Der systemische Stellenwert historischer Beispiele in Spinozas politischer Theorie


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Thema und Zielsetzung der Arbeit
1.1. Spinozas Philosophie im Spannungsfeld traditioneller Konzeptionen des Beispiels
1.2. Verständigung über den Problemhorizont: Das Argumentieren mit Beispielen bei Spinoza

2. Die Ontologie des Beispiels
2.1. „Klio dichtet“ - die konzeptuelle Disposition historischer Beispiele
2.2. Der Zusammenhang von Regel und Beispiel im Lichte des Monistischen Parallelismus

3. Die Epistemologie des Beispiels
3.1. Das Beispiel als Spielart der imaginatio
3.2. Erkenntniskonstitution durch Selbstreflexion im Beispiel

4. Zusammenfassung der Ergebnisse

Bibliographie

1. Thema und Zielsetzung der Arbeit

1.1. Spinozas Philosophie im Spannungsfeld traditioneller Konzeptionen des Beispiels

Von ihren frühesten Ursprüngen an arbeitet die Philosophie mit Beispielen. Angesichts der schieren Unzahl und der Allgegenwart von Beispielen wurde jedoch, namentlich bis in die frühe Neuzeit hinein, erstaunlich wenig über den Stellenwert nachgedacht, der Beispielen in der philosophischen Argumentation zukommt. Im europäischen Kontext haben sich in (Spät-)Antike und Mittelalter nur zwei Wissensdisziplinen, die Rhetorik und die Theologie, systematisch über Rolle und Funktion von Beispielen verständigt.

Das rhetorische loci-communes -Prinzip hält den Redner dazu an, sich eine Sammlung von Beispielen anzulegen, aus deren Fundus er dann zwecks Publikumsüberzeugung in mündlich- konkreter oder schriftlich-fingierter Redesituation schöpfen kann. Quintilian empfiehlt dem Redner die Kenntnis „möglichst vieler“1 Beispiele, wobei sein Wissen nicht nur anwendungsbezogen entlang der Klassifikation der genera orationis, sondern ganz wesentlich auch diachron geordnet sein und damit auf die Geschichte ausgreifen soll2. Solchen historischen Beispielen gebührt vor den bloß fiktiven der Dichter in der rhetorischen Tradition der Vorrang3 - ein Vorrang, den wir unter veränderten Vorzeichen, nämlich hinsichtlich seiner nicht mehr persuasiven, sondern epistemischen Wirkungsweise, bei Spinoza wiederfinden werden.

Angefangen mit der Patristik werden Beispiele neben ihrem Einsatz im Rahmen der rhetorischen demonstratio noch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt verhandelt. Die exegetische Tradition der Allegorese brachte ein neues Verständnis des Beispiels hervor, das Eingang fand in die exemplum -Theorien der trivium -Fächer der mittelalterlichen artes liberales. Dieser exemplum -Begriff funktioniert auf zwei Hierarchieebenen. Auf der oberen stehen die biblischen Geschichten und Figuren; so steht die Figur Jesu nicht nur in einer typologischen Beziehung zu Adam, sondern fungiert auch als exemplum im ab-soluten Sinne, als ein exemplum mit Selbstverweisungscharakter. Jedes geschaffene Ding dagegen befindet sich auf der unteren Ebene, von wo aus es sich als Abbild (exemplum) reduktiv auf sein Urbild (exemplar), also fremdverweisend, lesen lässt.4 Wenn hier die ´Lesbarkeit´ auch ein entscheidendes Kriterium bildet, so ist diese Ordnung doch als eine jedem Erkenntnisakt vorgängige zu begreifen und deshalb nicht epistemisch, sondern ontologisch gefasst.

Was Spinoza vom überkommenen theologischen exemplum -Verständnis trennt, ist sein Zurückstehen von ebendieser Schwerpunktsetzung auf die Ontologie des Beispiels, sprich auf Seinsbeziehungen, die als faktisch bestehend angenommen werden. Bei Spinoza rückt die Epistemologie des Beispiels in den Vordergrund. Damit ist auch schon die Gemeinsamkeit und der Unterschied zum erstgenannten rhetorischen Beispiel-Begriff genannt: mit diesem teilt Spinoza das Interesse für die Wirkung des Beispiels auf den Rezipienten, doch anders als in der Rhetorik wird diese Wirkungsweise auf den Hörer oder Leser nicht vom distanzierten Beobachterstandpunkt aus, sondern aus der Erste-Person-Perspektive heraus betrachtet.

