Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod". Ein Lehrstück des Antisemitismus?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2015

16 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Fassbinder-Kontroversen

3. Überprüfung des antisemitischen Gehalts
3.1 Literarischer Antisemitismus nach Martin Gubser
3.2 Literarischer Antisemitismus nach Klaus-Michael Bogdal

4. Zur Wirkung des Stücks

5. Ergebnis

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mit dem Theaterstück Der Müll, die Stadt und der Tod1 sorgte Rainer Werner Fassbinder für weltweites Aufsehen und Entsetzen. Die vermeintliche Verarbeitung der Geschehnisse im Frankfurter Westend durch sein Stück rief eine „lebhafte öffentliche Debatte hervor, in deren Mittelpunkt der Vorwurf des Antisemitismus gegen den Autor stand“2. Es sind provokante und vor allem klischeehafte Äußerungen, die von Fassbinders Text ausgehen und die jüdische Bevölkerung in hohem Maße diffamieren, wie die Untersuchungen herausstellen werden. Dennoch ist der Vorwurf des literarischen Antisemitismus in Müll bis heute umstritten. Kaum ein anderes literarisches Werk hat im Nachkriegsdeutschland derart unterschiedliche Gefühle bei seinen Rezipienten ausgelöst: Wut, Hass, Abscheu, Unverständnis und Angst. Doch wie sind diese Emotionen zu deuten? Projiziert der Rezipient seine Wut auf die Antisemiten im Stück oder fühlt er sich durch das Verhalten der Nazis wie Müller oder Hans von Gluck sogar in seinen antisemitischen Denkweisen bestätigt?

Auf Grundlage dieser Fragestellung soll in der vorliegenden Arbeit explizit untersucht werden, inwiefern Fassbinders Text als Lehrstück für Antisemitismus zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, zunächst den jahrzehntelangen Verlauf der so genannten Fassbinder-Kontroversen zu betrachten. Im Anschluss daran soll kritisch begutachtet werden, ob der Vorwurf des literarischen Antisemitismus an Müll zu Recht erhoben wird. Um den antisemitischen Gehalt des Textes nachweisen zu können, wird im ersten Teil dieser Untersuchung die Darstellung des Reichen Juden aufgezeigt. Anhand dieser Darstellung wird dann analysiert, ob und wenn ja, inwiefern, der Jude im Stück dem Stereotyp nach Martin Gubsers Merkmalskatalog des literarischen Antisemitismus entspricht. Zudem scheint durch das Rachemotiv des Juden und die Figuren Hans von Gluck und Müller ein literarischrn Antisemitismus nach Auschwitz in Müll zu existieren. Daher sollen im zweiten Teil die antisemitischen Aussagen des Textes im Hinblick auf Klaus-Michael Bogdals Untersuchungen zum literarischen Antisemitismus nach 1945 betrachtet werden.3 Grundsätzlich ist dabei zu beachten, dass diese Analyse auf dem literarischem Text von 1975 beruht. Dies ist insofern relevant, als dass für spätere Schauspielaufführungen einzelne Textpassagen und Figurendarstellungen verändert wurden.

Der dritte Teil dieser Arbeit widmet sich explizit der Wirkung von Müll auf den Rezipienten. Ein Vergleich zweier Essays soll eine differenzierte Perspektive auf den Effekt von Fassbinders Stück ermöglichen. Abschließend wird ein Fazit aus all diesen Untersuchungen gezogen.

