Die Theorien Rousseaus und der "Federalist Papers" im Vergleich. Was können sie heute für die EU leisten?


Bachelorarbeit, 2014

47 Seiten, Note: 1,6


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Jean-Jacques Rousseau
2.1 Rousseaus zeitgenössisches Gesellschaftsbild
2.2 Naturzustand
2.2.1 Die Eigenschaften des Menschen
2.2.2 Austritt aus dem Naturzustand - über die sittlich/politische Ungleichheit und die Freiheit
2.3. Der Gesellschaftsvertrag- ein staatstheoretisches Ideal
2.3.1. Der Allgemeinwille
2.3.2 Transformation des Freiheitsverständnisses
2.3.3 Gesetze - der Bürger als Autor und Adressat der Gesetze
2.3.4 Die Konstruktion der Tugend
2.4 Die "Éducation" zum tugendhaften Bürger
2.4.1 Politische Anthropologie - Vorbilder für erzieherische Tätigkeiten
2.4.2.Erziehung
2.4.2.1 Unterricht
2.4.2.2 Sport - Körperliche Erziehung und Spiele
2.4.2.3 Von Festen, Symbolen und dem "Gründungsmythos"
2.5 Die Republik
2.5.1 Repräsentation
2.5.2 Die Einteilung in verschiedene Regierungen
2.5.3 Die Demokratie: ideale Regierungsform der Republik
2.6 Die Größe für sich
2.7 Die Homogenität der Gesellschaft

3. Die "Federalist Papers"
3.1 Das Menschenbild und Gesellschaftsverständnis
3.2 Die Faktionen und ihre Wirkung
3.3 Das Demokratieverständnis der Federalist Papers
3.4 Das Republikverständnis und die Notwendigkeit der Repräsentation
3.5. Die Gewaltenteilung
3.6 Die Größe an sich und die Heterogenität der Gesellschaft

4. Vergleich zwischen Rousseau und den Federalist Papers

5. Rousseau, die Federalist Papers und die EU

6. Schlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

"SEINE MAJESTÄT DER KÖNIG DER BELGIER, DER PRÄSIDENT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, DER PRÄSIDENT DER FRANZÖSISCHEN REPUBLIK, DER PRÄSIDENT DER ITALIENISCHEN REPUBLIK, IHRE KÖNIGLICHE HOHEIT DIE GROSSHERZOGIN VON LUXEMBURG, IHRE MAJESTÄT DIE KÖNIGIN DER NIEDERLANDE, IN DEM FESTEN WILLEN, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker zu schaffen,

ENTSCHLOSSEN, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen,

IN DEM VORSATZ, die stetige Besserung der Lebens-und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker als wesentliches Ziel anzustreben,

IN DER ERKENNTNIS, daß zur Beseitigung der bestehenden Hindernisse ein einverständliches Vorgehen erforderlich ist, um eine beständige Wirtschaftsausweitung, einen ausgewogenen Handelsverkehr und einen redlichen Wettbewerb zu gewährleisten,

IN DEM BESTREBEN, ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern,

IN DEM WUNSCH, durch eine gemeinsame Handelspolitik zur fortschreitenden Beseitigung der Beschränkungen im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr beizutragen,

IN DER ABSICHT, die Verbundenheit Europas mit den überseeischen Ländern zu bekräftigen, und in dem Wunsch, entsprechend den Grundsätzen der Satzung der Vereinten Nationen den Wohlstand der überseeischen Länder zu fördern,

ENTSCHLOSSEN, durch diesen Zusammenschluß ihrer Wirtschaftskräfte Frieden und Freiheit zu wahren und zu festigen, und mit der Aufforderung an die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, sich diesen Bestrebungen anzuschließen,

HABEN BESCHLOSSEN, eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen;"

-Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, Präambel

Mit diesem Vertrag, unterzeichnet am 25. März 1957 in Rom, wurde der Grundstein für die Europäische Union geschaffen. Doch welche Ziele waren es, die erfüllt werden sollten? Einerseits, bereits durch die Namensgebung des Vertrages gekennzeichnet, bildete die wirtschaftliche Zusammenarbeit einen zentralen Pfeiler des Integrationsprozesses und gleichzeitig äußerten die Staatsoberhäupter der Gründungsstaaten den "Willen, die Grundlagen für einen wachsenden Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen" (Leiße 2009 : 7). Aus der Erfahrung beider von Europa ausgehender Weltkriege empfand man es als eine Notwendigkeit, die Völker Europas, die gewachsenen Nationalstaaten auf einer institutionellen Plattform zu einen und durch eine zunächst wirtschaftliche Verflechtung so zu verbinden, dass Konflikte zukünftig friedlich zu lösen seien.

Doch was brachte diese wirtschaftliche Verflechtung mit sich, innerhalb der nun 67 Jahre (1957-2014) des Bestehens einer sich ideologisch wie auch geographisch weiterentwickelnden Gemeinschaft? Innerhalb des Vortrages "Legitimacy, Justification and Seccession" von Glyn Morgan wurde von diesem ein Problem der nun Europäischen Union[1] aufgezeigt: Die Frage nach der politologischen "Staatsform" und somit auch die Problematik nach den Aufgaben der EU selbst. Sie stellt heute, dem Willen der Gründungsmitglieder folgend, keinen bloßen Verbund zum Zwecke der ökonomischen Zusammenarbeit mehr dar, andererseits wird sie weitgehend noch als kein Föderal-Staat wahrgenommen. Dies bringt einige Probleme mit sich. Eines, welches als das zentrale Problem, aus republikanischer Sicht, erscheint, ist das Fehlen eines "Bürger-Selbstverständnisses". Das politische Selbstverständnis der Bürger bezieht sich fast ausschließlich auf die Nationalstaaten und ihre nationalen Gesellschaften. Meist sind es nationale Orientierungen, welche der EU und anderen Mitgliedstaaten zugeschrieben werden (vgl. Bach 2013 : 104-105). Hierfür könnte der zunehmende Europa-Skeptizismus ein Indiz sein:

"Europas Bürger haben es so gewollt: Im nächsten Europäischen Parlament werden sehr viel mehr EU-Skeptiker sitzen […] Manche lehnen den europäischen Einigungsprozess grundsätzlich ab, andere prangern einzelne Politikbereiche der EU an oder kritisieren die harte Sparpolitik. Doch alle haben erkannt: Die EU taugt als Feindbild, als Projekt der abgehobenen Eliten. "Wir da unten gegen die da oben", das ist der Duktus der Populisten."[2]

Beispielsweise fordert die "Alternative für Deutschland" in ihrem Wahlprogramm: "eine Rückgabe von Kompetenzen an die einzelnen Länder"[3]. Dieser Skeptizismus kann so weit gehen, dass in einigen Mitgliedstaaten, wie z.B. in Großbritannien, starke Bestrebungen zu einem Austritt aus der Union bestehen[4].

Was ist es, das die Europa-Skeptiker instrumentalisieren, um sich in ihren Heimatstaaten zusätzliche Wählerschichten zu generieren, und woher kommt diese Skepsis? Ist es nicht das Verständnis des Bürgers, als einzig und allein des Bürgers eines Nationalstaates? Das Verständnis dessen, dass die EU nichts Weiteres als die Beschneidung der eigenen, staatsbürgerlichen Souveränität bedeutet und dadurch für fast jegliches innerstaatliches Übel verantwortlich ist? Wenn man die EU als lediglich eine Kommunikationsplattform der Repräsentanten einzelner Staaten denken würde, wäre es nicht von Bedeutung, was "der Bürger" gegenüber dieser empfindet und denkt, wie er handelt. Da die EU jedoch nicht mehr als eine solche Plattform agiert, sondern, die einzelnen Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränitätsrechte in den Verträgen an die EU abtreten, erscheint eine demokratische Legitimation der supranationalen Organisation der EU als notwendig.