Nach diesen ersten Abgrenzungen gegen die Tradition ist nun aber zu fragen: wie steht es mit den Beispielen Spinozas selbst, die er in seiner politischen Theorie gibt, und warum lohnt überhaupt eine Untersuchung derselben, zumal weder Spinoza selbst eine Theorie des Beispiels ausgearbeitet hat noch auch nur eine einzige Forschungsarbeit zu existieren scheint, die sich explizit mit diesem Thema befasst? Vom Begriff des Beispiels kann in der Philosophie gezielt Gebrauch gemacht werden, mit dem Ziel einer systematischen terminologischen Erfassung. Genauso legitim ist aber seine unbestimmte Verwendungsweise in Anlehnung an den alltäglichen Sprachgebrauch, wenn nicht auf das Beispiel selbst reflektiert wird. Bei Spinoza ist letzteres der Fall. Nichtsdestoweniger sind die staatsphilosophisch-historischen Ausführungen in seinen beiden Traktaten von einem impliziten Konzept des Beispiels getragen, das ontologisch in seiner Bezugsetzung von Regel und Beispiel zueinander ungewöhnlich und epistemologisch für Spinozas Auffassung von historischem und politischem Verstehen sogar elementar ist.

1.2. Verständigung über den Problemhorizont: Das Argumentieren mit Beispielen bei Spinoza

Für einen Philosophen ist der Gebrauch von Beispielen immer problematisch. Beispiele drohen den Gedankengang zu verwässern, indem sie, wenn sie missverständlich gewählt sind, ein Argument in seinem Geltungsradius einschränken und es dadurch seiner Allgemeingültigkeit berauben. Zudem ist die Frage legitim, warum überhaupt Beispiele vergeben werden sollen, wenn sich das Gemeinte als abstrakte Regel oder in Gestalt einer mathematischen Formel wenn auch schwerer verständlich, so doch knapper und präziser kommunizieren lässt. Gerade letzterer Einwand ist mit Blick auf Spinoza von besonderem Gewicht, baut doch dessen gesamte Philosophie auf dem Grundsatz der Universalisierbarkeit auf, den Spinoza auch für seine Staatstheorie reklamiert: da Entstehung, Wandel und Untergang der Staatsformen vom Verständnis der Wirkmechanismen menschlicher Affekte her einsehbar werden5 und Spinoza im Rückverweis auf die Ethik klärt, dass diese Affekte alle Menschen notwendig handlungsleitend bestimmen6, muss auch seine Theorie der menschlichen Soziabilität und Staatsentwicklung strenge Allgemeingültigkeit besitzen. Wäre es von daher nicht naheliegend, wenn Spinoza seine politische Theorie dem Leser in der Form allgemein gehaltener Entwicklungsgesetze unterbreiten und auf sämtliche Beispiele verzichten würde, welche die universal gültigen Entwicklungsprinzipien allenfalls vorführen, aber nicht um neue Facetten ergänzen könnten und somit genau genommen einen unnötigen Ballast darstellen?

Tatsächlich aber argumentiert Spinoza nicht nur über, sondern auch mit zahlreichen Beispielen. Das Wort „exemplum“ fällt im Tractatus Politicus nicht weniger als 15 Mal. Neben bemerkenswerten Ausnahmen, wie das Beispiel des an den Mast gebundenen Odysseus7, sind es vor allem historische Beispiele, von denen Spinoza Gebrauch macht. Auch Matheron rekonstruiert nicht nur die drei Phasen des Volksaufstands anhand geschichtlicher Beispiele, die Spinoza selbst mehr oder weniger ausführlich im Tractatus Theologico- Politicus und im Tractatus Politicus gibt8, sondern behauptet darüber hinaus die Erklärung der Ursachen für den selbstverschuldeten Niedergang eines Staatssystems aus Beispielen der Erklärung dieses Niedergangs aus Prinzipien als gleichwertig9. Wohlgemerkt gestaltet sich dabei die Rekonstruktion der internen Verfallsursachen aus Beispielen weit ausführlicher als die aus Prinzipien: Matherons Analyse der ökonomischen, ideologischen und politischen Dimensionen des Staatsentwicklung (immer in dieser Reihenfolge) läuft sowohl im neunten Kapitel von Individu et communaut é als auch im bereits zitierten Aufsatz Passions et institutions fast ausschließlich über Beispiele ab, die den Schriften Spinozas entlehnt sind; Prinzipien oder Entwicklungsgesetze hingegen werden jeweils nur einleitend erwähnt.