2. Die Fassbinder-Kontroversen

Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Müll begannen im März 1976 die Diskussionen zu Fassbinders Stück, die zu den „längsten und medial umfangreichsten kulturpolitischen Kontroversen in Deutschland mit internationalem Echo“4 zählen. Die Darstellung einzelner kritischer Stimmen soll im Folgenden einen Einblick in die Fassbinder-Kontroversen liefern. Grundsätzlich sind die Debatten um den Fassbinder-Skandal in drei Zeitrahmen einzugrenzen: die erste Kontroverse im Jahr 1976, die zweite Kontroverse 1984 und die dritte Kontroverse 1985.5 Die erste der drei genannten galt als „Kultur-Kontroverse“6 und wurde hauptsächlich in den Feuilletons behandelt. Für Joachim Fest war Müll beispielweise das „Symptom eines neuen linken Antisemitismus und Faschismus“7 ; Benjamin Henrichs betrachtete das Stück als „Aufschrei-Drama“ und nannte es einen regelrechten „poetische[n] Amoklauf“8. Jean Améry, der das Stück „gefährlich“9 nannte, war sich hingegen sicher, dass Fassbinders Stück nicht antisemitisch sei, ebenso wenig wie der Autor selbst. Stattdessen hielt Améry Fassbinder für einen „schlechten Dramatiker“, einen „psychologieverlassene[n], unphilosophische[n] Kopf und unhistorische[n] Mensch[en].“10 Die Meinungen darüber, ob und inwieweit Fassbinders Stück literarischer Antisemitismus zur Last gelegt werden kann, gingen stark auseinander. Der Verleger Siegfried Unseld erkannte: „Das Stück greift mit Recht ein Tabu an. Doch Fassbinders wenig differenzierte Holzschnitt-Technik entgeht nicht der Gefahr, gefährliche Klischees, die Stück und Autor bekämpfen wollen, für ein durch deutsche Geschichte belastetes Publikum erst wieder zu reproduzieren.“11 Besteht eben genau darin die Gefahr, dass Rezipienten den Reichen Juden als „Alibi für politische Vorurteile“12 benutzen könnten? Der Reiche Jude galt als „negative Identifikationsfigur“, die „Abscheu und Haß verdiene“13, und ein „Fingerdruck auf die alte, schwelende Wunde der Deutschen“14 sei, wie Kritiker einwendeten.

In einem Interview vom 9. April 1976 bezieht Fassbinder Stellung zu dem ihm vorgeworfenen antisemitischen Gehalt seines Stückes.15 Eine von seinem Werk ausgehende Gefahr scheint Fassbinder nicht greifbar, stattdessen sei es gerade die Tabuisierung der Juden seit 1945 in Deutschland, die zu einer Gegnerschaft zwischen Juden und Nicht-Juden geführt habe.16 Diese Reaktion des Autors, der sein Stück als „spontane Reaktion auf eine Wirklichkeit [...] in Frankfurt“17 betrachtete und sich wegen der deutschen Vergangenheit in seiner künstlerischen Freiheit eingeschränkt fühlte, löste bei einigen Rezipienten Unverständnis aus. Jegliche antisemitische Anschuldigungen - darunter auch sehr persönliche - wies der Autor zurück und bezichtigte gerade jene Kritiker des Antisemitismus, die ihm diesen vorwarfen. Die Situation in Deutschland sowie das Umgehen von Gefahren und Gefahrsituationen lieferten laut Fassbinder die Motivgründe für sein Werk. Statt einen Antisemitismus entstehen zu lassen, sei es laut ihm selbst Fassbinders Intention, Dinge zu diskutieren, denn auf diese Weise würden sie „ungefährlicher, weniger beängstigend, als wenn man nur hinter vorgehaltener Hand darüber reden kann.“18

Die berechtigte Frage, ob der deutschen Bevölkerung zu einem Stück, dem literarischer Antisemitismus vorgeworfen wird, der Zugang ermöglicht werden sollte, tritt auf. Joachim Kaiser, der Müll als eines der „aufregendsten“19 Stücke Fassbinders rezensierte, nahm unmittelbar Stellung zu dieser Problematik und plädierte für die Veröffentlichung zum Lesen, nicht aber für eine Aufführung. Zeitgleich reagierten betroffene Künstler in diesem Zusammenhang sensibel auf die Einschränkung künstlerischer Freiheit durch die Zensur in einer Demokratie.20 Der Verlag selbst zog infolge der öffentlichen Debatten das Buch zurück; 1981 erschien der Text schließlich beim Verlag der Autoren.

