Diese Arbeit beinhaltet einen Fragebogen zur Verbesserung des Verständnisses von Kindern aus Sicht der Traumapädagogik.
Diesen Fragebogen habe ich anhand eines 15 jähriger Jungen, Lionel ausgefüllt.
1) Gibt es für mich liebenswerte Anteile beim Kind? In welcher Situation bzw. wann werden diese für mich erlebbar?
Er ist großzügig, teilt gerne seine Sachen. Er kriegt oft Kuchen von einem Freund, der in einer Konditorei seine Lehre macht, er teilt mit den anderen seinen Kuchen.
2) Was sind die inneren Wünsche und Ziele des Kindes?
- Sicherheit
- Stabilität
- Einen Vater
- Er sagt, sein Ziel ist reich zu werden
3) Welches Gegenübertragungsgefühl löst das Kind gegenwärtig / in einer speziellen Situation bei mir aus?
Wenn Lionel vor mir über seine Mutter schimpft bzw. wenn ich höre wie er am Telefon mit ihr redet, löst bei mir Traurigkeit und Mitleid aus.
4) Konzept des ‚guten Grundes‘: Du machst das weil…? Als Grundannahme: Das Verhalten des Menschen ist grundsätzlich nicht negativ motiviert. Aus dem gewordenen Innenerleben des Kindes heraus macht sein Verhalten Sinn. Auch wenn es von außen nicht nachvollziehbar ist. Meine hypothesengeleitete Annahme, warum das Kind das spezifische Verhalten an den Tag legt?
Er musste ohne Vater aufwachsen und die väterliche Rolle fehlte ihm extrem, er gibt das auch zu. Ich glaube er nimmt dieses Verhalten von seinem Vater auf, weil er dadurch von seinem Vater Anerkennung und Liebe erhofft, er möchte eine Beziehung zu ihm aufbauen. Vielleicht denkt er, wenn er sich ähnlich wie sein Vater verhält, könnte er das erreichen.
5) Welches Grundbedürfnis, welches aktuell bzw. biographisch nicht befriedet wird/wurde, kommt in der wahrgenommenen Symptomatik zum Ausdruck?
Ein unbefriedigtes Grundbedürfnis von ihm ist eine Vater-Sohn Beziehung. Sein Vater hat sich nie um ihn gekümmert, er hat ihm nur Geld gegeben. Mir ist es aufgefallen, dass er Männer, die nett zu ihm sind, übertrieben bewundert und ständig ihre Nähe sucht.
6) Welche Absicht steckt hinter dem Verhalten? (Kontrolle, Macht, Selbstwirksamkeit,…? Absicht gut - Weg verkehrt! - Welche Verhaltensalternative könnte man dem Kind anbieten?)
Er braucht Anerkennung von dem Vater. Da ich den Vater persönlich nicht kenne und auch nicht viel von ihm weiß, weiß ich es nicht was für eine Verhaltensalternative hilfreich wäre.
7) Was versucht das Kind mit dem herausfordernden Verhalten zu erreichen oder sicherzustellen? Was ist der Nutzen bzw. Ertrag?
Vielleicht versucht er sein Selbstzweifel auszugleichen.
8) Sind Handlungsschritte im pädagogischen Setting für das Kind verstehbar/nachvollziehbar/transparent?
Ich hatte das Gefühl, dass die Handlungsschritte für ihn grundsätzlich verstehbar und nachvollziehbar waren, aber wenn er sehr schlecht drauf war hat er alles einfach blöd und sinnlos gefunden.
9) Erlebt das Kind Sicherheit? Wo bzw. bei wem? Wo nicht bzw. bei wem nicht? Warum nicht?
