Islamische Moral und Multiple Modernen. Eine Analyse des Verhältnisses von Religion und Wirtschaft


Seminararbeit, 2017

18 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Kontext – Religion, Moderne und Säkularität
2.1. Die Säkuläre Moderne
2.2. Vielfalt in der Moderne – „Multiple Modernities“

3. Islamische Ökonomien in der Moderne
3.1. Entstehung einer islamischen Ökonomie durch den Einfluss kapitalistischer Lohnarbeit
3.2. Analyse der Prozesse in Örselli
3.3. Islamische Ökonomien im Transnationalen Kontext

4. Fazit/ Schlussbemerkung

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

In der öffentlichen Wahrnehmung sind in einer scheinbar säkularisierten Welt die Beziehungen von Religion und Wirtschaft auf Diskussionen um die Kirchensteuer und ähnliche Themen beschränkt. Ökonomie und Religion werden zumeist als weitgehend getrennte Bereiche wahrgenommen. Der akademische Diskurs hat hierzu jedoch in den letzten Jahrzehnten eine außerordentliche Fülle an Theorien entwickelt. Häufig werden hier diese Beziehungen mit Klassikern der Religionssoziologie und der Ethnologie wie Emilé Durkheim, Max Weber und Marcel Mauss in Verbindung gebracht. Sie konzentrieren sich jedoch überwiegend auf präkapitalistische Formen des Wirtschaftens.

Ihr Ausgangspunkt ist die Annahme, dass es zwischen der Moderne und Religion ein Spannungsverhältnis gibt, welches langfristig zu einem sozialen Bedeutungsverlust von Religion führt. Dafür verantwortlich gemacht werden insbesondere die mit der Modernisierung verbundenen Prozesse der Rationalisierung, Individualisierung und Ausdifferenzierung von Gesellschaften, die Weber auch mit dem Begriff der „Entzauberung der Welt“ (Weber 1919:16) beschreibt. Ausgehend von Europa — so die Annahme — werde sich dieses „cultural programm of modernity“ (Eisenstadt 2000:1) als dominierendes Model auf die restliche Welt übertragen.

Im Zuge von Globalisierung und Postmoderne haben sich jedoch Forschungsrichtungen entwickelt, die nicht nur die religiösen und theologischen Grundlagen von rationalen Wirtschaftsordnungen erforschen, sondern auch die ethnozentrischen Grundannahmen kritisieren, die der Teilung von Religion und Wirtschaft zugrunde liegen.

Die tatsächlichen Weltwirtschaftlichen Entwicklungen haben gezeigt, dass Modernisierungsprozesse keiner evolutionistischen Einbahnstraße zur westlichen Hegemonie folgen. So lassen beispielsweise das Erstarken von Pfingstbewegungen im Neokapitalismus, vor allem in der Sub-Sahara Afrikas (siehe Woodberry 2006, Meyer 1999;2013), die Bedeutung von „Ghostmoney“ in Vietnam (siehe Kwon 2007) oder auch das Aufkommen von moralischen islamischen Ökonomien (siehe Kuran 1997, Hefner 2006) erkennen, dass theologische Ideen und die Wirtschaftssysteme in der sogenannten Moderne starken Einfluss aufeinander ausüben.

Diese Seminararbeit thematisiert deshalb islamische Moralvorstellungen in der sogenannten Moderne und folgt der Fragestellung in welcher Wechselwirkung diese sich mit Ökonomie befinden. Mittels des Konzeptes Multipler Modernen nach Eisenstadt soll am Beispiel von islamischen Ökonomien das Verhältnis von Religion und Wirtschaft beleuchtet werden. Dafür wird in einem ersten Schritt die Theorie des Konzeptes in Bezug auf Eisenstadt und Casanova dargestellt. Anschließend wird ein Fallbeispiel von Kimberly Hart aus einer dörflichen Region in der Türkei herangezogen, um die Grundpfeiler der dort entwickelten moralischen Ökonomie herauszuarbeiten und unter dem Gesichtspunkt von Eisenstadts Theorie zu diskutieren. Das Phänomen Islamic Banking und islamischer Subokönomien sollen anschließend ebenfalls in diesem Kontext verortet werden. Abschließend werden in einem Fazit die Erkenntnisse in Bezug auf die Wechselwirkungen von Religion und Wirtschaft in einer sogenannten modernen Welt zusammengefasst dargestellt.