Rund zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung des Textes forderte Peter Zadek in einem Leserbrief, erschienen in der ZEIT am 13. September 1985, die Aufführung des Schauspiels.21 Seine These unterstützte Zadek mit der Überzeugung, dass das zeitgenössische Theaterpublikum in Deutschland „objektiv genug denken kann, um zu sehen, daß ihm ein Stück stürmerartiger Antisemitismus vorgeführt wird.“22 Für den 31. Oktober 1985 wurde schließlich, nach dem Scheitern im Jahr 1984, die Erstaufführung des Stücks am Schauspielhaus Frankfurt geplant. Während man die Debatten im Jahr 1984 als „Karriere/Kompetenz-Kontroverse zwischen verschiedenen Protagonisten der Frankfurter Kulturszene“23 verstand, wurde die dritte zu einer politischen Kontroverse. Es ging um die Frage, ob man, mit einer zeitlichen Distanz von 40 Jahren zum zweiten Weltkrieg, die Vergangenheit als abgeschlossen und die Gegenwart als „normalisiert“ betrachten könne. Wenige Tage vor der geplanten Aufführung äußerte sich der Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel polemisch zu dem Vorhaben:

Wir sollten unsere Neigung, Bewältigung der Vergangenheit so mißzuverstehen, daß wir uns zum Präzeptor mundi erwählt wähnen, mindestens was Israel anbetrifft, etwas zügeln, damit nicht dem Schrecklichen das Peinliche folgt. Peinlich und fragwürdig, fragwürdig wie das fast zwanghafte Bedürfnis, ein Theaterstück aufführen zu wollen, das von jüdischen Mitbürgern als Kränkung empfunden wird. Es fragt sich: „Muß das sein?“ Hier findet wohl, ausgelöst durch den Zweifel, ob man sich traue, so etwas wie eine Mutprobe statt.24

Als Antwort auf die Frage, wie die Aufführung in Frankfurt ausgesehen hat, ist Wladimir Struminskis Artikel, erschienen in der JERUSALEM POST am 31. Oktober 1985, lesbar. In ihm wird beschrieben, wie jüdische Demonstranten die Bühne besetzten und die Uraufführung verhinderten.25 Schließlich fand im Jahr 1987 die Uraufführung von Müll in New York statt; die deutsche Erstaufführung folgte 2009.

[...]


1 Im Folgenden ‚Müll’ genannt.

2 Bodek, Janusz: Ein „Geflecht aus Schuld und Rache“? Die Kontroversen um Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese, Holger Gehle et al. Frankfurt/Main; New York: Campus 1998 (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts 6), S. 351. Im Folgenden zitiert als ‚Bodek, 1998’.

3 Gemeint ist: Bogdal, Klaus-M.: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Perspektiven der Forschung. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, hg. von Klaus-M. Bogdal, Klaus Holz et al. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 1-12. Im Folgenden zitiert als ‚Bogdal, 2007‘.

4 Bodek, Janusz: Fassbinder ist nicht Shakespeare, Shylock ist kein Überlebender des Holocaust. Kontroversen um „Der Müll, die Stadt und der Tod“. In: Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, hg. von Klaus-M. Bogdal, Klaus Holz et al. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 179. Im Folgenden zitiert als ‚Bodek, 2007’.

5 Vgl. Bodek, 1998.

6 Ebd.

7 Lichtenstein, Heiner (Hg.): Die Fassbinder-Kontroverse oder das Ende der Schonzeit. Königstein/Ts.: Athenäum 1986, S. 32. Im Folgenden zitiert als ‚Lichtenstein, 1986’.

8 Beides: Ebd., 1986, S. 34.

9 Ebd., S. 42.

10 Beides: Ebd., S. 40.

11 Ebd., S. 39.

12 Ebd., S. 36.

13 Lichtenstein, 1986, S. 70.

14 Ebd., S. 73.

15 Gemeint ist das Interview „Philosemiten sind Antisemiten“, erschienen in der ZEIT am 9. April 1976.

16 Vgl. ebd., S. 43.

17 Ebd.

18 Ebd., S. 45.

19 Ebd., S. 33.

20 Vgl. ebd., S. 47.

21 Vgl. Lichtenstein, 1986, S. 65.

22 Ebd.

23 Bodek, 1998, S. 354.

24 Lichtenstein, 1986, S. 77.

25 Vgl. ebd., S. 92.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod". Ein Lehrstück des Antisemitismus?
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen  (Institut für Germanistik)
Note
1,7
Jahr
2015
Seiten
16
Katalognummer
V373993
ISBN (eBook)
9783668514898
ISBN (Buch)
9783668514904
Dateigröße
541 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rainer Werner Fassbinder, Literarischer Antisemitismus
Arbeit zitieren
Anonym, 2015, Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod". Ein Lehrstück des Antisemitismus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/373993

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