Der Sündenbockmechanismus als Ursprung des Opfers und der Kultur. Anwendung von René Girards "Das Heilige und die Gewalt" auf Voodoo-Zeremonien in Haiti


Bachelorarbeit, 2017

37 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. René Girard - Leben und Werk

3. Das Heilige und die Gewalt
3.1 Das mimetische Begehren
3.2 Der Sündenbockmechanismus
3.3 Das Opfer, die Mythen und die Verbote

4. Das Heilige und die Gewalt im Voodoo
4.1 Voodoo in Haiti
4.2 Pantheon und Praxis
4.3 Voodoo-Zeremonie

5. Fazit und Kritik

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Dass Religionen Konflikte erzeugen und daher intolerant sind, ist eine Auf-fassung, der weit über die Hälfe aller Deutschen zuneigen. [...] Dem stehennicht schlechter begründete Auffassungen gegenüber, wonach keine der Welt-religionen sich systematisch Aufrufe zur Gewalt erlauben kann und Gewalt-losigkeit der Hauptton aller Religionen sei“ (Kippenberg 2008: 9)

Das Verhältnis von Religion und Gewalt ist ein viel und kontrovers diskutiertes Thema von großem öffentlichen Interesse. Aktuelle Ereignisse, vor allem öffentliche, religiös motivierte Gewalttaten gegen die zivile Ordnung (‚Terroranschläge’), wie zuletzt am 19. Dezember 2016, als der radikale Muslim Anis Amri mit einem LKW 12 Menschen auf einem Berliner Weihnachtsmarkt tötete, heizen vor allem die öffentliche Debatte an. Die akademische Auseinandersetzung mit religiöser Gewalt, die im kollektiven Gedächtnis der westlichen Welt sicherlich in den Anschlägen vom 11. September 2001 ihren bisherigen Höhepunkt findet, ist allerdings nicht neu.

Im Mittelpunkt des Diskurs zur Korrelation von Religion und Gewalt steht oft die religi-öse Praxis des Blutopfers. Ausgehend von der Annahme, dass das Opfer[1], neben den sogenannten ‚Heiligen Kriegen’ eine herausragende Rolle in der Beziehung von Religionund Gewalt spielt, wurde vor allem nach dessen Ursprung gesucht (Krech 2003: 1013).Der Altphilologe Karl Meuli nähert sich dem Thema kulturanthropologisch, bezieht sichaber auch auf die griechische Mythologie. In seinem Werk Griechische Opferbr ä uche (1946) interpretiert Meuli das Opfer als Entwicklung aus der Jagd. Die treibende Krafthinter diesem Prozess sei das Schuldgefühl, welches wiederum aus der Angst vor demLeben nach dem Tod entstände. Die Funktion des Opfers besteht laut Meuli demnach ausSühne und Reue (ebd.). Der Gräzist Walter Burkert hat in seiner Monographie Homo necans (1972) Meulis Theorie aufgegriffen und um Aspekte aus der Verhaltensforschung,der Psychologie und der Soziologie erweitert. Für Burkert steht der sakrale Akt des Tö-tens im Mittelpunkt der Opferung. Er sei das Grunderlebnis des Heiligen (Hock 2011:124). Henri Hubert und Marcel Mauss entwickelten 1899 in ihrem Essai sur la nature etla fonction du sacrifice die Theorie vom Opfer als Kommunikation zwischen profaner und sakraler Welt. In Verbindung mit seinen Ausführungen zum Gabentausch konzipiert Mauss das Opfer später auch als Geschenk an die Götter (Seiwert 1998: 273). In der Psy-chologie nach Siegmund Freund wird das Opfer gemeinhin als Ersatzhandlung verstan-den. Theorien der Ethologie sehen im Opfer häufig eine Steuerung des Aggressionstriebs(Hock 2011: 123). Der Literaturwissenschaftler René Girard kombiniert, ähnlich wieBurkart, Erkenntnisse und Materialien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Diszip-linen. Sie gliedert sich in die Reihe der erwähnten Opfertheorien und sticht doch hervor.Girard entwickelt über die Analyse des Blutopfers eine universelle Theorie der Kulturund der Religionen. Der Terminus ‚universell’ sollte aufmerken lassen, werden doch The-orien mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit spätestens seit der kulturwissenschaft-lichen Wende der 1970er Jahre mit Vorsicht genossen. Girards Theorie ist insofern inte-ressant, als dass sie nicht nur eine Theorie über das Verhältnis von Religion und Gewaltist, sondern auch deutlich macht, welche Rolle die Religion ganz allgemein für das sozialeMiteinander der Menschen spielt (Palaver 2003: 36).

