Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Analyse: Brechts Ballade und die Tradition der Moritat
3. Vergleich: Die Darstellung des Kindsmords in historischen Moritaten
3.1. Die Geschichte der M. H. v. T.
3.2. Das erwachte Gewissen oder Die böse Mutter
4. Zusammenfassung, Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Marie Farrar, die Protagonistin in Bertolt Brechts Ballade „Von der Kindsmörderin Marie Farrar“ aus dem Jahr 1922 (Pietzcker 1974: 172; 178-179), ist eine der zahlreichen Mütter der Literaturgeschichte, die ihr eigenes Kind töteten und in der Folge nicht selten selbst sterben mussten (Peters 2001: 9-11). Der Kindsmord war ein beliebtes literarisches Motiv und viele Autoren thematisierten diesen häufig als besonders unnatürlich, unbegreiflich und grausam klassifizierten Mord (Peters 2001: 9; 13; 18), den van Dülmen neben der Hexerei als das Vergehen bezeichnet, für das Frauen in der Frühen Neuzeit am häufigsten angeklagt wurden (1991: 8). Dementsprechend waren die Geschichten, in denen Kinder durch die Hand der eigenen Mutter starben, auch in allen literarischen Gattungen vertreten. Einige Autoren, wie Wagner mit „Die Kindermörderin“ brachten sie als Dramen auf die Bühne (Peters 2001: 64 ff.) oder kleideten sie in Erzählungen (wie Lenz in „Zerbin oder die neuere Philosophie“; Peters 2001: 123 ff.), andere nutzten sie, um Schriften mit Lehrcharakter zu verbreiten (wie Maler Müller: „Das Nuss-Kernen“; Peters 2001: 180 ff.) oder um sie in Moritaten zu besingen (Petzoldt 1974: 69), und wieder andere wie Bertolt Brecht verfassten Gedichte über das Schicksal der Mörderinnen und ihrer Opfer (Pietzcker 1974: 178).
In meiner Arbeit im Kontext des Seminars „Kindsmord in der Literatur und im Lied“ werde ich der Frage nachgehen, wie sich die Thematik des Kindsmords in traditionelleren literarischen Formen gestaltet und wie diese Darstellung moderne Werke beeinflusst hat. Welche Motive und Techniken haben sich entwickelt und verändert, welche sind gleichgeblieben und von welchen grenzen sich neuere Kindsmord-Darstellungen ab? Diese und weitere Fragen werde ich am Beispiel von Bertolt Brechts Ballade „Von der Kindsmörderin Marie Farrar“ untersuchen, die ich mit zwei historischen Moritaten, „Die Geschichte der Kinds-Mörderin M. H. von T.“ und „Das erwachte Gewissen oder Die böse Mutter“ vergleichen möchte. Hierzu werde ich zunächst Brechts Ballade analysieren, um anschließend die Tradition der Moritat zu durchleuchten und sie mit dieser in Bezug zu setzen. Darauf aufbauend werde ich die Darstellung des Kindsmords in den beiden historischen Moritaten betrachten und sie mit der Ballade aus dem 20.Jahrhundert vergleichen. Abschließend werde ich die Analyse und den Vergleich zusammenfassen und versuchen, so zu einem Fazit bezüglich der Frage zu kommen, welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten das moderne und die traditionellen Werke aufweisen und erörtern, ob man Brechts Ballade als eine moderne Moritat bezeichnen kann oder ob doch die Unterschiede überwiegen, sodass man die „Marie Farrar“ nicht als eine literarische Nachfolgerin einer M.H. von T. oder einer „Bösen Mutter“ betrachten kann.