2. Theoretischer Kontext – Religion, Moderne und Säkularität

Um die Fragestellung dieser Arbeit zu kontextualisieren, ist es von Bedeutung einige theoretische Entwicklungen in der Religionsanthropologie und -soziologie vorzustellen, die die Basis für die Debatte um Religion und Moderne bilden. Da es eine Vielzahl an Veröffentlichungen im Bereich der Modernitätstheorien gibt und diese wiederum eingebettet sind in weitreichende Globalisierungstheorien, habe ich mich in Anbetracht des Umfangs dieser Arbeit dazu entschlossen, hauptsächlich in Anlehnung an Casanovas Ausarbeitungen zu Säkularität und Eisenstadts Theorie Multipler Modernen[1] zu arbeiten. Diese sollen im Folgendem kontextbezogen vorgestellt werden.

2.1. Die Säkulare Moderne

“ The world today [...] is as furiously religious as it ever was, and in some places more so than ever ” (Berger 1999:2).

Über ein Jahrhundert lang war die große Mehrheit der Sozialwissenschaftler aus dem euro-amerikanischen Kontext davon überzeugt, dass Religion eine nachlassende historische Kraft sei (Vgl. Eisenstadt 2000:1). Die tiefe Einbettung von Theorien über Säkularität in der geschichtlichen Entwicklung der Sozialwissenschaften als akademische Disziplin, machte sie zu dem vorherrschenden Paradigma, um Prozesse der Modernisierung und die sich verändernde Rolle von Religion zu erklären. Säkularitätstheorien dienten so als zentrale Wissenschaftskategorie, um die sozialen Transformationsprozesse in Europa seit dem späten Mittelalter bis zur heutigen Zeit zu interpretieren. In diesem Sinne wurde Säkularität als Prozess verstanden, der zur Differenzierung der Gesellschaft führt und letztendlich religiöse Einflüsse aus der öffentlichen Domäne verschwinden lässt, sowie generell die Relevanz von Religion in der Gesellschaft schmälert (Vgl. Casanova 2006: 9).

Die evolutionistische Idee das die moderne Gesellschaft funktional in unterschiedliche Sub-Systeme (Politik, Wissenschaft, Wirtschaft etc.) gegliedert ist und sich somit von religiösen Institutionen emanzipiert, spielt dabei in fast allen Säkularitätstheorien eine essentielle Rolle. Dieser Prozess wurde als grundlegend für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft gesehen und war besonders in den akademischen Bereichen Europas lange Zeit unbestritten (Casanova 2006:9). Casanova zufolge ist die Säkularitätstheorie deshalb eigentlich ein Teilbereich von anderen Differenzierungstheorien über Gesellschaft, sei es die universelle Evolutionstheorie von Durkheim oder die sich historisch spezifischer auf westliche Modernisierung beziehende Theorie von Weber. Für beide genannten Soziologen bildet Säkularität eine Bedingung und zugleich Ergebnis von modernen gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen (Casanova 1994:18).

Zentral für Webers Überlegungen war sein Konzept von Rationalität als unverwechselbares Merkmal und treibende Kraft für gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung im modernen Europa. Ihm zufolge spielte der seit dem 17. Jahrhundert aufkommende Rationalisierungsprozess eine wichtige Rolle bei der Konstituierung des modernen bürokratischen Staates und der Bildung eines kapitalistischen ökonomischen Systems. In einer immer vorhersagbareren und kontrollierbareren Welt, würde es in der modernen Gesellschaft hiernach keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte mehr geben (Vgl. Weber 1919:16). Dem entsprechend würde jede religiöse Interpretation in einer mehr und mehr rationalisierten Welt, in der scheinbar alles berechenbar ist, veralten.

Durkheim hingegen schrieb das schwinden von Religion in modernen Gesellschaften dem Prozess der Individualisierung zu. Nach seinem funktionalen Verständnis von Religion als grundlegend kollektiven Gegenstand, geht das Verschwinden religiöser Praktiken und Handlungen einher mit dem generellen Verlust von Solidarität in der Gesellschaft. Als Konsequenz ist Religion nicht länger im Stande seine integrative Funktion für die Gesellschaft zu erfüllen und verliert an Relevanz.

Casanova beschreibt, wie diese Annahmen den Grundstein aller Überlegungen zu Säkularität bilden, da sie von späteren Generationen an Sozialwissenschaftlern aufgegriffen und in ihre neuen Theorien zur Moderne inkorporiert wurden. So wurde das Paradigma, dass Modernisierung Religion säkular und zu einem funktionalen System oder zu einer privaten Angelegenheit machen würde, immer weitergetragen (Vgl. Casanova 1994:18).

