Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Hauptteil
1. Definition der gegenübergestellten Weltbilder
a. Aufklärung
b. Romantik
2. Personenanalyse unter besonderer Berücksichtigung epochentypischer Verhaltens- und Denkweisen
a. Clara
b. Nathanael
3. Schlussfolgerungen aus den Figurenentwicklungen über die Denkansätze der Aufklärung bzw. der Romantik
Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Obwohl bereits eine Vielzahl von Schülern, Studenten oder Gelehrten verschiedener Generationen Hoffmanns Sandmann zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Arbeit erhoben haben, ist das Interesse und die Faszination, die von diesem Werk ausgeht, bis heute ungebrochen. Entscheidend dafür ist, dass durch Hoffmanns kompositionelle Akribie der Sandmann ein überaus großen Detailreichtum erlangte, der so viele Deutungsmöglichkeiten und Untersuchungsansätze zulässt, dass der Sandmann bis heute zu einem der vieldiskutiertesten Werke in der deutschen Literaturgeschichte zählt. Im Nachwort der aktuellen Reclam-Ausgabe ist sogar die Rede davon, dass die Interpretationsfülle des Sandmanns ein derartiges Ausmaß erreicht habe, „dass die Interpretation des Sandmanns wie eine literaturwissenschaftliche Spezialdisziplin anmutet, an der Vertreter aller methodischen Richtungen teilhaben.“[1]Insofern erscheint es nicht überflüssig, sich ebenfalls mit diesem Werk auseinanderzusetzten. Die Beschäftigung mit folgender Fragestellung soll dabei den Untersuchungsgegenstand bilden: „Die Beziehung zwischen Clara und Nathanael – ein Sinnbild für den Konflikt zwischen aufklärerischem und romantischem Weltbild?“ Die Annahme, die dieser Frage zugrunde liegt, entspricht dabei einer beim Lesen entstandenen Vermutung und soll durch eine Analyse be- oder widerlegt werden. Dabei soll wie folgt vorgegangen werden:
Um diese Fragestellung hinreichend beantworten zu können, ist zuerst eine eindeutige Definition der verwendeten Begrifflichkeiten von Nöten. So soll in einem ersten Kapitel erläutert werden, was unter einem aufklärerischen Weltbild bzw. einem romantischen zu verstehen ist. Nur wenn in diesen Punkten Klarheit herrscht, können anschließend den Protagonisten Nähe zu der einen oder anderen Weltsicht nachgewiesen werden.
Anschließend soll ein Kapitel folgen, auf dem der Schwerpunkt der Hausarbeit lastet. Hierin soll eine Personenanalyse zum einen für Clara, zum anderen für Nathanael unter besonderer Berücksichtigung epochentypischer Verhaltens- und Denkweisen angestellt werden. Wichtig erscheint es mir hierbei nahe am Text zu arbeiten und Aussagen über Charakter und Eigenschaften der Protagonisten, durch Textstellen zu belegen.
Darauffolgend soll in geringem Umfang der Versuch angestellt werden, anhand Hoffmanns Darstellung der Liebesbeziehung, sowie den von ihm gesetzten Figurenentwicklungen Schlussfolgerungen über die verschiedenen Weltbilder der Aufklärung bzw. Romantik zu ziehen.
Letztendlich sollen die gesammelten Erkenntnisse im Hinblick auf die Fragestellung in einem Fazit zusammengefasst werden.
Hauptteil
1. Definition der gegenübergestellten Weltbilder
a. Aufklärung
Die Aufklärung ist nicht lediglich eine Literaturepoche. Sie geht weit darüber hinaus, denn sie steht für einen essentiellen Wandel der Weltwahrnehmung und des Menschenverständnisses, der sich auf Literatur ebenso fundamental auswirkte, wie auf Politik, Religion oder Wissenschaft und eigentlich alle Bereiche des Lebens mehr oder weniger beeinflusste. Nicht weniger als der Aufbruch vom Mittelalter in die Neuzeit wird der Aufklärung „als eine Art Wiege unserer Jetztzeit“[2]zugeschrieben. Vorweg soll hier festgehalten werden, dass der Versuch Leitgedanken der Aufklärung herauszuarbeiten, um daraus ein „aufklärerisches Weltbild“ in seinen Grundsätzen zu zeichnen, niemals einen Anspruch auf die vollständige Erfassung aller aufklärerischen Strömungen erheben kann. Zu hoch ist die Dynamik und Vielfalt der Großepoche, die sich teilt in eine Vielzahl unterschiedlicher Phasen mit heterogenen Tendenzen.[3]Ziel soll es jedoch sein, die im Gesamtblick auf die Epoche erkennbaren, übergreifenden Ziele und Gedankenmotive der Aufklärung mit Schwerpunkt auf zur Romantik abgrenzender Eigenschaften darzustellen.