In dieser Arbeit wird René Girards Theorie, mit besonderer Betrachtung seines Werks Das Heilige und die Gewalt, vorgestellt. Die menschliche Gewalt ist für Girard etwasNatürliches, das kanalisiert werden muss, um die Gesellschaft gewissermaßen vor ihrereigenen Gewalt zu schützen. Diese Funktion übernimmt in ‚primitiven Gesellschaften’[2] die (archaische) Religion. Deren Opfer, Riten, Ver- und Gebote schützen die Gesellschaftvor einem Rückfall in eine Zeit in der die gegenseitige Gewalt vorherrschend war. In‚zivilisierten Gesellschaften’ übernimmt das Gerichtswesen diese Funktion, wobei zent-rale Elemente des ursprünglichen Mechanismus noch vorhanden sind.

Ein grundlegendes Verständnis der mimetischen Theorie ist unabdingbar, um GirardsThese zu verstehen. Daher steht eine knappe Zusammenfassung der mimetischen Zusam-menhänge am Anfang der Ausführungen über Girards Theorie. Ihr folgt die Erläuterungdes Sündenbockmechanismus, der für Girard das Ende der gegenseitigen Gewalt und gleichzeitig den Ursprung der Kulturen und Religionen ausmacht. Was diese ersten For- men von Religion und Kultur ausgemacht haben, wird daraufhin in dem Kapitel ‚Das Opfer, die Mythen und die Verbote’ erörtert.

Girard ist sich bewusst, dass der von ihm postulierte Ursprung, beziehungsweise das Er-eignis, was am Ursprung der Religionen und Kulturen steht, immer verborgen bleibenwird. Dennoch unternimmt er den Versuch einer Verifizierung seiner These über die Ana-lyse der verschiedensten religiösen Phänomene, vornehmlich jedoch über das Opfer.In diesem Sinne folgt auf die Darstellung seiner Theorie, der Versuch, ethnographischesMaterial nach seinem Modell auszuwerten. Die Wahl ist auf eine Zeremonie im haitiani-schen Voodoo gefallen, zunächst weil Girard rituelle Opferungen in afroamerikanischenReligionen nicht untersucht hat und weil hierrüber umfangreiches ethnographisches Ma-terial vorliegt. Obwohl es sich bei den Haitianern Anfang des 20. Jahrhunderts (aus die-sem Zeitraum stammt die Beschreibung der Zeremonie) wohl kaum um ‚Primitive’ han-delt, müssten, Girards Theorie zufolge, wenigstens vereinzelt Rückschlüsse zu seinenAusführungen gezogen werden können. Der Beschreibung und Auswertung der Zeremo-nie ist eine kurze Einführung in die Entstehungsgeschichte, Pantheon und Praxis des Voo-doo in Haiti vorangestellt.

In einer abschließenden Betrachtung werden die Ergebnisse der Auswertung, Stärken und Schwächen Girards Thesen und mögliche weiterführende Ansätze erläutert.

2. René Girard - Leben und Werk

René Girard wurde am 25. Dezember 1923 in Avignon, Frankreich geboren. Sein erstesakademisches Interesse galt vornehmlich der Geschichte des Mittelalters und dessen kul-turellen Strukturen. 1947 promovierte Girard am École des Chartres in Paris nach einemStudium der Paläographie[3] mit der Dissertation La vie priv é e à Avignon dans la secondemoiti é du XVe si è cle (Das private Leben in Avignon in der zweiten H ä lfte des f ü nfzehntenJahrhunderts). Anschließend studierte Girard Geschichte an der Indiana University (Bloomington), wo er 1950 mit seiner zweiten Dissertation American Opinion of France, 1940-1943 promovierte. In Indiana begann auch sein Interesse an den Literaturwissen-schaften zu wachsen. Als Historiker und Lehrer für Französisch und Literatur veröffent-lichte Girard Essays unter anderem über Autoren wie Saint-John Perse, André Malrauxund Franz Kafka. Seine Reputation als Literaturkritiker verdankt Girard aber seinem ers-ten Buch Mensonge romantique et v é rit é romanesque von 1961 (Figuren des Begehrens.Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realit ä t, 1998). Hier stellt er das ‚mimeti-sche Begehren’ (siehe Kapitel 3.1) als charakteristisch für die Romanfigur im europäi-schen Kontext dar (Palaver 2003: 25). In diesem Jahr wurde Girard auch Professor fürFranzösische Literatur an der Johns Hopkins University (Baltimore), wo er von 1965 bis1968 den Lehrstuhl des Fachbereichs für Romanische Sprachen bekleidete. Zuvor arbei-tete Girard als Dozent an der Duke University (Durham) und von 1953 bis 1957 als Juni-orprofessor am Bryn Mawr College. Von Bryn Mawr aus wechselte Girard nach Bal-timore, wo er sich im Zuge der Arbeit an Mensonge romantique et v é rit é romanesque dem Christentum annäherte (Girard 1996: 1-2; Palaver 2003: 20).

