Zwischen Tradition und Moderne. Eine Betrachtung von Lorcas Poetik anhand seines "Romancero Gitano"


Bachelorarbeit, 2017

35 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

I. Einleitung
I.I Lorcas Herkunft
I.II Die Residencia de Estudiantes
I.III Der Einfluss der „Resi“ auf Lorca

II. Die Form des Romancero Gitano
II.I Die traditionelle Romanze
II.II Lorcas Romanze

III. Analyse der Gedichte
III.I Romance de la luna, luna
III.II Romance Sonámbulo

IV. Fazit

V. Literaturangaben

I. Einleitung

Im Jahr 1928 veröffentlichte der andalusische Dichter Federico García Lorca einen Gedichtband mit dem Titel Romancero Gitano. Dieser beinhaltet 18 Romanzen, die sich in Andalusien zutragen und Elemente des „Andalusiertums“ wie wir es heute kennen aufzeigen. Als Akteure wählte Lorca die andalusischen Zigeuner jener Zeit, die er selbst als das ausdruckvollste Symbol seiner Heimat wahrnahm.[1] Trotz des internationalen Erfolgs des Romancero Gitano erhoben sich zahlreiche kritische Stimmen: Künstlerfreunde und Kollegen sagten ihm eine Neigung zum Traditionalismus und besonders zur traditionellen Romanze nach. Unter Vertretern der Avantgarde, wie Salvador Dalí oder Luis Buñuel, zu denen auch Lorca gehörte, sah man diese Art von Poesie als rückläufig an.[2] Nicht so Lorca, der seinem Ruf als Lokaldichter und Zigeunerpoet folgende Erläuterung entgegnete: „El libro, en conjunto, aunque se llama gitano, es el poema de Andalucía, y lo llamo gitano porque el gitano es lo más elevado, lo más profundo, más aristocrático de mi país, lo más representativo de su modo y el que guarda el ascua, la sangre y el alfabeto de la verdad andaluza y universal.“[3] Um dem Provinzialismus, der dem Werk nachgesagt wird, zu widersprechen, charakterisierte Lorca seine Romanzen als „antipittoresk“ und „anti-folkloristisch“.[4]

Der irische Autor und Hispanist Ian Gibson hat sich intensiv mit dem Leben und Werk einiger Avantgardekünstler beschäftigt – in diesem Zuge fand auch Lorcas Werk Eingang in seine Studien. In der Biographie mit dem Titel Federico García Lorca – Eine Biographie widmete Gibson dem Romancero Gitano ein Kapitel, das den Weg bis zum Entstehen des Gedichtbands beschreibt und das Werk im Kontext des Privatlebens des Dichters analysiert. Zu Lorcas Romanzen wurden im Laufe seines Lebens und besonders nach seinem Tod diverse Interpretationen verfasst. Der valencianische Autor und Professor für spanische Literatur Angel Antón Andrés subsumiert diese mit folgender Feststellung: „Wenn man sich mit dem andalusischen Dichter García Lorca befasst, so drängt sich das Wort Mythos auf. Es ist ein Grundelement seiner Dichtung, aber auch ein wesentlicher Aspekt seiner Persönlichkeit.“[5]

Die vorliegende Arbeit behandelt Federico García Lorcas Poetik[6] anhand des Romancero Gitano. Die Frage, inwieweit dieser ein Werk zwischen Tradition und Moderne sei, soll am Ende dieser Arbeit schlüssig beantwortet werden. Außerdem soll dargestellt werden, warum der Gedichtband ein weltoffenes Werk ist und inwiefern Lorcas Leben zu dieser Charakteristik beigetragen haben könnte. Es werden zwei ausgewählte Romanzen hinsichtlich ihrer Form, ihrer Sprache und ihres Inhalts analysiert und interpretiert. Dabei sollen traditionelle und lokale sowie persönliche Lebensereignisse und Erfahrungen des Dichters betrachtet werden (Kapitel 1). Der darauffolgende Teil widmet sich der Form des Romancero Gitano. Es soll eine Verbindung zur traditionellen Romanze hergestellt und aufgezeigt werden, welche Besonderheiten in Lorcas Romanze zu beachten sind (Kapitel 2). Im nächsten Schritt werden die zahlreichen Metaphern und Symbole analysiert und interpretiert. Anschließend folgt der Schlussteil, in dem es zur Beantwortung der Fragestellung kommt.