Auf dieser Ebene fehlt ein Verständnis dafür, dass die EU nicht nur als loser Verbund darstellt ist, sondern sie als eine Idee gedacht werden kann, in welcher es den europäischen Bürger geben kann und zum Zwecke der Legitimation auch geben muss. Auch mangelt es an der Einsicht, dass die EU keinen von der Basis, dem Bürger, abgetrennten Überbau bildet, welcher teilweise sinnfreie Verordnungen erlässt, sondern erst die Basis den Überbau mit Sinn, der Legitimität, füllt. Der Vertrag über die Verfassung für Europa bzw. sein Scheitern durch die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden, wiesen eine Spaltung und vor allem ein unterschiedliches Verständnis der Frage, was die EU sein solle, auf. "Das europäische Verfassungswerk,[…]könnte also längst einen transnationalen Patriotismus generiert haben" (Mayer 2007 : 24). Doch ist dies (vorerst) gescheitert.

Es scheint so, als ob z.B. Verordnungen über den Grad der Krümmung von Gurken oder die Leitfähigkeit von Honig[5] tatsächlich das Bewusstsein über die Funktionsweise der EU prägen würden und Errungenschaften, wie der freie Personenverkehr innerhalb der Mitgliedsstaaten oder die GFP (gemeinsame Fischerei Politik-Reform [in Kraft getreten am 01.01.2014]), mit ihren sowohl ökonomischen als auch ökologischen Schutzmaßnahmen, und die EU-Umweltnormen, welche zu den strengsten der Welt zählen[6], in den Hintergrund treten. Als ein Indiz hierfür könnte man die sehr niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2014 in Ländern wie zum Beispiel der Tschechischen Republik (18,2%) oder der Slowakei (13,0%) sehen[7].

Aus dem rechtspopulistischen und/oder europa-skeptischem Spektrum muss sich die EU nun vermehrt der Frage stellen lassen, ob sie nicht schlicht zu verschiedene Nationalitäten mit ihren spezifischen Kulturen beherbergen würde. Vereinfacht dargestellt ist es eine Frage nach der erforderlichen Homogenität der Gesellschaft - oder ob die Heterogenität die Größe eines Staates einschränkt. Vor diesem Hintergrund sollen in dieser Arbeit zuerst zwei verschiedene Perspektiven von Demokratie und Republik als Staatsverständnis und deren damit einhergehende Konzeptionen des Bürgers und der Ausdehnung der Herrschaft dargestellt werden.

Der erste Teil hat Jean-Jacques Rousseau zum Gegenstand, wobei hier insbesondere auf die Elemente des Naturzustandes, des Allgemeinwohls, der Republik und der Erziehung zum tugendhaften Bürger eingegangen wird. Der zweite Schwerpunkt nimmt die Federalist Papers zur Thematik. Hier gilt es, das spezifische Menschen- und Gesellschaftsbild herauszuarbeiten, auf das Demokratieverständnis zu verweisen, das Republikverständnis und die Repräsentationsnotwendigkeit darzustellen, sowie die Gewaltenteilung in den Fokus zu nehmen. Im dritten Schritt geht es um eine Gegenüberstellung der beiden Positionen von Rousseau und den Theoremen der Federalist Papers und der Herausarbeitung spezifischer Merkmale, sowohl differenzierend als auch verbindend. Zum Vierten wird der Versuch unternommen in wie fern die dargelegten historischen Positionen im gegenwärtigen europäischen Einheitsprozess einen Transfer leisten können.

2. Jean-Jacques Rousseau

"Wenn man untersucht, worin das größte Wohl aller genaugenommen besteht, das der Zweck jedes Systems der Gesetzgebung sein soll, so wird man finden, daß es am Ende auf jene zwei hauptsächlichen Ziele hinausläuft: Freiheit und Gleichheit." (Rousseau CS II 11 : 311)

2.1 Rousseaus zeitgenössisches Gesellschaftsbild

Jean-Jacques Rousseau lebte im 18. Jahrhundert (1712-1778). Die realen gesellschaftlichen Problemlagen, welche er kritisierte und einer Lösung zuführen wollte, unterschieden sich von denen der heutigen Zeit. Seine Demokratietheorie ist in diesem historischen Kontext zu sehen und nicht direkt auf die Perspektive der "Realisierbarkeit" in der heutigen Zeit zu untersuchen. Jedoch kann sie einige "Denkanstöße" geben und "als Modell demokratischer Verhältnisse ganz anderer Art" (Fetscher 1980 : 15) angesehen werden.

