Aristoteles: De interpretatione, das 9. Kapitel


Seminararbeit, 2000

20 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1 Aristoteles und seine Schrift Peri hermenaias

2 Die Einleitung des 9. Kapitels (18 a 28-34)

3 Wie könnte eine Wahrheitswertverteilung auf zukunftsbezogene, kontradiktorische Aussagen aussehen?
3.1 Beide Teilaussagen sind wahr (18 a 39-18 b 4)
3.2 Eine Teilaussage ist wahr, eine ist falsch (18 a 34-38, 18 b 4-16)
3.2.1 Der Zukunftsbegriff des Aristoteles
3.2.2 Der Zukunftsbegriff des Determinismus
3.2.3 Die Konsequenzen o.g. Zukunftsvorstellungen für die Überlegungen des Aristoteles
3.3 Beide Teilaussagen sind falsch (18 b 17-25)

4 Widerlegung des Determinismus (18 b 25-19 a 6)
4.1 Reductio ad absurdum (18 b 25-34)
4.1.1 Untätigkeitsargument
4.1.2 Überlegtes Handeln als menschliches Prinzip
4.2 Unabhängigkeit des Determinismus von tatsächlich gemachten Aussagen (18 b 34-19 a 7)
4.3 Ausdehnung der Determinismusannahme auf große Zeiträume (18 b 34-36, 19 a 2-7)

5 Zwischenergebnis der bisher angestellten Überlegungen
5.1 Beide Teilaussagen sind wahr
5.2 Eine Teilaussage ist wahr, eine falsch
5.3 Beide Teilaussagen sind falsch
5.4 Schlussfolgerung

6 Der Bereich des Kontingenten oder: Was geschieht nicht mit Notwendigkeit? (19 a 7-22)
6.1 Dinge, die dem menschlichen Handlungsspielraum unterliegen
6.2 Dinge, für die mehrere Möglichkeiten bestehen
6.2.1 Dinge, die geschehen, wie es sich gerade trifft (19 a 19-20)
6.2.2 Dinge, die in der Regel eintreffen / nicht eintreffen (19 a 21-22)

7 Der Bereich des Notwendigen (19 a 23-27)
7.1 Die temporale Notwendigkeit (19 a 23-25)
7.2 Die schlechthin bestehende Notwendigkeit (19 a 26)
7.3 Die qualifizierte Notwendigkeit

8 Die Aristotelische Lösung (19 a 27-19 b 4)
8.1 Was ist an einem zukunftsbezogenen, kontradiktorischen Aussagenpaar wahr? (19 a 7-32)
8.2 Was ist an den beiden Gliedern einer zukunftsbezogenen Kontradiktion wahr? (19 a 33-39)

9 Schlussbemerkung (19 b 1-4)

Literatur

1 Aristoteles und seine Schrift Peri hermeneias

Aristoteles (im Folgenden abgekürzt mit Ar.) wurde 384 v. Chr. in Stagira (Thrakien) geboren und lebte bis 322 v. Chr., wo er auf seinem Landsitz auf Euböa starb. Seine Kindheit verbrachte er vermutlich an der königlichen Residenz in Pella, da sein Vater Leibarzt von Amyntas III. von Makedonien, dem Großvater Alexanders des Großen, war.

367 v. Chr., im Alter von 17 Jahren, kam Ar. nach Athen an die Akademie Platons. Seine dortige Lehrzeit endete erst fast 20 Jahre später mit dem Tode Platons 347. Ar folgte daraufhin der Einladung eines Studienkollegen namens Hermias, Herrscher von Atarneus in Assos, nach Mysien (Kleinasien), wo er einige Jahre in einem kleinen platonischen Zirkel verbrachte. 342 wurde Ar. zurück an den makedonischen Hof berufen, wo er als Erzieher des jungen Alexander fungierte. Etwa 335 kehrte er (nach weiterem Aufenthalt in Stagira) nach Athen zurück und gründete dort eine eigene Schule. 323 verließ er die Stadt wieder, weil man ihn der Gottlosigkeit angeklagt hatte und starb kurze Zeit später auf seinem Landgut bei Chalkis auf Euböa.

Ausgangspunkt seiner Lehre sind die Ideen Platons, von denen er sich im Laufe seines Lebens zunehmend distanzierte. I. Ggs. zu seinem Lehrer war Ar. die den Sinnen zugängliche Welt des Alltags Grundlage aller wissenschaftlicher Überlegungen. Dadurch wurde er zum Begründer der modernen Logik .

Von seinen Werken sind ausgerechnet die, die er selbst zur Veröffentlichung bestimmt hatte, ausnahmslos verlorengegangen. Die uns erhaltenen, zum sog. Corpus aristotelicum zusammengefassten Schriften dienten wohl eher Unterrichts- und Forschungszwecken. Sie wurden in sieben verschiedene Themengebiete eingeteilt (Jugendschrif- ten, Schriften zur Logik, zur Metaphysik, naturwissenschaftliche Schriften, Schriften zur Ethik, zur Kunst, zu Volkswirtschaft und Politik).