I.I Lorcas Herkunft

Etwa 50 Kilometer vom Mittelmeer entfernt liegt die andalusische Stadt Granada, westlich davon liegt die vega Soto de Roma . Eine der drei Gemeinden von Soto de Roma ist der Geburtsort Lorcas: das Dorf Fuentevaqueros. Dort kam er am 5. Juni 1898 zur Welt. Sein Vater war Don Federico García Lorca – ein wohlhabender Geschäftsmann, der mit Landerwerb und dem Zuckerrübengeschäft zu seinem Wohlstand gekommen ist. Seine Mutter Doña Vicenta Lorca war eine Lehrerin der Mädchenschule von Fuentevaqueros.[7] Der Familienname Lorca stammt von Lorcas Großvater mütterlicherseits. Lorca ist der Name einer Stadt der Provinz Murcia, in der es im Mittelalter eine große jüdische Gemeinde gab. Da man getauften Juden zur Zeit der Inquisition den Namen ihrer Heimatstadt gab, um ihre semitische Herkunft zu verbergen, lässt der Familienname auf jüdische Abstammung schließen. Wie Gibson beschrieb war der Dichter zudem stolz auf seine jüdischen Wurzeln und äußerte sich des Öfteren zufrieden darüber.[8] Federico Garcia Lorca war das erste Kind der Familie und es folgten ein Bruder und zwei Schwestern. Doña Vicenta ging ihrem Beruf als Lehrerin nach der Geburt Federicos nicht mehr nach, jedoch gab sie diesen nicht gänzlich auf: Sie lehrte ihre Kinder schon früh lesen und schreiben und förderte besonders Federicos Musikalität. Lorca erinnerte sich: „De mi padre heredé la pasión, de mi madre la inteligencia.“[9] Bereits als Kind kam Lorca mit Musik, Theater und Literatur in Berührung; die Familie galt als sehr musikalisch und belesen. Sie waren katholisch und dennoch sehr liberal, was im Spanien jener Zeit als Seltenheit galt, da das Land stark klerikal geprägt war.[10] Obwohl Federico eine ausgeprägte Begabung für das Klavierspiel hatte, sollten er und sein Bruder eine akademische Ausbildung bekommen. Nach dem Schulabschluss besuchten beide die Universität von Granada. Federico schrieb sich dort für die philosophische-geisteswissenschaftliche und die juristische Fakultät ein. In Granada gehörte er zu den zahlreichen Künstlern, die die Stadt mit ihrer Alhambra seit Mitte des 19. Jahrhunderts als einen Ort der Inspiration für sich entdeckten. Bevor er für seine Poesie bekannt wurde, war er zunächst Lorca der „begabte junge Pianist, dem Lehrer und Freunde eine großartige musikalische Karriere voraussagten.“ Zum Ende des 19. Jahrhunderts schlossen sich mehrere junge Schriftsteller zusammen, zu denen später auch Lorca gehörte. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, das Beste der Vergangenheit ihrer Heimat Granada als Zentrum der Hochkultur Andalusiens zu bewahren. Darüber hinaus beschlossen sie, dabei auch das moderne Zeitalter nicht zu verweigern und ein fester Bestandteil dessen zu bleiben. Diese Bewegung nannte Lorca „das universelle Granadinertum“. Im Jahr 1920 wechselte er von der Universität Granada an die entsprechende Fakultät der Universität Madrid, wo er sich in der heute noch bekannten „Residencia de Estudiantes“ einquartierte. Die Erinnerungen an seine Herkunft und Kindheit hat Lorca nie vergessen: In seinem Lebenswerk finden sich oftmals nichtfiktive Charaktere und Erzählungen.[11]

