Einleitung
In den letzten Jahren der Weimarer Republik gelingt es Walter Benjamin, die von ihm angestrebte Stellung eines der hervorragendsten Kritiker deutscher Sprache einzunehmen . Neben seinen zahlreichen Arbeiten zu geschichtsphilosophischen und kunstsoziologischen Themen verfasst er eine beachtliche Anzahl an Kritiken und Rezensionen. Diese werden in den bedeutenden Literaturblättern der Zeit publiziert, beispielsweise in der „Literarischen Welt“. Viele Rezensionen erscheinen auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Er sah sich jedoch nicht in der Tradition der zahlreichen anderen Kritikern in Deutschland; mit der Institution der deutschen Kritik war Benjamin mehr als unzufrieden.
1930, als Erich Kästners Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft erscheint, konstantiert Benjamin den „[...] Verfall der literarischen Kritik seit der Romantik“1. Von einer Krise der Kritik möchte Benjamin zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr sprechen: „Es ist allmählich dahin gekommen, daß sie die Erschlaffung und die Harmlosigkeit selber geworden ist.“2 Walter Benjamin ist nicht gewillt diese Situation einfach hinzunehmen, es bedarf seiner Meinung nach einer Veränderung. Er schreibt ein Programm zur Literaturkritik, welches im zweiten Teil der Arbeit thematisiert wird. Unter anderem werden folgende Fragen zur Diskussion stehen: Welche Ansprüche stellt Benjamin an die neue Literaturkritik? Und ist es ihm möglich, sie verbindlich für seine eigenen Schriften als Grundlage zu verwenden?
Exemplarisch hierfür soll Benjamins Rezension zu Kästners Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft zur Betrachtung herangezogen werden. Der erste Teil beschäftigt sich näher mit Benjamins Argumenten und Erkenntnissen, die er in „Linke Melancholie“ dem Leser verständlich machen will. Benjamins Kritiken sind mehr als bloße Urteile über die literarischen Werke. Für ihn ist Literatur ein gesellschaftliches Phänomen und somit ein Gegenstand der literatursoziologischen Erkenntnis. Benjamin analysiert die Lyrik Kästners deshalb auch auf ihrer literatursoziologischen Ebene. Er untersucht das literarische Werk als ein Sozialdokument der Zeit der Weimarer Republik und kommt zu aufschlussreichen Erkenntnissen bezüglich der linken Intelligenz in Deutschland, zu der auch Kästner zählt.
Inhalt
1 Einleitung
2 Hauptteil
2.1 Kästners Literatur als Sozialdokument
2.1.1 Das analysierte Publikum
2.1.2 Kästner und die Neue Sachlichkeit
2.2 Eine neue Form der Kritik
3. Resümee
4. Literatur
1. Einleitung
In den letzten Jahren der Weimarer Republik gelingt es Walter Benjamin, die von ihm angestrebte Stellung eines der hervorragendsten Kritiker deutscher Sprache einzunehmen . Neben seinen zahlreichen Arbeiten zu geschichtsphilosophischen und kunstsoziologischen Themen verfasst er eine beachtliche Anzahl an Kritiken und Rezensionen. Diese werden in den bedeutenden Literaturblättern der Zeit publiziert, beispielsweise in der „Literarischen Welt“. Viele Rezensionen erscheinen auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Er sah sich jedoch nicht in der Tradition der zahlreichen anderen Kritikern in Deutschland; mit der Institution der deutschen Kritik war Benjamin mehr als unzufrieden.
1930, als Erich Kästners Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft erscheint, konstantiert Benjamin den „[...] Verfall der literarischen Kritik seit der Romantik“[1].
Von einer Krise der Kritik möchte Benjamin zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr sprechen: „Es ist allmählich dahin gekommen, daß sie die Erschlaffung und die Harmlosigkeit selber geworden ist.“[2]
Walter Benjamin ist nicht gewillt diese Situation einfach hinzunehmen, es bedarf seiner Meinung nach einer Veränderung. Er schreibt ein Programm zur Literaturkritik, welches im zweiten Teil der Arbeit thematisiert wird. Unter anderem werden folgende Fragen zur Diskussion stehen: Welche Ansprüche stellt Benjamin an die neue Literaturkritik? Und ist es ihm möglich, sie verbindlich für seine eigenen Schriften als Grundlage zu verwenden?
Exemplarisch hierfür soll Benjamins Rezension zu Kästners Gedichtband Ein Mann gibt Auskunft zur Betrachtung herangezogen werden.
Der erste Teil beschäftigt sich näher mit Benjamins Argumenten und Erkenntnissen, die er in „Linke Melancholie“ dem Leser verständlich machen will.
Benjamins Kritiken sind mehr als bloße Urteile über die literarischen Werke. Für ihn ist Literatur ein gesellschaftliches Phänomen und somit ein Gegenstand der literatursoziologischen Erkenntnis.
Benjamin analysiert die Lyrik Kästners deshalb auch auf ihrer literatursoziologischen Ebene. Er untersucht das literarische Werk als ein Sozialdokument der Zeit der Weimarer Republik und kommt zu aufschlussreichen Erkenntnissen bezüglich der linken Intelligenz in Deutschland, zu der auch Kästner zählt.
2. Hauptteil
2.1 Kästners Literatur als Sozialdokument
2.1.1 Das analysierte Publikum
Benjamin gelangt in seiner Rezension zu einem scharfen Urteil über Kästner, dessen Lyrik und die gesamte Literatur der Neuen Sachlichkeit, zu welcher Kästner sich selbst zählt, obwohl oder gerade weil Kästners Lyrikband Ein Mann gibt Auskunft sich großer Beliebtheit erfreut. Vor allem in einer sozialen Schicht scheint die Popularität besonders groß zu sein. Das Publikum Kästners setzt sich vorrangig aus Vertretern der Schicht der Großunternehmer zusammen, welche von Benjamin analysiert und treffend charakterisiert werden. Das Bild fällt erwartungsgemäß negativ aus.