Meiner Meinung nach erlebt er im Umgang mit den Eltern keine Sicherheit, da er kein festes Zuhause und keine feste Bindung zu den Eltern hatte. Der Vater hat nie mit ihnen gelebt, er hat zu ihm sehr selten Kontakt gehabt. Die Mutter hat Lionel sehr oft bei den Verwandten für eine Weile gelassen und Lionel wusste oft nicht wo seine Mama ist und wann sie überhaupt zurückkommt. Ich finde solche Umstände haben dazu beigetragen, dass Lionel keine Sicherheit erlebt
10) Welche tragend sichere Bindungsperson hat das Kind?
In der Familie hat er seinen Onkel als Bindungsperson. Er hat auch einen guten Freund, ihm trifft er regelmäßig, sie verstehen sich gut.
11) Wer bzw. was destabilisiert das Kind? Wie bzw. wodurch destabilisiert die Person das Kind?
Die Eltern destabilisieren das Kind. Der Vater verlangt von dem Kind grundsätzlich Gehorsamkeit und das überfordert Lionel sehr. Die Mutter ist sehr instabil, Lionel kann sich schon wegen Kleinigkeiten aufregen, es reicht oft nur ein falsches Wort und Lionel beginnt zu toben bzw. kam es bereits vor, dass Lionel seine Mutter bespuckte.
12) Welche Haltung und welches Verhalten einer Betreuungsperson hat sichernde Wirkung auf das Kind?
Nach meiner Beobachtung denke ich, dass er sehr gerne über seine Erfolge erzählt. Wenn er merkt, dass eine Person Interesse an seinen Hobbys und Schulleistungen hat, redet er sehr gerne darüber, er ist ruhig, sein Gesichtsausdruck ist weicher. Er lässt Personen näher zu sich, die Interesse an ihm zeigen. Ich habe gemerkt, dass sich seine Wutausbrüche beruhigen, wenn er vom Betreuungspersonal ignoriert wird.
13) Wo, bei wem bzw. wodurch erfährt das Kind haltgebende - korrigierende Grenzen?
Lionel erfährt haltgebende Grenzen bei einem Betreuer und bei seinem Onkel. Er hält viel von seinem Onkel und nimmt auch davon auch Kritik an. Sein Onkel geht mit ihm sehr Wertschätzend um, lässt aber nicht alles fallen.
14) Wie gelingt es dieser Person, dass das Kind, ‚korrigierenden Grenzen‘ annehmen und akzeptieren kann?
Sein Onkel kümmert sich um ihn seit seiner Geburt mehr als seine eigenen Eltern. Er hat regelmäßig Kontakt zu ihm. Er geht sehr wertschätzend und liebevoll mit ihm um, hört ihn zu, unternimmt viel mit ihm. Er gibt ihm ein wenig Sicherheit.
15) Wie wird versucht, mit den Eltern des Kindes Kontakt zu halten? Wodurch erleben die Eltern, dass sie Teil der sozialpädagogischen Intervention sind?
Die Mutter ist sehr instabil, zeigt aber Interesse und nimmt die Termine wahr. Sie besucht Lionel, er will sie aber oft gar nicht sehen. Der Vater arbeitet gar nicht mit, er sieht die sozialpädagogische Intervention unnötig. Er reagiert oft auf Anrufe nicht und meldet sich nur selten beim Kind. Lionel versucht Kontakt zu seinem Vater zu halten.
16) Wo erlebt sich das Kind selbstwirksam? (Wann hat das Kind die Situation und sich selbst unter Kontrolle, um nicht die Umgebung unter Kontrollen haben zu müssen?)
In der Schule. Er weiß, dass er sehr klug ist und braucht nicht viel lernen um eine gute Schulleistung zu leisten.
17) Geht diese Form der Selbstwirksamkeit zu Lasten der Außenwelt? Wann fühlt sich das Kind ‚in für die Außenwelt konstruktiver Weise‘ selbstwirksam?
18) Welche Situationen überfordern das Kind und seine Affektregulation?
Kritik kann er sehr schwer nehmen. Wenn man mit ihm über seinen Vater redet wird er schnell sehr aggressiv und nimmt ihn gleich in Schutz.