Die hier behandelte Schrift Peri hermenaias ist den Schriften zur Logik, dem sog. Organon (=Werkzeug, Instrument für wissenschaftliche Verfahren), zuzuordnen. Das Organon hat von allen Schriften des Ar. die breiteste Wirkung erlangt. Es geht darin um Methoden des Denkens, wie z.B. die Lehre vom Schließen und der Beweisführung.

In der Schrift Peri hermenaias geht es nicht um die Auslegung von Texten. Der etwas irreführende Titel stammt höchstwahrscheinlich nicht von Ar. und ist hier nach Zell eher i.S.v. „Von der Rede, als Ausdruck der Gedanken“ zu verstehen (Weidemann S.42). Behandelt werden in dieser Schrift die logischen Strukturen des Behauptungssatzes, des Logos apophanticus.

Das 9. Kapitel dieser Schrift befasst sich mit demWahrheitsgehalt kontradiktorischer (d.h. einander entgegengesetzter, im direkten Widerspruch zueinander stehender) Aussagen, die sich auf zukünftige Ereignisse beziehen. Es gehört zu den am meisten diskutierten Texten der Philosophiegeschichte und wird von vielen Autoren als nebelhaft und schwer verständlich bezeichnet (s. Weidemann S.223,S225). Trotz all dieser Bedenken ist das 9. Kapitel ein streng logisch aufgebauter Text mit klaren Argumenten und es ist die Mühe wert, sich ein Verständnis davon zu erschließen.

2 Die Einleitung des 9. Kapitels (18 a 28-34)

Das 9. Kapitel beginnt mit einer Zusammenfassung der zuvor aufgestellten Gegensatzlehre. Ar. legt dar, dass von zwei einander entgegengesetzten Aussagen immer eine wahr und eine falsch sein muss, und zwar dann, wenn diese Aussagen sich auf Vergangenes oder auf Gegenwärtiges beziehen. Dieser Zeitbezug wird hier besonders erwähnt, da Ar. in diesem Kapitel untersuchen möchte, wie es sich mit kontradiktorischen Aussagen verhält, die sich auf die Zukunft beziehen. Ar. in 18 a 32: „Bei Einzelnem, das noch bevorsteht, aber verhält es sich (mit den Aussagen) nicht so.“ Es wird also gleich vorweggenommen, dass die Gegensatzlehre, wie sie bisher dargelegt wurde, auf zukunftsbezogene kontradiktorische Aussagen nicht anwendbar ist. Warum nicht, wird im Folgenden genauer untersucht.

3 Wie könnte eine Wahrheitswertverteilung auf zukunftsbezogene, kontradiktorische Aussagen aussehen?

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1 Beide Teilaussagen sind wahr (18 a 39 - 18 b 4)

Diese Möglichkeit scheidet von vornherein aus. Ar. dazu in 18a39: „Denn beides kann ja nicht zugleich zutreffen, wenn es sich um Dinge dieser Art handelt.“ Wenn etwas morgen weiß sein wird, kann es unmöglich morgen zugleich nicht weiß sein. Würde man beide Aussagen für wahr halten, ergäbe sich ein Widerspruch.

3.2 Eine Teilaussage ist wahr, eine ist falsch (18 a 34-38, 18 b 4-16)

Aus oben angestellter Überlegung ergibt sich also, dass „notwendigerweise entweder die bejahende oder die verneinende Aussage wahr bzw. falsch sein“ muss (Ar. in

18 b 4) . Daraus ergeben sich folgenreiche Konsequenzen: Wenn es wirklich so wäre, dass bei allen kontradiktorischen Behauptungen, insbesondere denen, die Zukünftiges betreffen, heute schon eine wahr und eine falsch wäre, dann wäre die ganze Zukunft vorherbestimmt. Ar. in 18 a 34: „Wenn nämlich jede bejahende und... verneinende Aussage wahr oder falsch ist, muß ja notwendigerweise auch alles zutreffen oder nicht zutreffen....“, in 18 b 5-7: „Nichts ist der Fall und geschieht folglich als bloßes Ereignis eines... Zufalls oder je nachdem, wie es sich gerade trifft,... , sondern alles wird mit Notwendigkeit geschehen ....“ Eine derartige Wahrheitswertverteilung hätte also den Determinismus zur Folge.

