wird. Musik sensibilisiert beispielsweise das akustische System, während Bewegung zahlreiche sensorische Reize für Muskeln, Gelenke und Sehnen liefert (vgl. Stummer 2014, S. 53). Die Kombination von Musik und Bewegung, welche in der Rhythmik im Vordergrund steht, ist eine optimale Möglichkeit zur Förderung der Grob- und Feinmotorik. Dies trägt dazu bei, dass sich die Gehirnhälften besser verbinden können, was wiederum insbesondere für den Schuleinstieg von Bedeutung ist, da diese Gehirnleistung eine Grundvoraussetzung bildet, welche für das Erlernen des Schreibens notwendig ist. Auditive Wahrnehmungsspiele, verschiedene Fortbewegungsarten, musikalische Begleitung von Spielen, Lieder, Tänze und der Einsatz von Instrumenten sind nur einige Möglichkeiten, wie dies praktisch umgesetzt werden kann. Die Förderung der Sensomotorik (Hören/Sehen/Tasten/Spüren mit Bewegung) steht in der Rhythmik ebenso im Vordergrund (vgl. Hirler 2012, S. 37f).

Bei der Wahrnehmungsschulung mit Kindern sollte beachtet werden, dass sie zeitlich nicht zu lange dauert. Abwechslungsreiche und vielseitige Angebote mit spielerischem Charakter helfen dabei, dass die Kinder möglichst konzentriert und motiviert bleiben und keine Langeweile und Unruhe aufkommt. So sollten die Stunden so konzipiert sein, dass sich entspannende und bewegungsreiche Elemente (Spannung und Entspannung), sowie soziale Gruppenformen und der Einsatz von Bewegung, Materialien und sozialen Lernangeboten abwechseln. Außerdem sollte darauf geachtet werden, dass die Übergänge zwischen den verschiedenen Spielen und Angeboten fließend sind bzw. die Kinder in Umbauarbeiten eingebunden werden. Ein wichtiger Aspekt in Bezug auf Wahrnehmungssensibilisierungsprozesse ist die freiwillige Teilnahme des Kindes, ansonsten kann es schnell passieren, dass sich die Kinder vor den Angeboten verschließen und der Nutzen, den sie aus den Angeboten ziehen könnten, weitaus geringer ausfällt. Eine angenehme und behütete Atmosphäre ist aus diesem Grund ebenso anzustreben (vgl. Stummer 2014, S. 54). Außerdem ist unbedingt darauf zu achten bei den gustatorischen Sensibilisierungsangeboten im Vorfeld diverse Nahrungsmittelunverträglichkeiten der teilnehmenden Kinder abzuklären (vgl. Steinmeyer 2012, S. 39f).

3. Praktischer Teil

Im zweiten Teil dieser Arbeit sollen nun die erworbenen theoretischen Kenntnisse in die Praxis umgesetzt werden. Dies erfolgt anhand der Planung, Durchführung und Reflexion eines Projekts zum Thema ‚Ich entdecke meine Sinne – Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter‘.

3.1 Anthropogene Voraussetzungen

Die Auswahl jener Kinder, welche an meinem Projekt teilnehmen, wird im Vorfeld von der gruppenführenden Pädagogin unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen von meiner Seite (Alter und Anzahl der Kinder) vorgenommen. Insgesamt werden acht Kinder im Alter von fünf und sechs Jahren teilnehmen. Davon sind sechs Kinder weiblich und zwei männlich. Die beiden Integrationskinder der Gruppe nehmen ebenfalls am Projekt teil. Die Kinder zeigen sich neuen und ihnen unbekannten Personen aufgeschlossen und kontaktfreudig. In Bezug auf diverse Angebote sind sie sehr motiviert. Generell haben alle Kinder meines Projekts ein großes Bedürfnis nach Bewegung und kinästhetischen Reizen.