19) Wie versucht das Kind wieder innere Stabilität / Kohärenz zu erlangen (Zerstören, SVV, Suchtmittelkonsum,…?)
Er isst sehr viel Süßigkeiten, raucht Gras und versucht bei Sportwetten sein Glück.
20) Zeigt das Kind oft wechselnde Zustandsbilder? (Welche und wann?)
Man kann sich mit ihm gut unterhalten, er ist sehr intellektuell, jedoch kippt er oft plötzlich, redet extrem bösartig und äußert seine Meinung sehr aggressiv. Sobald über das Thema Politik diskutiert wird, beginnt Lionel sofort über Ausländer und Frauen zu schimpfen.
Was mir noch sehr komisch vorgekommen ist, war wie er mit einem Kind gestritten hat und sie sich gegenseitig beschimpft haben, hat er währenddessen einen Schokoriegel aufgemacht und hat ihn in normalen Ton gefragt ob er auch davon essen möchte. Er hat den Schokoriegel mit ihm geteilt und dann haben sie weitergestritten.
21) Mit welchen dieser Zustände/Anteile kann ich schwerumgehen? Weil? Was lösen diese gefühlsmäßig in mir aus?
Frauenfeindlichkeit löst bei mir extreme Wut aus. Wenn er so bösartig über Menschengruppen redet, fällt es mir sehr schwer ruhig zu bleiben. Das ist ein immer zurückkehrendes Thema in meinem Leben, da mein Stiefvater auch extrem frauenfeindlich war/ist.
22) In welchen Situationen bzw. bei welchen Verhaltensweisen erlebe ich mich dem Kind gegenüber ohnmächtig?
Wenn er mich plötzlich beschimpft und versucht mich lächerlich und blöd darzustelen.
23) Wie komme ich in diesen Situationen wieder zu meiner Selbstwirksamkeit?
Ich mache mir immer wieder bewusst, dass es in Wirklichkeit nichts mit mir zu tun hat. Er ist einfach verzweifelt. Ich versuche mich mit verschiedene „Mantras“, die ich selbst erfunden habe, zu beruhigen.
24) Hatte ich dem Kind gegenüber in Ohnmachtssituationen Gedanken und Gefühle, für welche ich mich schäme?
Nein, ich glaube, dass es nicht so schlimm ist, wenn ich in Angstsituationen oder wenn er sich extrem provokant verhält. Ich denke, dass ich ihn am liebsten hauen würde, aber ich weiß, dass ich so etwas nie tun würde, das meine ich nicht ernst.
25) Welche innere Haltung dem Kind gegenüber hat maximal entängstigende Wirkung auf das Kind?
Wenn er provokant ist oder mich beschimpft, dann ignoriere ich sein Verhalten und sage ich nur Sätze wie zum Beispiel „Du bist jetzt gemein/Arsch zu mir, ich mag dich trotzdem“. Oder ich sage gar nichts und schaue ihn nur mit meinem „Blick“ an.
26) Was muss ich mir vergegenwärtigen, um ‚immer wieder‘ in diese Haltung dem Kind gegenüber zu kommen?
Ich muss mir selber immer bewusstmachen, dass er in dieser Situation ist und versuche mich nicht persönlich angegriffen zu fühlen.
27) Was lerne ich für mich persönlich in der Arbeit mit dem Kind bzw. was lernt mir das Kind?
Ich lerne in Stresssituationen Ruhe zu bewahren. Dadurch, dass Lionel grundsätzlich sehr nett zu mir ist, habe ich gelernt seine plötzlichen Beschimpfungen nicht persönlich zu nehmen. Ich bin mir sicher, dass solche Situationen später in der Praxis vorkommen werden. Ich finde es sehr gut, dass ich diese Erfahrung machen und mehr Selbstsicherheit erlernen konnte.
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- Nóra Haouas (Author), 2016, Traumapädagogisches Kinderverstehen. Ein Fragebogen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/375295