Neben meinen drei verwendeten primärliterarischen Quellen dienen mir Carl Pietzckers Analyse von Brechts Ballade, Kirsten Peters Werk „Der Kindsmord als schöne Kunst betrachtet: eine motivgeschichtliche Untersuchung der Literatur des 18. Jahrhunderts“ und Leander Petzoldts Abhandlung zum Bänkelsang als Hauptquellen. Die historischen Fakten über den Kindsmords müssen bei einer literarischen Untersuchung wie dieser ebenfalls präsent sein, können aufgrund des vorgegebenen Rahmens der Arbeit jedoch nur einen implizierten Hintergrund bilden (Vgl. hierzu van Dülmen 1991, für die Thematik dieser Arbeit v.a. Kapitel V. und VI.; Peters 2001, Teil 1 und Rameckers 1927, v.a. Kapitel II. und V.).
Ich beschränke mich aufgrund des vorgegebenen Rahmens dieser Arbeit auf die drei genannten literarischen Texte, obwohl sich einige weitere Kindsmord-Darstellungen (z.B. Hauptmanns „Rose Bernd“ als zweiter moderner Text, im Gegensatz zu Brechts Ballade naturalistisch; Pietzcker 1974: 174-175; oder einen der oben bereits genannten Texte) für einen Vergleich dieser Art angeboten bzw. den von mir vollzogenen ergänzt hätten. Weiterhin fokussiere ich mich bei der Untersuchung der Tradition der Moritat auf die inhaltliche und stilistische Struktur und klammere andere Aspekte, wie die Produktion der Moritaten oder das Gewerbe der Bänkelsänger, aus. Auch verzichte ich, um den Rahmen der Arbeit einzuhalten, auf eine Behandlung der Beziehung und Parallelen von Brechts Dramenbegriff zu seinen bänkelsängerischen Balladen.
Nun wende ich mich zunächst der Analyse von Brechts Ballade zu, um eine Basis für den Vergleich mit der traditionelleren Form der Moritat zu schaffen und zu untersuchen, wie Brecht „seine“ Kindsmörderin und deren Geschichte im 20. Jahrhundert darstellt.
2. Analyse: Brechts Ballade und die Tradition der Moritat
Bertolt Brechts Ballade „Von der Kindsmörderin Marie Farrar“ entstand im Jahr 1922 (Pietzcker 172). Unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges und der Novemberrevolution 1918 sowie im Kontext der jungen Weimarer Republik und dem Deutlichwerden des Elends der urbanen Unterschichten begann sich Brecht von Bürgertum und Tradition ab - und Proletariat zuzuwenden (Pietzcker 1974: 172). Diese ideologische und soziopolitische Wendung lässt sich in seinem literarischen Werk nachvollziehen und zeichnet sich somit auch in der Ballade „Von der Kindsmörderin Marie Farrar“ ab (Pietzcker 1974: 172): Er kehrt traditionelle Formen und Motive um (Pietzcker 1974: 182; 186) und zeigt ein leidendes, verlassenes Individuum (Pietzcker 1974: 172; 196). Brecht protestiert hier durch die Technik der Umkehr gegen eine Gesellschaft, in der ein Schicksal wie das der Marie Farrar möglich ist, doch lässt er den Protest (noch) als solchen stehen und ergänzt ihn nicht mit einem Aufruf zur Aktion gegen die angeklagte Gesellschaft (Pietzcker 1974: 195; 182-183; 186).
Der Titel der Ballade selbst lässt bereits keinen Zweifel darüber, was sich ereignen wird (Pietzcker 1974: 205) und vor allem, wer die Täterin ist – das erste Attribut, das der Leser mit dem Namen Marie Farrar verbunden sieht, ist „Kindsmörderin“. Das Gedicht setzt sich aus neun Strophen á 10 Zeilen zusammen. Der Reim folgt dem Schema a-b-a-b-c-d-e-d-f-f, mit Ausnahme der Strophen 5 (a-b-a-b-c-d-c-d-f-f) und 8 (a-b-a-b-a-c-d-c-f-f). Beim Metrum handelt es sich um einen unregelmäßigen Jambus. Die recht regelmäßige Form ist wohl Brechts Wahl geschuldet, das Gedicht als Ballade zu verfassen. Er bricht diese durch zahlreiche Enjambements und Versschlüsse auf (z.B. in Strophe 8 durch ein dreimaliges „sagt sie“, was den Berichtsfluss bewusst stört; Pietzcker 1974: 197; oder durch Zerreißen eines ganzen Wortes: Übel/keit; Pietzcker: 190; 204), wodurch meiner Meinung nach der Leser durch die bewussten Pausen zu immer wieder neuer Aufmerksamkeit für das Erzählte gedrängt wird.