„Cogito ergo sum“ – ich denke also bin ich. Dieses programmatische Dictum des französischen Philosophen Rene Descartes von 1641 steht begründend für den frühneuzeitlichen Rationalismus, den Leibniz und andere deutsche Frühaufklärer aufnahmen und weiterführten. Hinter diesem Ausspruch steht die Überlegung Descartes, dass es zweifelhaft sei, ob es einen sicher wahren Eindruck gäbe, der durch die Sinne vermittelt werde.[4]Hier entsteht die grundsätzliche Ermächtigung der Vernunft als das epochentragende Charakteristikum der Aufklärung, die sich besonders im Rationalismus auf die Verstandestätigkeit des Menschen bezieht. Die Arbeit des menschlichen Verstandes gilt als Ausgangspunkt aller aufklärerischen Erkenntniserlangung, sowie eines vernunftbegründeten Handelns.[5]Zu Grunde liegt dabei die Behauptung, „das es eine Vernunft gäbe, die aus keinem Schulkompendium, und eine Rechtschaffenheit, die aus keiner Glaubensformel hergeholt zu werden nöthig hätte“[6]Damit ist es das Anliegen der Aufklärer die Menschen zum Gebrauch der eigenen Vernunft zu erziehen und loszulösen von Aberglauben, Phantastik oder Fremdbestimmung zu Gunsten einer eigenverantwortlichen Mündigkeit und steten Weiterbildung, die in der Verwirklichung des persönlichen Glücks müden solle. Daran schließt sich auch die neue Bedeutung der Kritik als dominierende Denk- und Argumentationsfigur an. Durch das beständige Misstrauen gegen jede vermeintliche Wahrheit nach dem Prinzip „nichts glauben, alles prüfen“ soll sich dem Ideal der vernunftgestützten absoluten Wahrheit angenähert werden.[7]Sogar die Religion wird ganz im Sinne einer induktiven Wissenserschließung auf den Prüfstand gestellt, nach Leibniz gilt auch hier das „wahrhafte“ Religion nur bestünde, wenn Vernunft und Religion übereinstimme.[8]Zwar wird Gott selbst nicht in Frage gestellt, jedoch sein ständiges Eingreifen auf Erden. Der neue Ansatz sieht die Schöpfung Gottes als eine rational erklärbare Welt, in der jeder sein eigenes Schicksal selbst bestimme. Damit befreit sich die Wissenschaft aus den Zwängen der Theologie und beansprucht das Wahrheitsprivileg für sich, da deren Erkenntnisse auf Vernunft basiere. Mit dem gewonnenen Glauben an die Möglichkeit, dass der Mensch in der Lage ist, Kenntnisse realitätserschließender Dimensionen zu erlangen, anstatt sich einer unergründbaren gottbestimmten Wirklichkeit zu fügen, entsteht ein nie da gewesener Erkenntnisdrang und Fortschrittsoptimismus, der die Aufklärung zu einem Zeitalter des Wissens und der Wissenschaften werden lässt.[9]In der Literatur der Aufklärung zeigt sich passend zur Programmatik ein deutliches Übergewicht des Funktionalismus, der sich der Poesie und Lyrik deutlich überordnet. Subjektivität, Stimmung, persönlicher Gefühlsausdruck oder zweckfreie Ästhetik ist in der aufklärerischen Stilistik kaum enthalten. Zwar lässt sich das in vergangenen Zeiten häufiger formulierte Urteil, die Aufklärung sei gar „ein Zeitalter ohne Poesie“[10]so nicht bestätigen, allerdings ist auch die Poesie der Aufklärung Teil des Funktionalismus´, denn sie dient dem Zweck den Leser in seinen Bann zu ziehen, um eine effektivere Verbreitung der aufklärerischen Lehren zu bewirken.[11]
b. Romantik