Girard beschreibt seine Einstellung zu Anfang seiner Arbeit an dem Buch als zynisch,destruktiv und ganz im Sinne der atheistischen Intellektuellen jener Zeit. Die Auseinan-dersetzung mit Cervantes, Stendhal, Flaubert, Proust und vor allem Dostojewski führtebei Girard jedoch zu einer „intellectual-literary conversion“ (Williams 1996: 285). Erentdeckte eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Autoren, alle hätten eine persönlicheUmkehr erlebt, einen „existential downfall“ (ebd.: 284), dem sie ihre großen Werke ver-danken würden. Im Zuge dieser Entdeckung meint Girard zu erkennen, dass er im Begriffist, die gleiche Erfahrung zu machen (Williams 1996: 285; Palaver 2003: 22; Abshire2010: 6):

„When I wrote the last chapter of my first book, I had had a vague idea ofwhat I would do, but as the chapter took form I realized I was undergoing myown version of the experience I was describing. I was particularly attracted tothe Christian elements, for example, Stepan Verkhovensky´s final journey andturn to the Gospel before his death. So I began to read the Gospels and the restof the Bible. And I turned into a Christian” (Williams 1996: 285).

Obwohl er sich ab diesem Zeitpunkt als Christen beschreibt, betont er auch, dass dieseintellektuell-literarische Konversion keine Veränderung seines Lebens nach sich zog.

Erst als bei Girard wenig später Hautkrebs[4] diagnostiziert wurde, er eine Zeit der Angst durchlebte, seine Krankheit als Strafe Gottes empfand und die Nachricht seiner Heilung am Karmittwoch eintraf, veränderte sich sein Leben. Girard ging zur Beichte, ließ seine drei Kinder taufen und erneuerte seine Eheschließung mit der Amerikanerin Martha McCullough vor einem Priester (Williams 1996: 285; Girard 1997: 180-1).

In seinem zweiten Buch Dostoievski: du double à l ´ unit é, 1963 (Resurrection from the Underground: Feodor Dostoevsky, 1997), führt Girard seine Idee vom mimetischen Be-gehren auf Grundlage der Werke Dostojewskis fort und erweitert sie 1972 in seinem drit-ten Buch La violence et le sacr é (Das Heilige und die Gewalt, 1987) zu einer allgemeinenKulturtheorie. Girard bedient sich hier neben der griechischen Tragödie auch an ethnolo-gischem Material, um seine These vom Sündenbockmechanismus, die hier in Kapitel 3.2erläutert wird, herzuleiten.

Zwischen 1968 und 1976 war Girard als Professor für Literaturwissenschaft an der Uni-versity of New York (Buffalo) tätig. Von 1976 bis 1980 lehrte er wieder an der JohnsHopkins Universität Französische Literatur und Humanwissenschaften. In dieser Zeit ar-beitete Girard weiter an seiner Theorie und wendet sie im 1978 erschienenen Buch Des choses cach é es depuis la fondation du monde (Das Ende der Gewalt, 1983) auf biblischeTexte an. Die letzten 15 Jahre bis zu seiner Emeritierung 1995 ist Girard als Professor fürFranzösisch, Literatur- und Kulturwissenschaften an der Stanford University tätig. Inzahlreichen weiteren Publikationen beleuchtet Girard seine These vom Sündenbockme-chanismus von unterschiedlichen Seiten. In seinem 1982 erschienenen Buch Le bouc é missaire (Der S ü ndenbock, 1988) bearbeitet er beispielsweise mittelalterliche Verfol-gungstexte und Mythen. In La route antique des hommes pervers von 1985 (Hiob - ein Weg aus der Gewalt, 1990) bezieht Girard seine These auf die Hiob-Erzählung der Bibelund in A Theater of Envy: William Shakespeare von 1991 (Shakespeare: Theater desNeides, 2011) beschäftigt er sich, unter dem Gesichtspunkt seiner These, mit einigen Werken Shakespeares. Auch in seinen letzten Werken, darunter der Gesprächsband Ache- ver Clausewitz von 2007 (Im Angesicht der Apokalypse: Clausewitz zu Ende denken,2014), in dem Girard den Deutsch-Französischen Krieg behandelt oder Anorexie et d é sirmim é tique von 2008 (Magersucht und das mimetische Begehren), wendet Girard seineThese vom mimetischen Begehren und dem Sündenbockmechanismus an. Im Alter von 91 Jahren stirbt René Girard am 4. November 2015 in Stanford. Seine mimetische Theorie bleibt bis heute in vielen wissenschaftlichen Disziplinen, darunter Religionswissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie, Literaturwissenschaft und Ethnologie, diskutiert und angewandt (Palaver 2003: 21-4).