Bereits in der ersten Strophe sieht sich der Leser mit Formulierungen konfrontiert, die zwei sehr unterschiedlichen Sprechweisen eigen sind (Pietzcker 1974: 178). Das Gedicht beginnt gleich einer Aktennotiz (Z. 2) oder einem Gerichtsprotokoll (Z.3). Pietzcker stellt eine Sprache fest, die „bürokratisch-unmenschlich“ und „im Stil eines Polizeiprotokolls“ gehalten ist (1974: 178). Die asyndetische Beschreibung der Marie Farrar in Zeile 2 könnte man beinahe als Verunglimpfung auffassen, und in Kombination mit der durch und durch gefühllosen Beschreibung ihres Abtreibungsversuches wird sie, in Pietzckers Worten, als „factum brutum dargestellt“ (1974: 178). Im folgenden Refrain wird diese Art des Sprechens völlig umgekehrt und zu einer „predigenden“ Weise, die die Zuhörer als Kollektiv ins Mitleid und keinesfalls zum Zorn auf das Individuum Marie aufgrund des Gehörten ziehen will (Pietzcker 1974: 178). Das Individuum Marie, in der Strophe noch für sich stehende Mörderin, wird nun auf die Stufe der Allgemeinheit gehoben (Strophe 1, Z.10), von der wechselseitig Hilfe und implizit also auch Mitleid gefordert wird (Pietzcker 1974: 178). Pietzcker geht so weit, diese beiden unterschiedlichen Arten des Sprechens zwei verschiedenen Sprechern (dem des Refrains und dem der Strophen) zuzuweisen, die als „Masken“ des Sprechers der gesamten Ballade (Pietzcker scheint hier die Verwendung des Begriffes des „lyrischen Ichs“ abzulehnen) „das Schicksal Maries aus unterschiedlichen Perspektiven “ darstellen (Pietzcker 1974: 178). Der „Strophen-Sprecher“ gibt Maries Bericht über das Geschehene wieder (Pietzcker 1974: 178), während der „Refrain-Sprecher“ zum Großteil im Kontrast zu diesem Bericht mit seiner immer gleichen Bitte an die Zuhörer herantritt. In der letzten Strophe haben sich die unterschiedlichen Sprecher dann soweit angenähert, dass sie verschmelzen und kollektiv Maries Schicksal als Exempel begreifen (Pietzcker 1974: 178; 179). Auffällig ist auch die Syntax, die die Sprechebenen voneinander trennt: Marie selbst spricht dadurch, dass der „Strophen-Sprecher“ ihren Bericht vorträgt, nur im Konjunktiv der indirekten Rede, während der Sprecher selbst im Indikativ bleibt (Pietzcker 1974: 179). Bis zu Strophe 9 wird so die Distanz zwischen den beiden bewahrt und der Wahrheitsgehalt von Maries Aussagen implizit in Frage gestellt (Pietzcker 1974: 179), was durch Wahl von Worten wie „angeblich“ in der ersten Strophe oder „scheinbar“ in der dritten Strophe noch verstärkt wird (Pietzcker 1974: 197). Nachdem der Leser in der ersten Strophe mit Marie und ihrer Vorgeschichte bekannt gemacht wurde, folgt die Beschreibung ihrer Schwangerschaft und weiteren Abtreibungsversuche in Strophe 2, welche ebenfalls auf ihre Armut schließen lassen (Pietzcker 1974: 201). Auffällig ist meiner Meinung nach auch, dass der Sprecher die Leser in der ersten Zeile von Strophe 2 wissen lässt, dass Marie trotz Misserfolg den Abtreibungsversuch bezahlte – die eigentlich irrelevante Information unterstreicht für mich das naiv-unschuldige und kindliche Bild der Protagonistin, die sich auch in derselben Strophe als noch im Wachstum befindlich beschreibt. Durch den „kirchlichen