I.II Die Residencia de Estudiantes in Madrid

Madrids berühmtestes Studentenwohnheim, die „Residencia de Estudiantes“ war zunächst ein experimentelles Wohnheim. Gegründet wurde es 1910 von Francisco Giner de los Ríos, der bereits 1876 die liberale „Institución Libre de Enseñanza“ gründete, welches ein von klerikalen Einflüssen freies Institut für Lehre und Bildung darstellte. Giner war ein Humanist und hegte den Wunsch nach einer ‘Verbesserung‘ Spaniens. Er war von der Idee überzeugt, dass er den intellektuellen, materiellen und moralischen Fortschritt mithilfe einer von ihm ausgewählten Essenz intellektueller junger Männer und Frauen erreichen könnte. Als sein Mentor wählte Giner für die Leitung der residencia den Professor und Pädagogen Alberto Jiménez Fraud aus. Dieser nahm das Angebot, als Sympathisant von Giners Idealismus, bereitwillig an. Fraud verbrachte einige Jahre in England und leitete das Wohnheim inspiriert vom Collage-System in Oxford und Cambridge. Was in England bereits seit dem 12. Jahrhundert zur Hochkultur des Landes gehörte, war im modernen Spanien ein neues pädagogisches Experiment.[12] Giner und Fraud waren sich darüber einig, dass eine zu starke oder zu fachgebundene Spezialisierung der Bildung im allgemeinen Sinne schade. Somit waren sie, laut Gibson[13], Verfechter eines Bündnisses zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Die Auswahl der Studenten der residencia erfolgte nach eben diesem Prinzip: Es wurde stets darauf geachtet, dass ein Gleichgewicht zwischen den beiden Wissenschaften herrsche. Außerdem wurde Wert auf Gemeinschaft und Verantwortung gelegt. Die Philosophie des Wohnheims bestand hauptsächlich darin, den eigenen Horizont zu erweitern. Zum einen sollte dies durch eine persönliche Beratung durch Tutoren geschehen und zum anderen durch den Kontakt zu anderen Fachrichtungen insbesondere unter den Studenten. Die Hochphase der „Resi“, wie sie von ihren Studenten genannt wurde, fand in den 20er Jahren statt, da sie viele der Avantgardisten jener Zeit beheimatete. Als Student der Residencia de Estudiantes genoss man das Privileg mit den bedeutendsten Vertretern moderner spanischer, amerikanischer und europäischer Kultur in Kontakt treten zu können.[14] Somit wurde die eigene Denkweise von den unterschiedlichsten Einflüssen geprägt. Die Mehrheit der Studenten der „Resi“ machten Medizinstudenten aus und nach ihnen die Industrieingenieure. Laboratorien, die das Wohnheim in großer Zahl beherbergte, wurden von späteren Nobelpreisträgern geleitet. Beispielhaft sei Dr. Severo Ochoa als Nobelpreisträger für Medizin im Jahr 1959 genannt. Die Geisteswissenschaften waren durch eine Vielzahl von Künstlern jeglicher Richtungen vertreten. Der Leiter Alberto Jiménez Fraud war stets bemüht, bekannte Persönlichkeiten als Vorbilder und Inspiration für die Studenten zu gewinnen. Nachdem die Einrichtung aufgrund der hohen Nachfrage, ein größeres Grundstück am Stadtrand bezogen hatte, fanden regelmäßig Aktivitäten und Vorträge statt. An einem musikalischen Angebot sollte es eben so wenig fehlen wie an Forschungsmitteln, vor allem aber sollte das Angebot von hoher Qualität bestimmt sein.[15] Somit gehörten zu den geladenen Gästen und Vortragsrednern einflussreiche Musiker wie Manuel de Falla, Andrés Segovia oder Igor Strawinski, Auch in allen anderen Fachbereichen hieß man die besten nationalen und internationalen Vertreter der damaligen Zeit willkommen. Dazu gehörten unter anderen Albert Einstein, Paul Valéry, Marie Curie, John M. Keynes, Alexander Calder, Walter Gropius und Henri Bergson y Le Corbusier.[16] Für den weltoffenen und internationalen Geist der Residencia de Estudiantes sorgten jedoch nicht nur die Studierenden und Lehrenden selbst sondern ebenso eine üppige Bibliothek, die mit spanischen und ausländischen Werken ausgestattet war. Es lagen zudem internationale Zeitungen und Fachzeitschriften aus, die jedem Studenten frei zur Verfügung standen. Im damaligen Spanien war dies nicht der Standard, denn man konnte nicht immer und überall frei auf den Katalog zugreifen und zugleich war die Auswahl meist weniger attraktiv als die der „Resi“.[17] Mit dem Beginn der Franco-Diktatur in Spanien wurde die residencia im Jahr 1936 geschlossen. Bis dahin war sie jedoch das erste und bedeutendste Zentrum kulturellen Austausches in Spanien, die produktivste spanische Institution sowie ein Ort intellektueller Begegnung und künstlerischem wie wissenschaftlichem Schaffen im Europa jener Zeit.