Wir stehen nun vor dem scheinbaren Widerspruch, dass Spinoza Beispielen einerseits viel Raum in seiner politischen Theorie einräumt, obwohl sie andererseits doch eigentlich als überflüssig zu gelten hätten, weil alle Einzelfälle, die sie nennen könnten, ja dessen ungeachtet nach einem Regelsystem bestimmter allgemeiner Gesetzmäßigkeiten funktionieren müssen, das unabhängig von ihnen besteht.

Der Widerspruch lässt sich leicht auflösen: erstens, wenn man in Betracht zieht, dass die Beispiele, die Spinoza gibt, dem unzureichenden Erkenntnisvermögen des Menschen geschuldet sind. Eine Ordnung mag faktisch existieren, aber ohne dass wir sie einzusehen vermögen und genau hierfür dienen Beispiele. Anders gesprochen: Spinoza gewichtet die epistemologische Relevanz des Beispiels stärker als seine Ontologie. Auf diesen Aspekt werde ich im Hauptteil meines Aufsatzes unter dem dritten Oberpunkt zurückkommen.

Zweitens, und das ist von viel größerer Tragweite, ist das Verhältnis von Beispiel und Regel bei Spinoza sowohl ontologisch als auch epistemologisch ein viel komplexeres als das von bloßer Über- und Unterordnung, mithin die Antithese des von mir formulierten Widerspruchs, dass eine Regel unabhängig von ihren Beispielen Geltung besitzen könne, schlichtweg falsch. Dafür gibt es drei Argumente, von denen das erste (2.1.) auf die spezifische Struktur historischer Beispiele ausgeht, das zweite (2.2.) der Stellung, die Beispiele im System der Ethik einnehmen, entspringt und das dritte (3.1. und 3.2.) die erkenntniskonstitutive Leistung historischer Beispiele bei Spinoza überhaupt ins rechte Licht rückt. Diese drei Argumente sollen im Folgenden ausgeführt werden.

2. Die Ontologie des Beispiels

2.1. „Klio dichtet“ - die konzeptuelle Disposition historischer Beispiele

Bevor ich zum ersten Argument komme, möchte ich auf einen faktischen Befund hinweisen, der, achtet man auf die Verwendung historischer Beispiele bei Spinoza, zwangsläufig auffällt und an dem die Eigenwertigkeit dieser Beispiele gegenüber den Gesetzen geschichtlicher Entwicklung evident wird: unbeschadet der logischen Allgemeingültigkeit, die eine Regel in der Theorie besitzt, deckt ein Beispiel die zum Teil gravierenden Modifikationen seiner Regel bei deren Umsetzung in die Praxis auf. Ein Beispiel! Der Tractatus Theologico-Politicus nennt die Demokratie die natürlichste Staatsform für den Ausgang des Menschen aus dem Naturzustand10, weil sie die Ideale von Freiheit11 und Gleichheit12, die den Naturzustand kennzeichnen13, dadurch am besten umsetzt, dass sie durch die politische Teilhabe Aller [!] die heteronome Abhängigkeit des Individuums vom Staat auf ein Minimum herabsetzt. Die Entstehung der Demokratie aus dem Geiste des Naturzustands stellt demnach eine logische Notwendigkeit dar. Wie jedoch der Naturzustand als denknotwendige Fiktion lediglich für den Theoretiker einen fruchtbaren Ansatzpunkt bildet, so bedeutet auch das Naturrecht von Freiheit und Gleichheit faktisch nichts, da den Naturzustand instabile und wechselhafte Abhängigkeitsverhältnisse der Schwächeren von den Stärkeren auszeichnen, sodass Freiheit und Gleichheit in der Praxis nur insofern existieren, als jeder Einzelne der gleichen Gefahr ausgesetzt ist, dass sich die Machtverhältnisse im nächsten Moment umkehren.14 Freiheit und Gleichheit bestehen nur theoretisch, nicht tatsächlich.15 Es besteht von daher auch keine tatsächliche Notwendigkeit, dass sich eine Gemeinschaft mit dem Ausgang aus dem Naturzustand zu einer Demokratie formiert und genau diese Differenz zwischen Theorie und Praxis ist es, die das Beispiel der Staatsgründung des hebräischen Volkes fassbar macht, von der das Alte Testament erzählt und die Spinoza im 17.

