Facetten des "Magischen Realismus" in "Cien Años de Soledad" von Gabriel García Márquez


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

20 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe

Inhalt

I. Einleitung

II. Die Entstehung des Begriffs „Magischer Realismus“
II.I Magischer Realismus in Lateinamerika

III. Die Charakteristika des magischen Realismus

IV. Aspekte des magischen Realismus in Cien años de Soledad
IV.I Analyse der Figuren

V. Fazit

VI. Literaturhinweise

I. Einleitung

Im Jahr 1967 veröffentlichte der kolumbianische Autor Gabriel García Márquez einen Roman mit dem Titel Cien años de soledad. Dieser wurde in 35 Sprachen übersetzt und gilt als eines der wichtigsten Werke des magischen Realismus und der lateinamerikanischen Literatur. Seit seiner Veröffentlichung befassten sich viele Wissenschaftler mit dem Werk und finden zwischen der erzählten Handlung und dem realen Weltgeschehen zahlreiche Parallelen. Als allgemeinen Schauplatz der Handlung wählte García Márquez das fiktive Dörfchen Macondo, das seinem Herkunftsort an der karibischen Küste Kolumbiens gleicht, so wie eine Mehrzahl von weiteren biographischen Elementen.

Die vorliegende Arbeit behandelt die verschiedenen Facetten des magischen Realismus anhand des Romans Cien años de soledad. Die Frage, inwieweit dieses ein magisch realistisches Werk sei, soll am Ende dieser Arbeit schlüssig beantwortet werden. Außerdem soll die Entstehung des Begriffes geklärt und sein Weg von Europa nach Lateinamerika anschaulich gemacht werden. Der Hauptteil widmet sich den Charakteristika des magischen Realismus. Im zweiten Teil des Kapitels werden ausgewählte Figuren hinsichtlich ihrer Bedeutung für den magischen Realismus, sowie für den Roman analysiert und interpretiert. Dabei sollen Werke von Autoren, wie Seymour Menton oder Mario Vargas Llosa helfen. Anschließend folgt der Schlussteil, in dem es zur Beantwortung der Fragestellung kommt.

II. Die Entstehung des Begriffs „Magischer Realismus“

Der Begriff „magischer Realismus“ wurde erstmals 1923 von dem deutschen Kunsthistoriker Franz Roh in seinem Aufsatz über die Werke des Münchner Malers Karl Haider verwendet. „Magischer Realismus“ sollte eine damals zeitgenössische Bewegung in der Malerei beschreiben, die den bis dahin weitverbreiteten Begriff Expressionismus ablösten sollte. Roh verwendete seine Wortschöpfung synonym zum „Nachexpressionismus“ als Bezeichnung für eine gerade einsetzende Epoche. Er wollte mit dem Begriff das Neue dieser Epoche ausdrücken und dabei im Gegensatz zum Begriff „Nachexpressionismus“ auf den Ausdruck von Kontinuität verzichten.[1] Bereits im ersten Versuch einer Definition fanden sich mehrdeutige, nahezu widersprüchliche Charakteristika des magischen Realismus: Roh beschrieb diese Züge als „fast geometrische Abstraktion“, „reinste Gegensätzlichkeit minutiöser Zeichnung“ und eine „Verschränkung des Makro- und Mikrokosmos“.[2] Der Autor unterstreicht die gegensätzlichen Eigenschaften des magischen Realismus in der Malerei insofern, dass der Maler zu einem „Zauberer, der uns geheime Bindung von Gegensätzen, die uns auseinanderfielen, lehrt (…)“[3] werde. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung seines Haider-Aufsatzes verfasste Roh zudem eine Darstellung der Probleme der neusten europäischen Malerei mit dem Titel Nachexpressionismus. Magischer Realismus. (1925). Beide Begriffe wurden zwar synonym verwendet, jedoch intendierte Roh, die Ausdrücke „magisch“ und „mystisch“ voneinander abzugrenzen. Er behauptete, „(…) daß das Geheimnis nicht in die dargestellte Welt [eingehe], sondern sich hinter ihr [zurückhalte].“[4] Es lag ihm weniger daran den Begriff „magischer Realismus“ zu etablieren, als daran die Ablösung des Expressionismus durch den Nachexpressionismus auszudrücken. Trotz seiner dargelegten Skepsis dem Begriff und seiner heutigen Bedeutung gegenüber, wird seine Abhandlung über nachexpressionistische Malerei unter dem Titel Magischer Realismus bekannt. Auch wenn sich einige der von ihm konstatierten Charakteristika auf die magisch-realistische Literatur übertragen lassen, stehen diese in keinem direkten Zusammenhang mit dem tatsächlichen rohschen Begriff des magischen Realismus. Roh selbst gibt den Begriff später auf und spricht von einer „Neuen-Sachlichkeit“. Zahlreiche Versuche, eine Verbindung zwischen beiden Phänomenen herzustellen, sind bislang gescheitert.[5]