I.III Der Einfluss der Residencia de Estudiantes auf Lorca

Mit der Erlaubnis seiner Eltern durfte auch Federico García Lorca ein ganzes Jahr in der Residencia de Estudiantes verbringen, jedoch unter der Voraussetzung, dass er seine akademische Laufbahn beherzigt fortsetzen würde. Im Jahr 1919 unternahm er seine erste Reise nach Madrid, die in erster Linie dazu dienen sollte, sich bei dem Leiter des Studentenwohnheims vorzustellen und dieses kennenzulernen. Lorca brachte ein Empfehlungsschreiben seines alten Freundes und Mentors an der Universität von Granada, Fernando de los Ríos, mit. Das Empfehlungsschreiben richtete sich an den damals populärsten Dichter Spaniens, Juan Ramón Jiménez, der sich den Posten gemeinsam mit Antonio Machado teilte.[18] Beide stammen ebenfalls aus Andalusien und beeinflussten Lorcas Frühwerk stark. Ramón Jiménez war so begeistert von Lorca, dass er sich bereiterklärte das neue Mitglied der Resi unter seine künstlerische Obhut zu nehmen. In einem Brief an Fernando de los Ríos teilte Ramón Jiménez ihm mit, wie stark ihn der junge Dichter beeindruckte, und bekundete die Freude über weiteren Kontakt. Zudem fiel ihm an Lorca eine besondere Eigenschaft auf: Jene Begeisterung, die er selbst als eine Essenz des künstlerischen Schaffens betrachtete.[19] Ebenfalls angetan von seiner Person sagte ihm Jiménez Fraud sofort ein Zimmer für das kommende Studienjahr zu. Während seines Besuchs traf er seinen alten Freund José Mora Guarnido wieder, der Lorca weiteren, für die Kunstszene wichtigen Mitgliedern vorstellte. Mora Guarnido nahm ihn mit in das „Ateneo de Madrid“; ein angesehener Kunstverein Madrids, zu dem lediglich die gesellschaftliche Elite Zutritt hatte. Lorca lernte dort Dichter wie Guillermo de Torre oder Pedro Salinas und die beiden Philologen Ángel del Rio und Amado Alonso kennen. Besonders der Kontakt zu Torre sollte sich als belebend erweisen, denn dieser wurde schnell zur Hauptfigur der Avantgarde-Bewegung des ultraísmo. Die Literaturbewegung des Ultraismus strebte einen ästhetischen Umbruch an, indem sie dem Modernismus entgegentrat, der ähnlich dem Romancero Gitano von einer märchenhaften, exotischen und fantastischen Symbolik geprägt war. Lorca war kein überzeugter Ultraist, jedoch war er ein Freund des einflussreichen Torre. Dies beeinflusste ihn zwar literarisch nicht, Torre verhalf ihm allerdings zu mehr Ansehen und Einfluss. Damals wie heute waren gute Kontakte ebenso wichtig wie Talent.[20] Ende November desselben Jahres kehrte Lorca in die Resi zurück und begann sein erstes Studienjahr. In den ersten Monaten verbrachte er viel Zeit mit alten Freunden aus Granada, welche ehemalige Mitglieder der Gruppe „Rinconcillo“ waren, zu der auch er selbst gehörte. Was im Deutschen 'Eckchen' oder 'gemütlicher Winkel' bedeutet, war der Name einer Runde, deren Gründer der bereits erwähnte, junge Journalist José Mora Guarnido war.