Doch trotz aller Vorhersagen von Säkularisierungs- und Modernisierungs-Theoretikern über die Privatisierung und den stetigen Verfall der Relevanz von Religion, haben die letzten Jahrzehnte, wie einleitend bereits erwähnt, viele religiöse Bewegungen hervorgebracht, die großen öffentlichen Einfluss hatten. Die erfolgreichsten Strömungen konnten ihre Anhängerzahl vor allem so stark vergrößern, weil sie zugängliche und inkorporierende Botschaften im Hinblick auf Märkte, Konsum und Reichtum bieten (siehe hierzu Kitiarsa 2008; Hefner 2010). Betrachtet man diese Entwicklungen, scheint die Behauptung, dass Säkularität eine unvermeidliche Folge von Modernisierung ist, die nach einer Konvergenz mit dem euro-amerikanischen Systemen strebt, zu einfach. Es gilt offenbar nicht für die vielfältigen und komplexen Wege auf denen Religionen auf Prozesse der Modernisierung antworten. Noch weniger plausible scheint diese These, wenn versucht wird sie universell anzuwenden (Casanova 2006:12). Es lassen sich unzählige Beispiele aufführen, die zeigen, dass Religionsgemeinschaften trotz oder gerade durch den Prozess der Modernisierung wachsen und gedeihen, wie Casanova versucht am Beispiel der Unterschiedlichkeiten der USA und Europa deutlich zu machen. Offensichtlich ist es möglich, dass in unserer heutigen Welt sogenannte moderne Gesellschaften existieren, die sowohl säkular als auch zur gleichen Zeit tief religiös sein können (siehe Casanova 2006).

Die meisten aktuellen Debatten über Moderne und Religion problematisieren oder verwerfen im Zuge der postmodernen Kritik deshalb diese Meta-Narrative über Säkularisierung, da sie zu eurozentristisch ist.

Auch Eisenstadts Konzept multipler Modernen basiert auf eben dieser Kritik. Hier wird von einer offenen Moderne ausgegangen, in der Platz für multiple Interpretationen dieser ist. Sein Ansatz soll deshalb im folgendem Abschnitt vorgestellt werden.

2.2. Vielfalt in der Moderne – „Multiple Modernities“

„One of the most important implications of the term ‚multiple modernities’ is that modernity and Westernization are no identical“ (Eisenstadt 2000:2f)

Der im September 2010 verstorbene Soziologe Shmuel Noah Eisenstadt gehört zweifellos zu den wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts. Das von ihm begründete Konzept der multiplen Modernen fand weltweit Anerkennung. Er beschreibt, dass Entwicklungen von neuen Zentren der Moderne, die sich oftmals konfliktreich gegenüberstehen, auf der ganzen Welt beobachtet werden können. Diesen neuen Zentren liege zwar ein westliches Modell zugrunde, es wird aber ständig reinterpretiert und rekonstruiert. Diese verschiedenen Interpretationen der Moderne manifestieren sich in verschiedenen institutionellen und ideologischen Mustern und werden durch verschiedene Akteure vorangetrieben:

These ongoing reconstructions of multiple institutional and ideological patterns are carried forward by specific social actors in close connection with social, political, and intellectual activists, and also by social movements pursuing different programs of modernity, holding very different views on what makes societies modern. Through the engagement of these actors with broader sectors of their respective societies, unique expressions of modernity are realized. (Eisenstadt 2000:2)

Diese kulturellen Programme der Moderne sind, so Eisenstadt, vor allem durch ihre Reflexivität, ihre Offenheit und Ungewissheit und ihre Gestaltbarkeit gekennzeichnet. Die zentrale Herausforderung moderner Gesellschaften sei, die Entwicklung und institutionelle Verankerung posttraditionaler Grundlagen von Vertrauen, Identität, Solidarität, Legitimation und sozialer Integration (ibid. 2000: 4f.). Entsprechend zeigen sich in allen Gesellschaften nach Eisenstadt Differenzen in den wichtigsten Sphären, die die von den klassischen Modernisierungstheorien postulierte Annahme der Konvergenz moderner Gesellschaften obsolet erscheinen lassen. Sei es in Wirtschaft, Politik oder im kulturellen Bereich: Überall finden sich voneinander unabhängige Merkmale, die in den verschiedenen Gesellschaften in verschiedenen zeitlichen Perioden unterschiedlich kombiniert werden. Sogar in Gesellschaften mit einer ähnlichen wirtschaftlichen Entwicklung, wie der großen industriell-kapitalistischen Systeme in Europa, den USA oder Japan, lässt sich nicht von einer Konvergenz reden.