Rousseau sieht die europäischen Gesellschaften seiner Zeit in einem Stadium des Konkurrenzkampfes, einerseits der Individuen und andererseits der sozialen Gruppen, welche er in die "riches" und die "pauvres" einteilt (vgl. Ebd.: 26). In dem Vorwort zu seiner Oper "Narcisse" konkretisiert er den Ursprung dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung (vgl. ebd.: 22): Der Mensch ist getrieben durch ein Streben nach Anerkennung durch andere. Dieses Streben nach Anerkennung ist jedoch nicht dasselbe Streben nach "allgemeine[r] Anerkennung jedes Staatsbürgers als Glied des souveränen Ganzen" (ebd.: 21), sondern nach der "individuellen Wertschätzung, die jeder - auf Kosten seiner Mitmenschen - zu erlangen sucht" (ebd.).

Die Individuen messen sich in dieser Gesellschaft je nach Besitz anstatt nach Tugend - und der Besitz, der Luxus, macht die Menschen voneinander abhängig (vgl. ebd.: 22). Dabei ist das individuelle "Glück" mit dem Glück des anderen verwoben, so z.B. im Handel (vgl. Rousseaus Vorwort zur Oper "Narcisse" zitiert nach Fetscher 1980 : 22). Eine derart wechselseitige Handlungsoption kann von allen Interakteuren nicht erwartet werden. Vielmehr kommt nun das Mittel der Täuschung und des gegenseitigen "Zugrunderichtens" zum Vorschein.

Dieses individualistische Streben führt dazu, dass nur einige wenige sich tatsächlich an der Gesellschaft bereichern können und "die Menge im Elend dahin kriecht" (vgl. ebd.: 23) und den "Reichen und Sophisten, das heißt Feinde der Tugend" (ebd.), in dieser Gesellschaft die Anerkennung für ihr individualistisch-egoistisches Handeln zukommt. Die Maximen der Gesellschaft sind nun also Schlechtigkeit und Eigennutz anstatt Rechtschaffenheit und Tugend (vgl. ebd.). In Abgrenzung zu Hobbes sind diese Laster bei Rousseau jedoch keine natürlichen Eigenschaften des Menschen, sondern es sind Eigenschaften, die "dem schlecht regierten Menschen angehören" (ebd.: 23).

Den sozialen Konstruktivismus der Eigenschaften des Menschen erläutert Rousseau anhand einer möglichen politisch-sozialen Anthropologie, indem er das Individuum vor jeglicher Vergesellschaftung betrachtet und damit versucht, die Grundlagen der Ungleichheit und der Lasterhaftigkeit seiner aktuellen Gesellschaft zu erläutern und später einen theoretischen Lösungsvorschlag, den Gesellschaftsvertrag, zu erarbeiten.

2.2 Naturzustand

2.2.1 Die Eigenschaften des Menschen

Rousseau versteht den Naturzustand des Menschen als einen "Zustand vor jeglicher Vergesellschaftung", einen Zustand der Freien unter den Gleichen (Becker/ Schmidt/ Zintl 2006 : 65). Dieser Zustand dient ihm dazu, beschreiben zu können, welche psychischen Eigenschaften des Menschen veränderbar, also gesellschaftlichen Ursprungs sind oder erst durch die Vergesellschaftung hervorgeholt werden können und welche unveränderlich, natürlich, dem Menschen innewohnen und lediglich unterdrückt werden können. Die natürlichen Eigenschaften sind: Selbstliebe "amour de soi", Mitleidsfähigkeiten und einfache Bedürfnisse. Wohingegen das Streben nach Macht, Reichtum, Status, Neid, zusammengefasst als "amour-propre" und verfeinerte Bedürfnisse rein gesellschaftlicher Abstammung sind. Sprache und Kultur im Allgemeinen gehören jedoch zur dritten, hybriden Kategorie, welche erst durch den Zustand der Vergesellschaftung hervortreten können (Vgl. ebd.: 65). Das Besondere an dieser Sichtweise ist, dass Rousseau nun der Gesellschaft und aus den ihr erwachsenden Aspekten, wie z.B. Normen und Werte der Menschen, eine "soziale Konstruktion" zugesteht (vgl. Llanque 2008 : 255), was Auswirkungen auf die Rolle der Emotionen und den Ursprung der Tugend haben wird.