Ich selbst bin etwas unsicher, da ich die Kinder kaum kenne und nicht einschätzen kann, inwieweit sie mein Projekt und die darin enthaltenen Angebote annehmen können. Der erste Kontakt beim Kennenlerntag ist allerdings sehr positiv verlaufen. Die Kinder haben mich freudig begrüßt, mir mit großer Freude die Einrichtung gezeigt und mit mir geplaudert, gespielt und gesungen. Ich gehe mit der Erwartung in das Projekt, dass ich meine Angebote so gestalten und erklären kann, dass die Kinder diese verstehen und daraus einen Nutzen ziehen können. Allerdings ist mir auch bewusst, dass Wahrnehmungsangebote von Kindern viel Konzentration abverlangen und es trotz der Pause und dem bewegungsorientierten Fokus sein kann, dass sich die Kinder vor dem geplanten Ende der Einheiten nicht mehr konzentrieren können und unruhig werden. Daher und aufgrund der Tatsache, dass ich die Kinder kaum kenne und diese deswegen kaum einschätzen kann, möchte ich bezüglich der Umsetzung sehr flexibel bleiben und die theoretische Planung zwar als Leitfaden und Grundkonzept nutzen, jedoch nicht auf der identen Umsetzung dieser beharren.

3.2 Soziokulturelle Voraussetzungen

Ich werde mein Projekt im Pfarrcaritas Kindergarten St. durchführen, da Kinder im vorschulischen Alter aus den im theoretischen Teil der Arbeit angeführten Gründen (siehe Kapitel 2.3, S. 4-7) besonders der kontinuierlichen Aktivierung der Sinne und deren gezielten Sensibilisierung bedürfen und von Angeboten dahingehend besonders profitieren. Da es sich um einen kirchlichen Träger handelt (Caritas) kommt insbesondere dem Feiern kirchlicher Feste besondere Bedeutung zu, wie Palmsonntag und Ostern, Erntedankfest, Martinsfest, Nikolausfest, Advent und Weihnachten.

Der Kindergarten besteht aus zwei Krabbelgruppen und vier Kindergartengruppen, wovon eine als Integrationsgruppe geführt wird. Da die räumlichen Ressourcen nicht genügend Platz für alle Gruppen bieten, sind eine Kindergarten- und eine Krabbelgruppe fünf Gehminuten vom Hauptgebäude entfernt untergebracht. Dieses Jahr wird der gesamte Kindergarten jedoch so erneuert und umgebaut, dass alle Gruppen im Hauptgebäude Platz finden können. Neben den Gruppenräumen ist der Kindergarten mit einem Turnsaal, einem Speisesaal, einem Schlafraum und einem Garten ausgestattet. Die Institution legt Wert auf die Vermittlung eines gesunden Lebensstils. So wird den Kindern vormittags und nachmittags ein Obst- und Gemüseteller zum Verzehr angeboten, Wasser getrunken und einmal im Monat mit den Kindern ein gesundes Buffet zubereitet. Zudem finden regelmäßige Bibliotheksbesuche und diverse Ausflüge (z.B. Feuerwehr, Skikurs etc.) vor allem mit den älteren Kindern statt. Auch die Wahrnehmungsförderung ist ein zentrales Anliegen des Kindergartens, weswegen mein Projekt gut ins Leitbild der Institution passt.

Ich werde mein Projekt mit einigen Kindern der Integrationsgruppe durchführen. In dieser werden insgesamt siebzehn Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren vormittags und zum Teil auch am Nachmittag betreut. Zwei Kinder haben einen integrativen Status, welcher für mich vor allem an deren mangelnder Konzentrationsfähigkeit deutlich wird. Während in den anderen Gruppen je eine Pädagogin und eine Helferin tätig sind, verfügt die Integrationsgruppe über eine weitere Stützpädagogin, welche sich insbesondere den Bedürfnissen der beiden Integrationskinder annimmt.

3.3 Stundenbilder

Ich werde das sechsstündige Projekt in Form von drei Doppeleinheiten gestalten:

- 1. Doppeleinheit: 16. Jänner 2017 von 0900 - 1115 (inklusive 15 Min. Jausenpause)
- 2. Doppeleinheit: 30. Jänner 2017 von 0900 - 1115 (inklusive 15 Min. Jausenpause)
- 3. Doppeleinheit: 06. Februar 2017 von 0900 - 1115 (inklusive 15 Min. Jausenpause)

Jede Doppeleinheit beginnt und endet mit einem Ritual. Zwischen den Doppeleinheiten findet eine Pause statt, in der die gemeinsame Jause mit den anderen Kindern stattfindet.