Der anfängliche Fortschrittsoptimismus in der Epoche der Aufklärung mit dem Glauben an die Existenz einer einzigen vernunftgestützten Wahrheit, erfährt im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Abschwächung, die sich unter anderem durch die Erfahrung begründet, dass „jede Methode letztlich aufgrund ihrer Voraussetzungen zu abweichenden Schlussfolgerungen führen kann und dass die philosophischen Auseinandersetzungen langfristig gar nicht zur Aufhebung von Gegensätzen beitragen, sondern vielmehr zur Vertiefung der bestehenden und zur Konstruktion immer neuer.“[12]Darüber hinaus häufen sich Fragen nach dem Zweck permanenter Hinterfragung und „sich steigernder Kritik der Kritik im Sinne einer zerfleischenden Wahrheitsliebe“ und „verbreiten zunehmend das Gefühl von Verunsicherung und endloser Suche“[13]Auch der Übergang der als Ergebnis der Durchsetzung aufklärerischen Denkens und Handelns in der Bevölkerung angesehenen französische Revolution in die Terrorherrschaft der Jakobiner als Auswuchs instrumenteller Rationalität, sorgt für Kritik am Prinzip des unbeschränkten Primats der Vernunft. Hier entsteht Raum für neue, konträre Ideen, wie die der Romantiker, deren Literatur man durchaus als Gegenbewegung zur Verstandesorientierung der Aufklärung bezeichnen kann.[14]
Ausgerechnet Kant liefert mit den Überlegungen seiner Transzendentalphilosophie einen Entscheidenden Gedankenanstoß für die Philosophie der Romantik, in dem er die tradierte Vorstellung von Erkenntnisgewinn in Frage stellt. Statt einer Erkenntnisgewinnung „a la Aufklärung“ bei der einzig der Gegenstand die Begriffe des Geistes von diesem bestimmt, stellt Kant die Hypothese von der Möglichkeit einer Korrespondenz zwischen der Erfahrung des erkennenden Subjekts und seinen Begriffen für den Gegenstand auf. Somit richte sich der Begriff nicht nur nach dem jeweiligen Gegenstand, sondern auch der Gegenstand nach dem Begriff des jeweiligen Geistes. Aus diesem Erkenntniskonzept ergibt sich eine radikale Trennung zwischen der Erscheinungswelt und einem unerkennbar bleibenden Ding an sich und führt somit den Anspruch der Aufklärung eine absolute Wahrheit ausmachen zu können ad Absurdum. Für die Romantiker rückt deshalb wieder die Sinnlichkeit und damit Konzepte und Theorien des Symbolischen, Allegorischen und der Metapher in den Vordergrund. Nach ihrer Anschauung bilden die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen in Abhängigkeit seelischer Zustände die Repräsentation des Absoluten.[15]Fichte schließlich setzt Kants Transzendentalphilosophie radikalisierend fort und bietet als Lösungsansatz der Erkenntnisproblematik des Gegensatzes von Subjekt und Objekt die Selbstreflexion des eigenen Wissens als Quelle der Realität.[16]Dies ist maßgeblich für die Programmatik der Romantik wie sie von Friedrich Schlegel in seinen Athenäums-Fragmente grundlegend bestimmt wird. Er bezeichnet romantische Literatur als „Transzendentalpoesie“ und meint damit eine Poesie, „die gleichzeitig die Bedingungen ihrer Möglichkeit mitreflektiert und deshalb als eine selbstreflexive Poesie der Poesie anzusehen ist“.[17]In Abgrenzung zur moralischen Funktionalisierung der aufklärerischen Literatur, zeichnet sich die romantische Literatur durch die Autonomie der Ästhetik aus, die aus dem zweckfreien Spiel der Einbildungskräfte des Genies entstehen soll, sowie durch Individualität und die subjektive Sicht auf die Welt. Im Sinne der seit dem 18. Jahrhundert geläufigen Bedeutung des Adjektivs „romantisch“ als „schwärmerisch, fantastisch, geheimnisvoll, düster, unvernünftig, verworren“[18], nimmt neben der Ästhetik auch das Mystische einen hohen Stellenwert an.