Druck auf ihr Gewissen“ (Pietzcker 1974: 201) betet Marie zu „Marie“ (und nicht Maria, wie die Mutter Jesu auch hätte genannt werden können). In Strophe 3 wird durch das Motiv des frommen, unehelich schwangeren Mädchens, das unter Schwächeanfällen in der Kirche um Vergebung betet ein klarer intertextueller Bezug zur Domszene in Goethes „Faust“ hergestellt (Pietzcker 1974: 201). Der „Strophen-Sprecher“ tritt hier zum ersten Mal deutlich aus seinem bürokratisch anmutenden Protokollstil, denn er kommentiert fast zynisch das Geschehen (Strophe 3, Z.2., „es war auch viel verlangt“; Z.7-8 „da wohl niemand glaubte, daß sie, sehr reizlos, in Versuchung fiel“; Pietzcker 1974: 197). In Strophe 4 erfährt der Leser mehr über Maries Arbeits – und Lebensumstände. Der „Strophen-Sprecher“ ist nun deutlich weniger distanziert (Pietzcker 1974: 179) und beschreibt ihren physischen Schmerz anschaulich (Strophe 4, Z.2-3 „als krallten ihr Nägel in den Bauch“; „Es schüttelt sie“). Die Überraschung über ihre Geburt unterstreicht erneut ihre offensichtliche Jugend und Naivität; dazu passend wählt der „Strophen-Sprecher“ in Strophe 3 (Zeile 6) die Formulierung „bis die Geburt sie nachher überfiel“ (Pietzcker 1974: 201). In Strophe 5 wird die Geburt beschrieben, die erst erfolgt, nachdem Marie noch einmal spät abends zum Schnee kehren aus dem Bett geholt wurde – damit wird erneut ihre „Klassensituation“ (Pietzcker 1974: 201) unterstrichen, die ihr es sogar beinahe unmöglich macht „in Ruhe zu gebären“ (Strophe 5, Z.4). Wie schon bei der Betrachtung des Reimschemas festgestellt, bildet diese Strophe eine Art Bruch: der „Strophen-Sprecher“ löst seine Distanz und damit seinen bürokratischen Sprachstil hier so weit auf, dass er Maries Tat direkt beurteilen will (Strophe 5, Z. 8), sich jedoch sozusagen rechtzeitig selbst unterbricht und sich wieder auf eine „neutralere Position“ (Pietzcker 1974: 197) zurückzieht. Doch die Distanz ist fallen gelassen, der „Strophen-Sprecher“ fordert seine Zuhörer in Strophe 6 auf, Marie weitererzählen zu lassen (Pietzcker 1974: 197; obwohl meiner Meinung nach eigentlich er es war, der sich oder auch sie durch seine Beinahe-Beurteilung unterbrochen hat) und stellt sich (und die Zuhörer ebenfalls) mit dem Satz „Damit man sieht, wie ich bin und du bist“ mit Marie auf eine Stufe (Pietzcker 1974: 197). In den Strophen 6 bis 8 werden Maries katastrophale Lebensumstände explizit beschrieben, und der nichtsdestotrotz noch immer bürokratisch-nüchtern anmutende Stil des „Strophen-Sprechers“ als Kontrast lassen diese besonders hart und unmenschlich wirken (Pietzcker 1974: 201). Auch die achte Strophe, in der sich der Mord ereignet, unterscheidet sich (wohl aus diesem Grund) vom übrigen Reimschema des Gedichts. Dreimal unterbricht der „Strophen-Sprecher“ hier seinen Bericht durch ein eingeschobenes „sagt sie“, nach Pietzcker um „zu verhindern, daß sich der Leser an das grausige Geschehen verliert“ (1974: 197). Der Mord wird ebenfalls nüchtern präsentiert und kann so den Leser nicht von der Art und Weise des Geschehens ablenken (Pietzcker 1974: 203). Marie Farrar tötet ihr Kind im Wesentlichen, weil es zu schreien beginnt (eventuell aus