Im Zentrum dieser kulturellen Programme stehen demzufolge die Emanzipation des Einzelnen von traditioneller Politik und den kulturellen Autoritäten. Nach der Theorie der multiplen Modernen setzt sich das Bewusstsein durch, dass sich die Gesellschaft durch individuelle Aktivitäten beeinflussen und verändern lässt (ibid.: 5). Das fördert die Entstehung großer Protestbewegungen und Revolutionen. Dieses neue Protestpotenzial ist wiederum essentiell für die Entwicklung moderner Gesellschaften bzw. institutioneller und struktureller Veränderungen. Angesichts der schwindenden Attraktivität von Nationalstaaten und (klassischen) sozialen Bewegungen, haben sich dem entsprechend sowohl in den sogenannten westlichen, als auch in anderen Ländern neue politische, soziale und zivilisatorische Visionen und kollektive Identitäten entwickelt (ibid.: 16 ff).

In diesem Sinne können Religionen als „social actor“ (ibid.: 2) verstanden werden, die alternative Vorstellungen von Modernität bereitstellen und neue Formationen von Identität erzeugen. Casanova beschreibt diesen Umstand wie folgt:

At the societal level of what could be called “imagined religious communities,” secular nationalism and national “civil religions” will continue to be prominent carriers of collective identities, but ongoing processes of globalization are likely to enhance the re- emergence of the great “world religions” as globalized transnational imagined religious communities. While new cosmopolitan and transnational imagined communities will emerge, the most relevant ones are likely to be once again the old civilizations and world religions. (Casanova 2006:19)

Auch Spohn schreibt in seinen Ausführungen über das Konzept der Multiplen Modernen, dass religiöse Traditionen als spezielle Ausprägungen kultureller Prozesse als grundlegende Elemente moderner Gesellschaften anerkannt werden. Trotz Säkularisierung formen diese Traditionen die multiplen kulturellen Programme von Moderne und vielseitigen Prozesse von Modernisierung (Spohn 2003: 269).

3. Islamische Ökonomien in der Moderne

Die Fragestellung dieser Arbeit will untersuchen inwiefern sich aufzeigen lässt, dass islamische Moralvorstellungen und Wirtschaftssysteme sich beeinflussen. Hierzu sollen im nächsten Schritt zwei Entwicklungen untersucht werden. Zunächst werde ich mich auf die Feldforschung Kimberly Harts stützen, die im Folgenden noch erläutert wird. Anschließend soll als transnationales Beispiel das Phänomen Islamic Banking und islamische Subökonomien in Beziehung gesetzt werden. Die voran gegangenen Ausführungen über Sakularität und Prozesse der Moderne dienen hierfür nun in den nächsten Abschnitten als Analysegrundlage.

3.1. Entstehung einer islamischen Ökonomie durch den Einfluss kapitalistischer Lohnarbeit

Die Anthropologin Kimberly Hart hat in ihrer Veröffentlichung von 2007 ihre Beobachtungen bezüglich der Einführung von Lohnarbeit und der Einbindung in kapitalistische Wirtschaftsstrukturen, während ihres Feldaufenthaltes in einem kleinen Dorf in der westlichen Türkei geschildert.

Seit den späten 80er Jahren erleben die Bewohner des Dorfes Örselli besonderes ökonomisches Wachstum. Hart beschreibt hierfür zwei Gründe: Zum einen führte ein staatliches Projekt den Anbau von Olivenbäumen ein, deren Öl ertragreich verkauft werden konnte. Zuvor gewannen die Dorfbewohner ihr Öl aus den Früchten eines wildwachsenden Nesselbaumes, der keinen Marktwert hat. Hart sieht in diesen Olivenbäumen ein Symbol von Moderne, denn sie wurden vom Staat eingeführt und konnten mit Mehrwert verkauft werden. Während der Nesselbaum und seine Früchte nun ein Produkt die Armen darstellt, sind Oliven neu, modern und teuer. Olivenöl entwickelte sich so zu einer wichtigen Quelle für Reichtum, aber auch für Auseinandersetzungen zwischen den Dorfbewohnern. Bei jeder Ernte wird aufmerksam beobachtet, welchen Ertrag an Oliven jede Familie einfährt. Es nur für sich selbst zu behalten wird als gierig und sündhaft gesehen. Eine übliche Redewendung um Habgier zu beschreiben verdeutlicht dies: „They critically remark: ‚when so and so squeezes her fist and olive oil runs down her arm, she licks it up.’“(Hart 2007: 296).