2. Personenanalyse unter besonderer Berücksichtigung epochentypischer Verhaltens- und Denkweisen
a. Clara
Die Namenswahl Hoffmanns im Falle Claras könnte schon als ein gewollter Hinweis in Bezug auf die Nähe Claras zu aufklärerischen Denk- und Handlungsweisen geführt werden. Denn der Name leitet sich vom lateinischen „clarus“ ab, was soviel bedeutet, wie die Leuchtende, Helle oder Klare und könnte somit verstanden werden, als ein Verweis auf ihren klaren, rational-denkenden Geist. Obwohl es durchaus vorstellbar scheint, dass Hoffmann die Namen programmatisch wählte, soll diesem Punkt nicht allzu viel Gewicht beigemessen werden.
Viel aussagekräftiger sind dagegen ihre von Hoffmann gezeichneten Charakterzüge, über die man im Sandmann aus drei verschiedenen Perspektiven, nämlich aus Nathanaels, aus Claras selbst und letztendlich in umfassendster Art und Weise aus der des Erzählers, aufgeklärt wird.
Nathanael, so berichtet Clara in ihrem Brief an den Geliebten, hätte ihr manchmal vorgeworfen:
„ich hätte solch ruhiges, weiblich besonnenes Gemüt, dass ich wie jene Frau, drohe das Haus den Einsturz, noch vor schneller Flucht ganz geschwinde einen falschen Kniff in der Fenstergardine glattstreichen würde, […]“ (12f.)[19]
Dass diese Einschätzung Nathanaels nicht wörtlich zu nehmen ist und eher als symbolische Hyperbel verstanden werden soll, verdeutlicht spätestens Claras Zusatz der Vorwurf wäre „in kindischer Neckerei“(12) entstanden. Dennoch attestiert dies Clara ein überdurchschnittliches Maß an Rationalität. Wohingegen Gefühle für sie einen eher minderen Einfluss auf ihr Handeln zu haben scheinen, sonst würde Nathanael wohl kaum auf den Gedanken kommen, Clara würde in einer extremen Gefahrensituation, anstatt durch Angstgefühle getrieben die sofortige Flucht zu ergreifen, sich am falschen Kniff in der Fenstergardine stören. Ganz im Sinne der aufklärerischen Weltsicht räumt sie dem Verstand die unbeschränkte Macht über ihr Handeln ein. Gefühle dagegen scheinen für sie als reine Verwirrung des Geistes unterdrückt werden zu müssen. Weitere Aussprüche Nathanaels kritisieren Claras „kaltes Gemüt“ (24) und münden in Nathanaels wütendem Ausspruch, Clara sei ein „lebloses, verdammtes Automat!“ (25)
[...]
[1]Drux 2003, S.61.
[2]Vgl. Baasner 2006, S.8.
[3]Vgl. Baasner 2006 S.8.
[4]Vgl. Schumacher 2013, S.1.
[5]Vgl. Alt 2001, S.11.
[6]Reinhold 1784, S.3f.
[7]Vgl. Baasner 2006, S.14.
[8]Vgl. Baasner 2006, S.37.
[9]Vgl. Alt 2001, S.12.
[10]Hazard 1938, S.388.
[11]Vgl. Alt 2001, S. 126.
[12]Baasner 2006, S.14.
[13]Baasner 2006, S.17.
[14]Vgl. Baasner 2006, S.18.
[15]Vgl. Schmitz-Emans 2007, S.29.
[16]Vgl. Kremer 2003, S.60.
[17]Kremer 2003, S.40.
[18]Müller 2007, S.4.
[19]Die Zahlen in Klammern hinter den Textstellen-Zitaten entsprechen der Seitenanzahl in der Ausgabe: Hoffmann, E.T.A. Der Sandmann. Stuttgart: Reclam. 2003.