Angst, von ihren Dienstherren entdeckt zu werden; Pietzcker 1974: 184). Dies weist meiner Meinung nach erneut auf ihre Überforderung, Naivität und Unerfahrenheit hin , und auch Pietzcker zitiert hier Martin Esslin, indem er sagt, dass Marie weder bei der Geburt noch bei dem Mord wusste, was sie tat oder geschieht, beides also von ihrer Seite aus völlig „passiv“ und unbewusst ablief (1974: 203; 187). Die letzte Strophe schließt nun den „Kreis“, sie beginnt wie die erste und zeigt durch weitere Parallelen den Exempelcharakter von Maries Schicksal, deren Sünde hier gewissermaßen für die Sünde aller steht (Strophe 1, Z. 3-4 „will/Ein Kind ermordet haben in der Weise"; Strophe 9, Z. 3-4 "will/Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen"; Pietzcker 1974: 203; 204). Für diesen Lehrcharakter spricht auch, dass man hier erfährt, dass Marie für ihre Tat verurteilt wurde und bereits tot ist – sie wird so zeitlos und „Trägerin einer allgemeinen Lehre“ (Pietzcker 1974: 199). Der Sprecher („Strophen“ – und „Refrain-Sprecher“ haben sich hier nun vereint, s.o.) benutzt nun Formulierungen aus dem Jargon seiner (vermuteten) Leserschaft, dem Bürgertum (z.B. „schwangeren Schoß“ statt wie in Strophe 3, Z.2 „als sie dann dicker war“; Pietzcker 1974: 204). Die Ballade hat sich nun nach Pietzcker von einem „konkreten Geschehen“, das in ihr beschrieben wurde, zu einem Exempel gewandelt und erhält eine „allgemeine Bedeutung, die Hörer und Sprecher betrifft“ (1974: 180). Die gesamte Form des Gedichtes spricht dafür, dass es sich bei Brechts Ballade um ein Exempel handelt: diese „literarische Kleinform“ enthält laut Pietzcker drei zentrale Momente: die Erzählung (in Strophen 1 bis 8), die Belehrung (in Strophe 9) und die Nutzanwendung (ebenfalls in Strophe 9) mit dazugehörigem Refrain (1974: 180). Auch erinnert die Ballade phasenweise an Elemente aus der Erzählung von Jesu Geburt, was ebenfalls für die Tradition des Exempels spricht, da der Stoff für solche lehrhaften Stücke häufig der Heilsgeschichte entnommen wurde (Pietzcker 1974: 181). Zunächst findet Maries Geburt unter ähnlich extremen Umständen statt: wie bei der Geburt Christi ist es Winter und die Mütter leben beide in extremer Armut. Die Vornamen der Frauen sind Variationen desselben Namens (Pietzcker 1974: 181) und teilweise erinnern sogar konkrete Formulierungen des „Strophen-Sprechers“ an die Bibel: „daß sie gebären sollte“, Strophe 4, Z. 8, „und sie gebar[…] einen Sohn“ Strophe 5, Z. 5 (Pietzcker 1974: 181; Vgl. auch Lukas Psalm 2, Vers 4-8) Durch diesen intertextuellen Bezug findet eine der zentralen Umkehrung traditioneller Formen in Brechts Ballade statt: Marie „widerruft“ Maria, wie Pietzcker sagt, sie schenkt ihrem Sohn nicht (nur) das Leben, sondern gleich den Tod (1974: 181). Dadurch wird der übliche „Bittgesang“ für Maria im Refrain der Ballade umgekehrt zum „Bittgesang“ für die Mörderin Marie (Pietzcker 1974: 181; Petzoldt 1974: 126). Durch diese Umkehrung wird von den Hörern zugleich Mitleid verlangt und Anklage gegen sie erhoben, denn sie müssen offenbar davon abgehalten werden, zornig zu sein (Pietzcker 1974: 181).
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