Der zweite Grund für das Wachstum war das Aufbauen einer Genossenschaft für die Webarbeiten der Frauen. Die Kooperative wurde von „Westerners“ (ibid.: 292) gegründet, um die Situation von Frauen zu verbessern und materiellen Wohlstand in der Region zu fördern. Sie gehört zum „ Doğal Boya Araştirma ve Geliştirme Projesi, natural dye and development project“ (Hart 2007: 292). Das Projekt vermarktet die Webarbeiten als lokales traditionelles Produkt und bietet darüber hinaus durch die Heimarbeit die Möglichkeit, dass Frauen die Lohnarbeit und ihre Aufgaben innerhalb der Familie parallel wahrnehmen können.

3.2. Analyse der Prozesse in Örselli

Die Auswirkungen die gemeinsam mit dem kapitalistischen System im Dorf Einzug hielten, werde ich in drei Ebenen (ökonomisch, sozial und spirituell) unterscheiden, um sie auf die Theorie der Säkularität in Modernitätsprozessen untersuchen zu können.

Auf ökonomischer Ebene lässt sich anhand von Harts Ausführungen feststellen, dass die Monetisierung der lokalen Wirtschaftsweisen vor allem aufgrund von Lohnarbeit zu starken Einkommensunterschieden geführt hat. Die Bewohner stehen dem neuen Einkommenssystem durchaus ambivalent gegenüber, da sie die Verstärkung des sozialen Ungleichgewichts und des Neids erkennen. Dies bestätigt Eisenstadts Analysen über die Programme der Moderne:

The cultural and institutional programs that unfolded in these societies were characterized particularly by a tension between conceptions of themselves as part of the modern world and ambivalent attitudes toward modernity in general and toward the West in particular. (Eisenstadt 2000: 15)

Hart beschreibt, wie die Bewohner häufig skeptische Bemerkungen machen, die die Gegebenheit in einem kapitalistischen System zu arbeiten, zum Inhalt haben. Kommentare wie „parasiz bir hayat yok,“ (kein Leben ohne Geld) und „para yok, ekmekyok“ (kein Geld, kein Brot) zeigen laut Hart, dass sie sich reflexiv damit auseinandersetzen und sich dem bewusst sind (ibid.: 293). Dieser Reflexivität kommt, wie unter Abschnitt 2.2. beschrieben, auch im Konzept der multiplem Modernen eine grundlegende Rolle zu. Sie äußert sich im Dorf auch im Hinblick auf die sozialen Ebene.

Laut Hart wird im Dorf erwartet, dass die persönlichen Begierden dem Wohle der Familie und der Gemeinschaft untergeordnet werden, da die Gemeinschaft aus einem dichten Netzwerk besteht, welches auf Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft aufbaut. Privates und öffentliches ist so untrennbar miteinander verbunden. Die Mitglieder des Dorfes sehen in den neuen Strukturen einen Rückgang der gegenseitigen Hilfsbereitschaft und stattdessen eine Zunahme an Gier und Habsucht begründet. Die Umbrüche im Haushaltsgefüge durch die Lohnarbeit der Frauen führe zur Schwächung der familiären Bindungen im Allgemeinen. Die Forscherin beschreibt wie die wirtschaftlichen Begebenheiten in der Vergangenheit nostalgisch konstruiert werden und die Veränderungen dem neuen Programm der Moderne zugeschrieben werden:

[...]


[1] Eisenstadts Konzept wurde nach Veröffentlichung von verschieden Seiten kritisiert (Siehe hierzu z.B. Fourie 2012). Aufgrund des beschränkten Umfanges kann an dieser Stelle nicht ausreichend darauf eingegangen werden. Da seine Theorie aber Grundlegend für die weitere Entwicklung im Modernitätsdiskurs und zudem Gegenstand des Seminars war, soll es hier die theoretische Basis stellen.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Islamische Moral und Multiple Modernen. Eine Analyse des Verhältnisses von Religion und Wirtschaft
Hochschule
Freie Universität Berlin
Veranstaltung
Sozial- und Kulturanthropologie
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
18
Katalognummer
V374140
ISBN (eBook)
9783668515727
ISBN (Buch)
9783668515734
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Islam, Moderne, Religion, Wirtschaft, Moral, Multiple Modernen, islamische Ökonomien, Casanova, Eisenstadt
Arbeit zitieren
Theresa Quiachon (Autor:in), 2017, Islamische Moral und Multiple Modernen. Eine Analyse des Verhältnisses von Religion und Wirtschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374140

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