Etwa zeitgleich mit Rohs Aufsätzen zum magischen Realismus kam der italienische Schriftsteller und Publizist Massimo Bontempelli in einem anderen Kontext zu diesem Begriff. Mit der 1926 gegründeten Zeitschrift „900“ (novecento), die vierteljährlich erschien und vorwiegend literarisch orientiert war, gewann er eine Vielzahl bekannter intellektueller Redaktionsmitglieder. Mit dem Ziel, eine moderne Literatur zu begründen, entwickelten sie gemeinsam ein ästhetisches Manifest, das den Namen „Magischer Realismus“ (realisimo magico) trug. Die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs einsetzende Moderne führte Bontempelli zu der Annahme, dass der Mensch durch die steigende Komplexität der Welt zu Orientierungslosigkeit neige und es somit nötig sei, ihm „eine geistige Heimat“ zu schenken.[6] Bontempelli war der Überzeugung, dass die reale Welt (monde reél) eines jeden Menschen durch eine imaginäre Welt (monde imaginaire) bereichert werden müsse, um sich in der modernen Gesellschaft orientieren zu können. Zu dieser Bereicherung sollte der magische Realismus werden. In erster Linie sollte dies mithilfe der Literatur erfolgen - in Form neuer Mythen, Fabeln und Legenden, mit denen sich der angehende moderne Mensch (besser) identifizieren könne. Bontempelli bekannte sich dabei besonders zu einer Literatur, bei der nicht die Form ausschlaggebend sein sollte, sondern die Bedeutsamkeit des Inhalts. Er bezeichnete diese als eine „attitude anti-stylsitique“.[7] Bereits hier kann man erste Relationen zum magischen Realismus von Carpentier feststellen: Auch der Italiener sieht den Zugang zum Abstrakten und Wunderbaren durch das Alltägliche und empirisch Fassbare.[8]

Mitte des 20. Jahrhundert tauchte der magische Realismus in den Niederlanden auf. Ein niederländischer Schriftsteller, Johan Daisne, übernahm 1943 Bontempellis Konzept und setzte den Begriff „Magisch-realisme“ häufig ein.[9]

II.I Magischer Realismus in Lateinamerika

Seit dem 20. Jahrhundert wird das Konzept des magischen Realismus vor allem mit Lateinamerika in Verbindung gebracht. Zu seinen wichtigsten Vertretern gehören Miguel Ángel Asturias, Jorge Luis Borges, Mario Vargas Llosa, Julio Cortázar, Carlos Fuentes sowie der Nobelpreisträger Gabriel García Márquez. Der magische Realismus ist jedoch, mit einem Umweg über Spanien, zunächst nach Argentinien gelangt: Bereits 1927 erschien in der spanischen Avantgarde-Publikation Revista de Occidente ein Artikel von Franz Roh. Die 1923 von José Ortega y Gasset[10] in Madrid gegründete Zeitschrift berichtete seitdem über alle aktuellen europäischen Entwicklungen in Geisteswissenschaft, Kultur und Literatur. Die Reichweite beschränkte sich damals nicht auf Europa, sondern erstreckte sich bis nach Lateinamerika.[11] Der erschienene Artikel wurde in den Intellektuellenkreisen in Buenos Aires schnell rezipiert und auf die eigene Literatur angewandt. Dabei ist zu erwähnen, dass damals Paris, trotz der Eigenständigkeit der Entwicklung in Lateinamerika, als Zentrum einer gemeinsamen abendländischen Kultur galt.[12] Der Begriff des magischen Realismus wurde erstmals 1948 von dem venezolanischen Autor Arturo Uslar Pietri auf die lateinamerikanische Literatur übertragen.[13] Den magisch-realistischen Stil begründete der guatemaltekische Autor Miguel Ángel Asturias. Inspiriert von seinem Europaaufenthalt brach er mit seinem Werk Hombres de Maís fast gänzlich mit den damaligen abendländischen Vorgaben des kausalen Erzählens. Er besann sich auf die indigene, mythisch-magische Denkweise. Wie die meisten Intellektuellen und Avantgardisten verbrachte auch er eine gewisse Zeit in Paris und kam dort unteranderem in Kontakt mit dem Surrealismus. Als Student der Anthropologie durfte er an der spanischen Übersetzung von „Popol Vuh“, dem heiligen Buch der Maya-Götter, mitarbeiten und die Denkweise der lateinamerikanischen Urbevölkerung näher kennenlernen. Aus dem europäischen Blickwinkel wurde jenes ‚Andere‘ als eine neue, unglaubliche und wunderbare Welt angesehen, die Erstaunen hervorrufe.[14] Auch andere lateinamerikanische Schriftsteller hatten sich von den Eigenschaften ihres Kontinents ‚verzaubern‘ lassen: Eine der prägnantesten literarischen Darlegungen ebendieser Sichtweise verfasste der Kubaner Alejo Carpentier mit dem Vorwort zu seinem historischen Roman El Reino de este Mundo. Carpentier, der ebenfalls Zeit in Europa verbracht hatte und viele Surrealisten persönlich kannte, kehrte europäischen Mustern den Rücken, indem er den Surrealismus als Quacksalberei darstellte. Zum positiven Gegenbeispiel macht er seine eigens erlebte, haitianische Wirklichkeit:

A cada paso hallabo lo real maravilloso. Pero pensaba, adémas, que esta precencia y vigencia de lo real maravillosono era privilegio único de Haití, sino patrimonia de la América entera donde todavía no se ha terminado de establecer, por ejemplo, un recuento de cosmogonías. Lo real maravilloso se encuentra en cada paso de las vidas de hombres que inscribieron fechas en la historia del continente y dejaron apellidosaún llevados: desde los buscadores de la fuente de la juventud, de la áurea ciudad de Manoa, hasta ciertos rebeldes de la primera hora o ciertos héroes modernos de nuestras guerras de independiencia de tan mitológica traza como la coronela Juana de Azurday. […]tal los bailes de la santería cubana, o la prodigiosa versíón negroide de la fiesta del Corpus, que aún puede verse en el pueblo de San Francisco de Yare, en Venezuela. [15]

Im Vorwort seines Romans konstantierte Carpentier den Begriff lo real maravilloso. Es handelte sich um einen Grundgedanken für den magischen Realismus, der die gesamte lateinamerikanische Literatur prägte. Er fasste Lateinamerika als eine „Chronik des wunderbar Wirklichen“[16] zusammen. Laut Carpentier schaffe die Wirklichkeit Lateinamerikas einen unmittelbaren und authentischen Zugang zum Wunderbaren, während der Surrealismus bestrebt sei, das Wunderbare nur künstlich zu erschaffen. Er sagt, das Wunderbare sei permanent nicht nur im Leben eines jeden Einzelnen, sondern auch im Kollektiv des ganzen Landes präsent und alltäglich. Der Glaube an Legenden und Mythen, die eine Essenz der unterschiedlichen Kulturen und Glaubensrichtungen der Karibik bilden und auch optisch zu erkennen sind, sei für Carpentier der Schlüssel zum real maravilloso. [17] Somit beruhte die Magie in Carpentiers Roman El Reino de este Mundo auf einer kulturellen Realität, während sich Uslar Pietri eher auf eine allgemeine Realität bezog, die sich durch „la consideración del hombre como misterio en medio de los datos realistas“ auszeichnete.[18] Auch Gabriel García Márquez trug etwas zum magischen Realismus aus lateinamerikanischer Sichtweise bei: Ähnlich wie Carpentier sah er das Außergewöhnliche als einen Teil der lateinamerikanischen und vor allem der karibischen Kultur und deren Alltag an:

[...]


[1] Scheffel, M.: Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung. Tübingen 1990, S.7

[2] Vergl. Scheffel, S.8-9

[3] Ders. S.9

[4] Vergl. Scheffel, S.10

[5] Ebd.

[6] Ders. S.13

[7] Scheffel, S.14

[8] Ebd.

[9] Ders. S.15

[10] Ein in Madrid geborener Philospoh, Soziologe und Essayist

[11] Fundación José Ortega y Gasset: Revista de Occidente. [online] Homepage. Publicación Revista de Occidente. URL:http://www.ortegaygasset.edu/publicaciones/revistadeoccidente [Stand 10.02.2017]

[12] Rössner, M.: Lateinamerikanische Literaturgeschichte. Weimar 1995, S.238

[13] Vergl. Scheffel, S.41

[14] Vgl. Rössner, S.301

[15] Carpentier, A.: El reino de este mundo. Ciudad de la Habana 1981, Vorwort

[16] Strausfeld, M.: Lateinamerikanische Literatur. Frankfurt a.M. 1978, S.330

[17] Dies. 226-330

[18] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Facetten des "Magischen Realismus" in "Cien Años de Soledad" von Gabriel García Márquez
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Romanisches Seminar)
Veranstaltung
Der Magische Realismus in Cien Anos de Soledad von Gabriel Garcia Marquez
Note
2,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
20
Katalognummer
V374722
ISBN (eBook)
9783668543379
ISBN (Buch)
9783668543386
Dateigröße
583 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
magischer realismus, gabriel garcia marquez, garciamarquez, hundert jahre einsamkeit, cien anos de soledad, südamerika
Arbeit zitieren
Dominika Warmuth (Autor:in), 2017, Facetten des "Magischen Realismus" in "Cien Años de Soledad" von Gabriel García Márquez, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374722

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