[...]


1 „Sciat ergo quam plurima [exempla]“ (Quintilianus: Institutio Oratoria XII, 4, 2.).

2 „In primis vero abundare debet orator exemplorum copia cum veterum tum etiam novorum“ (Quintilianus: Institutio Oratoria XII, 4, 1.).

3 vgl. schon Aristoteles, Rhetorik II, 20, 2 und II, 20, 8 (1393a-1394a); Aristoteles´ Argument für diesen Vorzug stützt sich auf die unmittelbare Überzeugungskraft, die Beispiele aus der Geschichte entfalten, weil es den Menschen ohne Weiteres plausibel erscheine, dass sich das, was sich einmal zugetragen hat, erneut wird zutragen können.

4 Günther Buck sieht die Wurzeln dieses Konzepts bereits im Neuplatonismus angelegt und noch bei Johann Amos Comenius in der frühen Neuzeit präsent (vgl. Günther Buck: Beispiel, Exempel, exemplarisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter et. al. Band 1. Basel 1971, S. 818-823, S. 819.).

5 Tractatus Politicus (TP), Caput I, §4: „ Cum igitur animum ad politicam applicuerim, nihil quod novum vel inauditum est, sed tantum ea, quae cum praxi optime conveniunt, certa et indubitata ratione demonstrare, aut ex ipsa humanae naturae conditione deducere intendi“ [Hervorhebungen von mir]. Auch Matheron betont die Rückbindung der politischen Theorie Spinozas an dessen Affektenlehre und spricht von der „théorie des passions du corps social“ (Alexandre Matheron: Individu et communauté chez Spinoza. 2. Auflage. Paris 1988, S. 358.).

6 TP, Praefatio, §5: „homines necessario affectibus esse obnoxios“.

7 vgl. TP, VII, §1.

8 vgl. Matheron, Individu et communauté, S. 417-420.

9 „Sur ce point [des dysfonctionnements institutionnels de la societé politique], Spinoza nous donne deux sortes d´indication: d´une part, deux principes généraux; et d´autre part, une multitude d´exemples“ (Alexandre Matheron: Passions et institutions selon Spinoza. In: Alexandre Matheron: Études sur Spinoza et les philosophies de l´âge classique. Lyon 2011, S. 231-252, S. 235.).

10 Die Demokratie wird als die Regierungsform „maxime naturale“ (Tractatus Theologico-Politicus (TTP), Caput XVI.) aufgeführt.

11 Die Demokratie sei „maxime ad libertatem, quam Natura unicuique concedit“ (TTP, Cap. XVI.).

12 Die Gleichheit Aller werde aus dem Naturzustand in die Demokratie herübergeholt („omnes manent, ut antea in statu naturali, aequales“; TTP, Cap. XVI.).

13 Aus der Tatsache, dass der Naturzustand hier mit Werten wie Freiheit und Gleichheit befrachtet wird, folgt zwingend, dass es sich bei Spinoza, ganz im Unterschied zu Hobbes, um keinen Vertreter eines Rechtskonzepts handeln kann, das von einem bloß ´gesetzten´, positiven Recht ausgeht.

14 „Cum autem [...] in statu naturali tamdiu unusquisque sui iuris sit, quamdiu sibi cavere potest, ne ab alio opprimatur et unus solus frustra ab omnibus sibi cavere conetur, hinc sequitur, quamdiu ius humanum naturale uniuscuiusque potentia determinatur et uniuscuiusque est, tamdiu nullum esse“ (TP, II, §15.).

15 „[ius humanum naturale] magis opinione, quam re constare“ (TP, II, §15.).

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Der systemische Stellenwert historischer Beispiele in Spinozas politischer Theorie
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft)
Veranstaltung
Spinoza: eine Zyklentheorie
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
17
Katalognummer
V375172
ISBN (eBook)
9783668544475
ISBN (Buch)
9783668544482
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Politische Theorie, Fatalismus, Beispiel, Demokratie, Monismus
Arbeit zitieren
Korbinian Lindel (Autor:in), 2017, Der systemische Stellenwert historischer Beispiele in Spinozas politischer Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/375172

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