Anfangsritual:

Alle Kinder setzen sich in einen Kreis. Ein Kuscheltier (das kleine Ich-Bin-Ich) begrüßt sie. In der Mitte liegen mehrere Kärtchen mit verschiedenen Wettersituationen (Sonne, Sonne mit Wolken, Regen und Gewitter). Analog ihrer Stimmung suchen sich die Kinder ein Kärtchen aus und sagen, wie es ihnen geht, sowie ihren Namen in der ersten Doppeleinheit. Danach wird das Thema ‚Sinne‘ thematisch bearbeitet, indem ich den Kindern ein Bild von jenen Wahrnehmungsorganen zeige, die wir in der Doppelstunde behandeln und gemeinsam besprechen, wofür wir sie brauchen. Außerdem werden die Sinne der letzten Einheiten wiederholt.

Endritual:

Alle Kinder sitzen im Kreis. Nach der Reihe darf jedes Kind das kleine Ich-Bin-Ich halten und sagen, welche Spiele ihm gut bzw. nicht so gut gefallen haben. Am Ende verabschiedet sich das kleine Ich-Bin-Ich mit einem Bussi von jedem Kind.

3.3.1 Vorbereitung und Reflexion der ersten Doppeleinheit

Thema: visuelle (1. Einheit) und auditive (2. Einheit) Sinnesschulung

Ziele der ersten Einheit

Richtziel:

- Sensibilisierung der Wahrnehmung

Grobziele:

- Sensibilisierung der visuellen Wahrnehmung
- Förderung der Konzentration

Feinziele:

- Kind kennt das Sinnesorgan Auge und dessen Funktion.
- Kind kann Farben und Formen unterscheiden und benennen.
- Kind kann Bewegungen, Bilder und Gesichtsausdrücke visuell erfassen und nachahmen.
- Kind kann durch das Sehen von Formen auf die dazugehörenden Gegenstände schließen.

Ziele der zweiten Einheit

Richtziel:

- Sensibilisierung der Wahrnehmung

Grobziele:

- Sensibilisierung der auditiven Wahrnehmung
- Förderung der Konzentration

Feinziele:

- Kind kennt das Sinnesorgan Ohr und dessen Funktion.
- Kind kann sich allein auf das Wahrnehmen von akustischen Reizen konzentrieren und akustisch wahrgenommene Informationen verbalisieren.
- Kind kann aus mehreren Tönen bzw. Geräuschen bestimmte akustische Reize bewusst herausfiltern (Reizselektion) und räumlich zuordnen.
- Kind kann auf einen akustischen Reiz eine passende körperliche Reaktion (Bewegung) folgen lassen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 36 Seiten

Details

Titel
"Ich entdecke meine Sinne". Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter
Hochschule
Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz  (Kolleg für Sozialpädagogik)
Veranstaltung
Rhythmisch-musikalische Erziehung und Didaktik
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2017
Seiten
36
Katalognummer
V371281
ISBN (eBook)
9783668492233
ISBN (Buch)
9783668492240
Dateigröße
659 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rhythmik, Rhythmisch-musikalische Erziehung, Pädagogik, Didaktik, Kinder, Jugendliche, Wahrnehmung, Sinne, Wahrnehmungssensibilisierung, sehen, hören, tasten, riechen, schmecken, bewegen, Gleichgewicht, visuell, akustisch, taktil, olfaktorisch, gustatorisch, vestibulär, kinästhetisch, Augen, Ohren, Haut, Muskeln, Zunge, Nase, Gleichgewichtsorgan, Wahrnehmungsprozess, Wahrnehmungsorgane
Arbeit zitieren
Stefanie Loibingdorfer (Autor:in), 2017, "Ich entdecke meine Sinne". Wahrnehmungssensibilisierung im Kindesalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/371281

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