Schon die Darstellung des Äußeren ist wenig schmeichelhaft: Charakterisierend sind „[...] ihre verträumten Babyaugen hinter der Hornbrille, die breiten weißlichen Wangen, die schleppende Stimme [...]“[3]. Selbst dem Ausdruck „verträumte Babyaugen“, obwohl meist mit etwas Positivem assoziiert, haftet hier durch die weiteren Aufzählungen eine negative Konnotation an: Naivität im Umgang mit der Realität, die sie sich in ihrer verantwortungsvollen Position nicht leisten können. Hinzu kommt passend eine Sehschwäche, für welche die Hornbrille notwendig ist und der „Fatalismus in Gebärde und Denkungsart“[4].
Die „aus unbeträchtlichen Anfängen“[5] stammenden Großunternehmer verdanken ihren höheren Status nicht harter Arbeit. Egoismus ist einer ihrer hervortretenden Charakterzüge, „nur für sich selbst [...] disponierten“[6] sie, nicht für eine Familie mit Kindern; für die Gründung einer solchen fehlt die Zeit.
Sie missbrauchen ihre Machtposition. Nicht selten hinterlassen sie auf der Karriereleiter hässliche Spuren und Opfer: Es sind „Großverdiener [...], deren Weg über Leichen geht.“[7] Schon im ersten Satz der Charakterisierung erfahren die Unternehmer in bezug auf ihre berufliche Tätigkeit eine strikte Abwertung: Es ist eine „Schicht, [...] [die] sich wie keine andere auf die Nacktheit, die Maskenlosigkeit ihrer ökonomischen Physiognomie etwas zu gute tat.“[8] In der „Blindheit ihres Wirkens“[9] sind sie gegen jede Anfeindung durch einen Schutzschild gefeit, skrupellose Geschäftsmänner, die für Menschlichkeit und Liebe keinen Platz in ihrem Terminkalender finden.
Trotz ihres Reichtums kennen sie keine Zufriedenheit und kein Glück in ihrem Leben: „[...] die armen reichen Leute [blasen] Trübsal [...].“[10] Schwermütig und melancholisch bestreiten sie ihren Alltag. Benjamin nennt diesen Zustand mit allgegenwärtiger Ironie „gequälte Stupidität“[11].
Die Unternehmer sind verkommen zu adipösen, langsamen Gestalten, die im Überfluss leben und nicht wissen, wofür sie ihr Geld verwenden sollen, denn leider kann man „[...] sein Geld nicht restlos seinem Magen zuwenden [...].“[12] Die Industriellen sind „schwerfällige[...], traurige[...] Puppen“[13] des Wirtschaftsgeschehens, die aber „[...] dem Produktionsprozeß am fernsten stehen[...]“[14].
Walter Benjamin beginnt seine Rezension mit einem vernichtenden Urteil über die Großbourgeoisie, die herrschende Klasse der kapitalistischen Gesellschaft. Diese ist Kästners „großes und im Geschmack unsicheres Publikum“[15], um es genauer zu sagen: „auf diese Schicht bleiben Stoffkreis und Wirkung beschränkt [...]“[16] Benjamin wirft Kästner vor, dass die Unternehmerschicht das Ende seines Horizontes darstellt und keine andere soziale Schicht bei ihm Beachtung findet. Das Publikum des Autors ist begeistert; kein Wunder, Kästner überschlägt sich in Schmeicheleien, „[...] indem er ih[m] vom Aufstehen bis zum Zubettgehen den Spiegel weniger vorhält als nachträgt.“[17] Benjamin verdeutlicht diesen Aspekt an einem besonders anschaulichen Vergleich:
„Die Abstände zwischen seinen Strophen sind in ihrem Nacken die Speckfalten, seine Reime ihre Wulstlippen, seine Zäsuren Grübchen in ihrem Fleisch, seine Pointen Pupillen in ihren Augen.“[18]
Aber was erfährt der Leser der Rezension über Kästners Lyrik? Dass Benjamin keinen konventionellen Maßstäben des Kritisierens folgt, ist schon durch die ausführliche Analyse des Publikums des Werkes deutlich geworden. Und so bekommen wir nur rudimentäre bis keine Informationen zum Inhalt des Gedichtbandes. Benjamin nennt lediglich die Titel von zwei Gedichten aus dem besprochenen Lyrikband und stellt mit wenigen Worten sehr kurz den Inhalt dar. Doch dies ist nicht das Anliegen des Rezensenten, er visiert einen größeren Zusammenhang an.
[...]
[1] Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Band VI. Fragmente und Autobiographische Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1985, S. 163. Bei allen weiteren Zitaten aus den Gesammelten Schriften wird nur der entsprechende Band angegeben, es wurde die selbe Ausgabe benutzt.
[2] ebenda, S. 161.
[3] Benjamin, Walter: III, S. 279.
[4] ebenda
[5] ebenda
[6] ebenda
[7] ebenda, S. 283.
[8] ebenda, S. 279.
[9] ebenda, S. 283.
[10] ebenda, S. 282.
[11] ebenda, S. 283.
[12] ebenda
[13] ebenda
[14] ebenda
[15] ebenda, S. 282.
[16] ebenda, S. 279.
[17] ebenda
[18] ebenda
- Arbeit zitieren
- Karin Neumann (Autor:in), 2003, Der Stratege im Literaturkampf. Walter Benjamins Rezension "Linke Melancholie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37308
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