Für Ar. ist diese Schlussfolgerung so selbstverständlich, dass sie keiner weiteren Erklärung bedarf.Einige Kommentatoren der Neuzeit, wie z.B. Dorothea Frede, wundern sich allerdings darüber, „woher Ar. die Berechtigung genommen haben könnte, diese in der Tat weitreichenden Folgerungen zu ziehen,....“, und das schon gleich in seiner Ausgangsthese (Weidemann S.230). Um verstehen zu können, warum diese Schlussfolgerung richtig ist und gleichzeitig für Ar. so selbstverständlich, ist es nötig, sich mit dem einer solchen Schlussfolgerung zugrundeliegenden Zukunftsbegriff auseinanderzusetzen.

3.2.1 Der Zukunftsbegriff des Aristoteles

Ar. war überzeugter Indeterminist: „...so leuchtet ein, daß nicht alles mit Notwendigkeit der Fall ist oder geschieht, ...“ (19 b 18). Welche Vorstellung von Zeit und Zukunft daraus folgt, beschreibt Weidemann ab S.251 ff . Wenn man davon ausgeht, dass nicht alles vorherbestimmt ist, was in Zukunft geschehen wird, ergibt sich daraus eine offene Zukunftsvorstellung. Die Idee einer offenen Zukunft wird in der modernen Zeitformenlogik durch einen sogenannten topologischen Baum dargestellt. Vom Weltzustand der Gegenwart, der durch einen Punkt links im Bild dargestellt wird, ausgehend, verzweigt sich die Zukunft in mehrere Äste eines liegenden Baumes rechts davon, die die möglichen Wege der Entwicklung unserer Welt darstellen. Welche Möglichkeit in Wirklichkeit eintritt, d.h. welchem Ast die Entwicklung folgt, steht nicht von vornherein fest, sondern ergibt sich Schritt für Schritt. Nach White ist es zwar unwahrscheinlich, dass man in der Antike bereits über eine Vorstellung verzweigter Zeit verfügte, er räumt jedoch ein, dass für Ar. die Vergangenheit etwas Lineares, die Zukunft etwas sich in mehrere Möglichkeiten Auffächerndes gewesen sein muss (Weidemann S.255). Eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt gemachte Aussage über die Zukunft kann für Ar. also nur dann jetzt schon wahr bzw. falsch sein, wenn sie unabhängig davon ist, wie sich die Welt in Zukunft weiterentwickeln wird oder wenn heute schon hinreichende Bedingungen erfüllt sind, die das zukünftige Eintreffen bzw. Nicht-Eintreffen der aufgestellten Behauptung unausweichlich machen (ebd.S.257). Daraus ergibt sich bei Ar. eine sehr differenzierte Vorstellung darüber, welche Ereignisse mit Notwendigkeit eintreten bzw. nicht eintreten werden und bei welchen Ereignissen offen ist, ob sie eintreten werden oder nicht. Er unterscheidet also, ob ein Ereignis in den Bereich des Kontingenten oder in den Bereich des Notwendigen einzuordnen ist.

3.2.2 Der Zukunftsbegriff des Determinismus

Wenn man bei dem Bild des topologischen Baumes bleibt, so bestehen für Deterministen die verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten der Welt der Zukunft sozusagen nur als theoretische Überlegung auf dem Papier. In Wahrheit sieht es für sie so aus, dass jetzt schon feststeht, welchen Weg die Entwicklung nehmen wird. Am topologischen Baum kann man sich das so vorstellen, dass einer der vielen Wege auf den vielen Ästen quasi hervorgehoben ist als derjenige, der sich bewahrheiten wird. Dies steht heute schon fest, stand immer schon fest, nur wir können nicht unbedingt wissen, wie es weitergehen wird. Für Deterministen stellt sich die Zukunft also genauso linear und unverzweigt dar, wie es die Vergangenheit tut. Ar. bringt diesen Sachverhalt in 18 b 11ff folgendermaßen zum Ausdruck: „...und so konnte auch von jedem beliebigen Ereignis, das...eintrat, schon immer wahrheitsgemäß behauptet werden, daß es einmal eintreten werde. Wenn aber (von etwas) schon immer wahrheitsgemäß behauptet werden konnte, daß es (jetzt) eintritt oder daß es (in Zukunft) eintreten wird, so hätte es nicht (jetzt) nicht eintreten können bzw. kann es nicht (in Zukunft) nicht eintreten.“

[...]

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Details

Titel
Aristoteles: De interpretatione, das 9. Kapitel
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Institut für Philosophie)
Veranstaltung
Sprache und Logik (Aristoteles, De interpretatione)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2000
Seiten
20
Katalognummer
V37562
ISBN (eBook)
9783638368599
Dateigröße
411 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beinhaltet eine Zusammenfassung und Interpretation des 9. Kapitels von Aristoteles' bekannter Schrift "De interpretatione".
Schlagworte
Aristoteles, Kapitel, Sprache, Logik
Arbeit zitieren
Anne-Barbara Knerr (Autor:in), 2000, Aristoteles: De interpretatione, das 9. Kapitel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37562

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