2.2.2 Austritt aus dem Naturzustand - über die sittlich/politische Ungleichheit und die Freiheit

Innerhalb des Prozesses der Vergesellschaftung kam es dazu, dass nicht die "guten" Eigenschaften der dritten Kategorie am stärksten hervorgehoben wurden, sondern die "schlechten" der zweiten Kategorie, welche den Menschen korrumpierten (vgl. Becker/ Schmidt/ Zintl 2006 : 66). Rousseau veranschaulicht dies anhand des Beispiels, dass "der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, es sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: Dieses ist mein, und einfältige Leute fand, die es ihm glaubten[…]" (Rousseau, DI II, 93). Durch das Schaffen von dauerhaftem Privateigentum und vor allem "die Einfältigkeit und der Gehorsam der Leute" (Sturma 2003 : 40) wurde der Naturzustand so verändert, dass es zur dauerhaften Ungleichheit der Lebenslagen kommen konnte, oder, anders formuliert, kam es erst durch diese willkürliche Fehlentwicklung zum Austritt des Menschen aus dem Naturzustand (vgl. Richter 1994 : 56). Dies begünstigte zusätzlich, dass wegen der natürlichen Ungleichheit der Talente der Menschen einige mehr Besitz anhäufen konnten als andere. Die Ungleichheit an Besitz schuf die beiden Klassen der "riches" und der "pauvres" (vgl. Fetscher 1980 : 45). Es entsteht eine wechselseitige Abhängigkeit, um den eigenen Lebensunterhalt noch erstreiten zu können[8] (vgl. ebd.).

Rousseaus Mensch differenziert zwischen zwei Handlungsmotivationen: Einerseits "amour de soi" und andererseits "amour-propre". Der amour de soi bezieht sich auf den Naturzustand und gilt nur der Selbsterhaltung des Individuums. Wie dem Menschen, so auch dem Tier, ist dieser Selbsterhaltungstrieb gegeben (ebd.: 75). Durch die Abhängigkeit von anderen Menschen bildet sich jedoch durch die Vergesellschaftung der amour-propre, in welchem der Mensch "dazu genötigt ist, ihre[der anderen Menschen] Hilfe zu erbitten" (ebd.: 47). Der Mensch geht dabei dazu über, dass er List und Gewalt anwendet, um "die anderen" zu seinen Mitteln zu formen (vgl. ebd.). Ferner besteht das Interesse nicht mehr in der puren Selbsterhaltung, sondern in der Anerkennung und Wertschätzung, durch den Rest der Gesellschaft: in der "opinion".

Jene Ungleichheit auf materieller Ebene schuf gleichsam eine Ungleichheit im Bereich des Rechts und der Möglichkeiten der politischen Einflussnahme (vgl. Becker/ Schmidt/ Zintl 2006 : 66), somit eine Ungleichheit der Freiheit des Unvermögenden, Hörigen, und des Vermögenden, welche Rousseau erst in seiner Schrift "Ursprung und Grundlagen der Ungleichheit" analysierte und gegen welche er sich nun im Gesellschaftsvertrag richtete (vgl. Hölzing 2011 : 154 ff).