[21] In einer zunächst kleineren Gruppe trafen sich verschiedene Künstler in dem aufgrund seiner Gäste bekannt gewordenen Café Alameda in Granada. Die meisten von ihnen sollten später noch als Dichter, Autoren, Musiker, Politiker oder Diplomaten national und international bekannt werden. In der Runde des „Rinconcillo“ wurde über eben diese Bereiche sowie über verschiedene Projekte gesprochen und ausgiebig diskutiert. Die Bohème-Bewegung des Rinconcillo löste sich langsam auf, als die meisten Mitglieder nach Madrid zogen, um in der Resi zu wohnen und dort ihrem Fach nachzugehen.[22] Madrid war zu dieser Zeit moderner und weniger sittenstreng als Granada, weshalb es viele junge Künstler dorthin verschlug. Im Kreise dieser und anderer Intellektueller verbrachte Lorca in seinen ersten Madrider Monaten viel Zeit an seinem ersten Theaterstück El Maleficio de la Mariposa, zu dessen Inszenierung er sich von Mitgliedern des ehemaligen „Rinconcillo“ inspirieren ließ. Das Theaterstück sollte auf einer der damals bekanntesten Avantgarde-Bühnen Spaniens aufgeführt werden und stellte somit eine einmalige Chance für Lorca dar. Das Stück wurde jedoch ein Misserfolg und Lorca musste kurz darauf auf das Fordern seines Vaters hin nach Granada zurückkehren. Nachdem er dort einige der Prüfungen an der philosophischen und geisteswissenschaftlichen Fakultät bestand, durfte er im Herbst 1920 nach Madrid zurückkehren. Lorcas Vater übte starken Druck auf seinen Sohn aus, dem der junge Künstler nachgeben musste, da er noch immer unselbstständig und finanziell abhängig war. Als er im Oktober desselben Jahres zum zweiten Mal in die „Resi“ zurückkehrte, war er voller Motivation, seine Situation zu ändern, um in Madrid bleiben zu können. Er begann, an einem Gedichtband zu arbeiten, welchen er mit Hilfe seiner Freunde im Sommer 1920 herausgeben konnte.[23] In der Zeit, in der Lorca die Residencia de Estudiantes bewohnte, ließ er sich künstlerisch von seinem Umfeld beeinflussen. Das Wohnen in der Resi erwies sich somit für Lorca als fruchtbar, was ganz ihrer Philosophie entsprach.[24] Auch er selbst inspirierte sein Umfeld: Wie der später bekannt gewordene Filmemacher Luis Buñuel bemerkte war es Lorca, der sein Interesse für Poesie weckte.[25] Eine der wichtigsten Bekanntschaften, sowohl für Lorcas künstlerisches Schaffen als auch für seine persönliche Entwicklung, stellte der katalanische Maler Salvador Dalí dar.[26] Sie begegneten sich in den Anfangsmonaten des Jahres 1923, als Lorca nach einer anderthalbjährigen Pause in die Resi zurückkehrte. Freunde wie Salvador Dalí, die von ihm als Künstler überzeugt waren und ihn darin bestärkten, trugen maßgeblich dazu bei, dass Lorca diesem weiterhin nachging und nicht Jurist oder Philologe wurde. Lorca und Dalí wurden so gute Freunde, dass ihn Familie Dalí zu einem längeren Aufenthalt an der katalanischen Costa Brava einlud. Dalí zeigte Lorca die wichtigsten und schönsten Orte, deren Landschaft Lorca auch in späteren Gedichten erwähnte. Sie fuhren gemeinsam nach Barcelona, wo er weitere katalanische Künstler kennenlernte. Unmittelbar nach der Rückkehr nach Madrid begann er die Arbeit an einem weiteren Werk: Die Ode an Salvador Dalí, die im April 1926 veröffentlicht wurde. In diesem Stück wird nicht nur die innige Freundschaft zu dem Maler deutlich, sondern auch die Bewunderung für Dalís Malerei und die offenbare Liebe, die er für seinen Freund hegte.[27]