Der Mensch, nun vergesellschaftet, bezieht sein Interesse, aus der Ungleichheit hervorkommend, primär auf seine egoistischen Bedürfnisse, ausgehend von der opinion, und nicht auf das Wohl aller. Die Macht gilt dem Einzelnen als das sicherste Mittel, um Anerkennung zu erlangen. Das Versklaven und Herrschen wird das primäre Ziel der Besitzenden (vgl. Fetscher 1980 : 47). Es besteht eine fundamentale Abwesenheit von Freiheit des einzelnen Beherrschten. Das natürliche Mitleid, der Arterhaltung dienend, ist insofern korrumpiert, dass es "verwässert", je mehr Menschen zusammentreffen und je unterschiedlichere Lebenslagen sie einnehmen (vgl. ebd.: 76).[9]

Rousseau betrachtet den Austritt des Menschen aus dem Naturzustand als irreversibel und trotz der "korrumpierten Menschen" eine solche Reversion auch nicht als erstrebenswert (vgl. Sturma 2003 : 27), da die Vergesellschaftung der Menschen erst gewisse, von ihm als "positiv" erachtete Anlagen (Sprache und Kultur) zur Entfaltung bringt; vielmehr erörtert er, wie eine "moderne" Gesellschaft, basierend auf den aus dem Naturzustand abgeleiteten Idealen der Freiheit und Gleichheit, gebildet werden kann (vgl. Becker/ Schmidt/ Zintl 2006 : 67), und zwar mit dem vorherrschenden Zweck der Maximierung der Freiheit aller Mitglieder in der Gesellschaft.

2.3. Der Gesellschaftsvertrag- ein staatstheoretisches Ideal

"Da nun die Menschen keine neuen Kräfte hervorbringen, sondern nur die vorhandenen vereinigen und lenken können, so haben sie kein anderes Mittel, sich zu erhalten, als durch Zusammenschluß eine Summe von Kräften zu bilden, die den Widerstand überwinden könnte, und diese durch die eine einzige Triebfeder in Bewegung zu bringen und gemeinsam wirken zu lassen." (Rousseau, CS I 6 : 279)

Diese Aussage Rousseaus im sechsten Kapitel des Werkes "Vom Gesellschaftsvertrag" bildet einen Schwerpunkt der anvisierten Überlegungen: Sie beinhaltet die Formel dessen, dass sich eine Gesellschaft lediglich durch den Zusammenschluss der Einzelnen weiter zu einem Besseren transformieren kann. Jedoch besteht dieser Zusammenschluss nicht auf der Basis der Individuen, sondern erwächst aus der gemeinschaftlichen Unterstellung seiner "Person und seine[r] ganze[n] Kraft der obersten Leitung des Gemeinwillens, [und wir nehmen als Körper jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf]" (Rousseau, CS I 6 : 280 ff.).

Innerhalb dieses vertraglichen Zusammenschlusses gilt für Rousseau die Grundprämisse der natürlichen Freiheit: dass jedes "Glied des Körpers" eine moralisch-politische Gleichheit besitzt (vgl. Hölzing 2011 : 155). Nur eine solche auf diesen Prinzipien basierende vertragliche Ordnung des menschlichen Zusammenlebens gilt für ihn als legitime staatliche Ordnung (vgl. Fetscher/ Münkler 1985 : 484) : Eine politische Ordnung, in welcher der Mensch "anderen Menschen ungeachtet deren sozialen Unterschieden als Freien und Gleichen begegnen kann: die Republik." (Llanque 2008 : 256). Doch wie entsteht so eine Ordnung?

2.3.1. Der Allgemeinwille

Als Grundlage dieser Ordnung dient Rousseau die Konstruktion des Allgemeinwillens, der "volonté générale", welcher abgrenzend zu einer Gesamtheit der Einzelwillen, dem "volonté des tous" steht, da sich dieser aus der Aggregation der egoistisch motivierten Einzelwillen zusammensetzt (vgl. Fetscher/ Münkler 1985 : 484 und vgl. Llanque 2008 : 256). Der Allgemeinwille ist demnach nicht die Summe der Einzelwillen und auch nicht "das Interesse aller Einzelnen als Einzelnen" (Fetscher 1980 : 124), sondern der Wille einer kollektiven Gemeinschaft (vgl. ebd.). Der Prozess des Findens des "volonté générale" hat zwei Prämissen:

1. Die Voraussetzung, dass sich alle Bürger des Staates mit gleichem Stimmgewicht an diesem Prozess beteiligen, d.h. jeder in die Entscheidungsfindung einbezogen ist. (vgl. Schaal/ Heidenreich 2006 : 148).
2. Der Allgemeinwille ist nicht repräsentierbar, d.h. jeder Bürger muss seine Meinung, was der Allgemeinwille sei, direkt abgeben (vgl. Rousseau, CS II 3 : 291). Rousseau hält es für undenkbar, dass sich die Gesellschaft bei einer Abstimmung über den Gesellschaftsvertrag in verschiedene Teile mit verschiedenen Willen spaltet. In diesem Fall wäre ein "volonté des tous" gegeben. Die Grundlage ist jedoch, dass nicht der Wille der einzelnen Teile abgefragt wird, sondern die Meinung, was der Allgemeinwille sei (vgl. ebd. und vgl. Schaal/ Heidenreich 2006 : 149).[10]

Der Allgemeinwille kommt erst dann zustande, wenn "sich jedes Mitglied mit all seinen Rechten der Gemeinschaft völlig überantwortet" (Rousseau, CS I 6 : 280). Durch diese willentliche Veräußerung der eigenen Rechte wird zuallererst eine situative Gleichheit geschaffen, in welcher die Prämissen des Gesellschaftsvertrages für alle gleich sind und keine privaten Rechte mehr gelten, welche Neid unter den Vertragspartnern für die Herstellung des Allgemeinwillens wecken könnten (vgl. Fetscher/ Münkler 1985 : 484).

Doch wie kann es sein, dass der Mensch seine individuelle Freiheit veräußert und dann noch als "frei" bezeichnet werden kann?

[...]


[1] Anmerkung des Autors: Im Folgenden "EU"

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/populismus-in-europa-das-sind-die-europaskeptiker-1.1933410 (zuletzt aufgerufen am 20.06.2014)

[3] https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/2014/05/AfD_Europawahl_Programm_web.pdf (zuletzt aufgerufen am 24.08.2014)

[4] http://www.handelsblatt.com/politik/international/eu-austritt-der-britische-alptraum/10020982.html (zuletzt aufgerufen am 24.08.2014)

[5] http://www.merkur-online.de/aktuelles/welt/absurdesten-eu-richtlinien-374737.html zuletzt aufgerufen am 23.08.2014

[6] http://europa.eu/pol/env/index_de.htm zuletzt aufgerufen am 23.08.2014

[7] http://www.ergebnisse-wahlen2014.eu/de/turnout.html zuletzt aufgerufen am 23.08.2014

[8] Anmerkung des Autors: Im Gegensatz dazu ist der Mensch im Naturzustand völlig autonom. Er braucht nichts und niemanden, um sich selbst zu versorgen.

[9] Anmerkung des Autors: Schon hier zeichnet sich sein kleinräumiges Herrschaftsideal ab, da in einer kleineren Gesellschaft die Liebe zu den anderen stärker sein kann.

[10] Genauer unter: 2.3.3 Gesetze - der Bürger als Autor und Adressat der Gesetze

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Die Theorien Rousseaus und der "Federalist Papers" im Vergleich. Was können sie heute für die EU leisten?
Hochschule
Universität Augsburg  (Philologisch- Sozialwissenschaftliche Fakultät)
Note
1,6
Autor
Jahr
2014
Seiten
47
Katalognummer
V373976
ISBN (eBook)
9783668512269
ISBN (Buch)
9783668512276
Dateigröße
653 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Roussean, Federalist Papers, EU, Contrat Social, Europäische Union, Politische Theorie, Politische Philosophie, Allgemeinwohl, Demokratie, Demokratietheorie
Arbeit zitieren
Adam Hošek (Autor:in), 2014, Die Theorien Rousseaus und der "Federalist Papers" im Vergleich. Was können sie heute für die EU leisten?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/373976

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