Dalí war über die Jahre, wenn auch oftmals über Briefverkehr, als Ratgeber, strenger Kritiker und Muse für Lorca präsent.[28] Die Zeit, die Lorca zwar unregelmäßig aber intensiv in der residencia verbrachte, führte für ihn zu neuen Kontakten, Freunden und Erfahrungen, die ihn und sein Werk prägten. In einem Umfeld von intellektuellen und jungen Künstlern, wuchs zudem sein Ansporn, künstlerisch tätig und in seinem Fach erfolgreich zu sein. Dies wurde dadurch bestärkt, dass in diesem elitären Umfeld auch ein gewisser Konkurrenzdruck herrschte. Auch wenn sein Erfolg zunächst im Freundeskreis oder regional begrenzt und nicht immer von langer Dauer war, motivierte ihn die Rückkehr nach Madrid stets aufs Neue. Die Resi öffnete ihm Türen zu verschiedenen Institutionen und Menschen, mit denen er als Vortragsredner oder Dramaturg zusammenarbeiten konnte.[29] Es war eine Zeit, die seinen Horizont erweiterte und ihm zu einer klaren Weltanschauung verhalf, die eher kosmopolitisch als ideologisch geprägt war. Trotz einer deutlichen Weltoffenheit ist ihm ein gewisses Maß an Traditionsbewusstsein nicht abzuerkennen. Bei den vielen avantgardistischen Strömungen zu Zeiten der Resi hat er seinen Sinn für die klassische Romantik bewahren können, was besonders im Romancero Gitano und Poema del Cante Jondo in Sprache und Form deutlich wird. Einige Künstlerkollegen führten das häufig auf seine andalusische Herkunft zurück, mit der Lorca im stetigen Kontrast zu dem modernen Madrid und der Resi konfrontiert war. Seine Dichtung wurde von einigen seiner Kollegen sogar als veraltet bezeichnet.[30] Lorcas Stolz für Andalusien und die lange Tradition seines Landes wird in seinen romances gitanos zwar deutlich, macht sie jedoch keineswegs unzeitgemäß und provinziell. Er war in der Tat ein fortschrittlicher Dichter, der ein Element der Moderne der spanischen Literatur begründete, indem er traditionelle Formen aufgriff und diese in eine neue Form der Dichtung transkribierte. Seine Poesie und Denkweise belegen seine Fortschrittlichkeit, auf die ich im folgenden Kapitel näher eingehen werde. Im Ursprung seiner Kultur, die von „fremden“ Sprachen, Traditionen, Ritualen, Bräuchen und Mentalitäten geprägt war, erkannte er jedoch ihre Besonderheit und Schönheit. Der Zigeuner als prägnantestes Symbol seiner Romanzen spielt dabei eine entscheidende Rolle, da er zugleich ein Symbol der allgemeinen konservativen Denkweise und Verachtung der Regierung für unkonventionelle Einflüsse darstellt. Diese kollidierte mit Lorcas Weltoffenheit, die sowohl durch das Aufwachsen in einer sehr liberalen Familie als auch durch das globale und moderne Ambiente der residencia geprägt wurde. Besonders bemerkbar macht sich die Kritik an der Regierung und Gesellschaft seines Landes in der Darstellung des Konflikts zwischen den gitanos und der guardia civil als Thematik jener Romanzen, die er in den Jahren zwischen 1923-1927 fertigstellte.[31]

[...]


[1] Gibson, I.: Federico García Lorca. Eine Biographie, Frankfurt a.M. / Leipzig 1994, S.189.

[2] vergl. ders., S.295-300

[3] Josephs, A. / Caballero, J.: Federico García Lorca. Poema del Cante Jondo. Romancero Gitano., Madrid 2009, S.93

[4] vergl. ders., S.189

[5] Karlinger, F. / Antón Andrés, A.: Spanische Literatur. Gestalten und Formen, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1975, S.154

[6] Mit Lorcas Poetik ist hier seine Dichtkunst gemeint, die Erkenntnisse zum Dichter selbst sowie zum Rezipienten umfasst. (vergl. Hess / Siebmann / Stegmann: Literaturwissenschaftliches Wörterbuch für Romanisten, Tübingen / Basel 2003, S.246)

[7] Caminos Abiertos (Hg.): Federico García Lorca, Madrid 1977, S.18-19

[8] vergl. Gibson, S.29

[9] vergl. Caminos Abiertos, S.20-21

[10] vergl. Gibson, S.25-27

[11] vergl. ders., S.62-69

[12] vergl. Gibson, S.115

[13] vergl. ders., S.117

[14] vergl. ders., S.116

[15] Genschow, K.: Federico García Lorca. Leben, Werk, Wirkung, Berlin 2011, S.22-23

[16] Residencia de Estudiantes (2015): Historia de la Residencia. [online] Homepage: Residencia de Estudiantes. URL:http://www.residencia.csic.es/pres/historia.htm [Stand 16.03.2016]

[17] vergl. Gibson, S.121

[18] vergl. ders., S.115

[19] vergl. ders., S.125

[20] vergl. Gibson, S.122-123

[21] vergl. Caminos Abiertos, S.54-56

[22] Maurer, Christoff (2013): Biografía. Una vida en breve. Granada y Manuel de Falla. [online] Homepage: Federico García Lorca. URL: http://web.archive.org/web/20131103092137/http://www.garcia-lorca.org/Federico/Biografia.aspx?Sel=Granada%20y%20Manuel%20de%20Falla [Stand 16.03.2016]

[23] vergl. Gibson, S.135-139

[24] vergl. ders., S.143-148

[25] vergl. ders., S.136

[26] vergl. Caminos Abiertos, S.57

[27] vergl. Gibson, S.200-205

[28] vergl. Gibson, S.235-259, S.295

[29] vergl. ders., S.122-129

[30] vergl. ders. S.295-296

[31] Gröne, M. / von Kulessa, R. / Reiser, F.: Spanische Literaturwissenschaft, Tübingen 2012, S.122

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Zwischen Tradition und Moderne. Eine Betrachtung von Lorcas Poetik anhand seines "Romancero Gitano"
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Romanisches Seminar)
Note
2,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
35
Katalognummer
V374723
ISBN (eBook)
9783668543416
ISBN (Buch)
9783668543423
Dateigröße
647 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Im Jahr 1928 veröffentlichte der andalusische Dichter Federico García Lorca einen Gedichtband mit dem Titel "Romancero Gitano". Dieser beinhaltet 18 Romanzen, die sich in Andalusien zutragen und Elemente des „Andalusiertums“, wie wir es heute kennen, aufzeigen. Als Akteure wählte Lorca die andalusischen Zigeuner jener Zeit, die er selbst als das ausdruckvollste Symbol seiner Heimat wahrnahm. Der irische Autor und Hispanist Ian Gibson hat sich intensiv mit dem Leben und Werk einiger Avantgardekünstler beschäftigt – in diesem Zuge fand auch Lorcas Werk Eingang in seine Studien.
Schlagworte
Poetik, federico garcia lorca, garcia lorca, romancero gitano, flamenco, gitano, lorca, literaturwissenschaft, tradition und moderne, tradition, moderne, romantik, avantgarde, avantgardismus, andalusien
Arbeit zitieren
Dominika Warmuth (Autor:in), 2017, Zwischen Tradition und Moderne. Eine Betrachtung von Lorcas Poetik anhand seines "Romancero Gitano", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374723

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