3. Das Heilige und die Gewalt

Aufbauend auf seinen Ausführungen zum mimetischen Begehren, die Girard in seinenersten Publikationen noch ausschließlich über romaneske Literatur herleitet, legt er in das Heilige und die Gewalt (1987) den Grundstein für eine allgemeine Kulturtheorie. Vomreligiösen Blutopfer archaischer Religionen, über die Analyse einiger griechischer My-then über die klassische Tragödie, biblischen Erzählungen und ethnologischen Berichtensucht Girard nach dem Wesen des Heiligen und findet im Ursprung des Opfers auch denUrsprung des Religiösen und der Kultur. Unter Bezugnahme auf namenhafte Wissen-schaftler aus den verschiedensten Bereichen, darunter Psychologie (Freud), Ethnologie(Lévi-Strauss, Mauss, Hubert, Durkheim etc.), Philosophie (Heidegger) und Religions-wissenschaft (Eliade, Otto) baut er seine Theorie auf. Um Girards Theorie zu verstehenmuss, hier zunächst das mimetische Begehren näher erläutert werden. Darauf folgt dieBeschreibung des Sündenbockmechanismus. Woraufhin abschließend die Darstellungseiner Herleitung, unter besonderer Berücksichtigung der zentralen Elemente des Opfers,der Mythen und der Verbote, folgt.

3.1 Das mimetische Begehren

Wie bereits im Abschnitt über Girards Leben und Werke angedeutet wurde, war die Entdeckung des ‚ mimetischen Begehrens ’ ausschlaggebend für seine persönliche wie intellektuelle Konversion und so auch Ausgangspunkt und Grundlage für seine weiteren Überlegungen und Ausführungen zu einer allgemeinen Kulturtheorie. Es ist dem Umfang dieser Arbeit geschuldet, dass Girards mimetische Theorie hier nicht vollumfänglich diskutiert, sondern nur oberflächlich erläutert werden kann.

Mimesis ’ ist griechisch für ‚ Nachahmung ’. Die menschlichen Verhaltensweisen führtGirard fast ausschließlich auf Nachahmung zurück. Anders als moderne Theorien derNachahmung seiner Zeit, die sich mit gesellschaftlich akzeptierten Modellen wie Gesten,Verhaltensweisen oder Sprachaneignung beschäftigen und die Girard deshalb kritisiert,legt er sein Hauptaugenmerk auf potentiell konfliktträchtige Nachahmung (Girard 1983:18, 28-9). Das ‚ mimetische Begehren ’ berge so ein Konfliktpotential. Sobald die pri-mären Bedürfnisse (zum Beispiel Hunger und Durst) eines Menschen befriedigt seien,überkäme ihn das Gefühl eines Mangels, er könne aber aus sich heraus nicht sagen, anwas es ihm mangelt. Folglich suche er (im Folgenden ‚ Subjekt ’) nach einem Vorbild (imFolgenden ‚ Modell ’), welches diesen Mangel augenscheinlich überwunden hätte. In derAnnahme, das Modell könne nur Objekte[5] begehren, die über den ursprünglichen Mangelhinaus noch befriedigender wirken würden, begehre das Subjekt daraufhin das gleicheObjekt wie das Modell. Girard erklärt es folgendermaßen:

„Sind seine Primärbedürfnisse einmal gestillt - zuweilen sogar schon vorher -, ist der Mensch von intensiven Wünschen beseelt, weiß aber nicht genau,was er wünscht: Er begehrt das Sein - jenes Sein, das ihm seinem Gefühl nachfehlt und von dem ihm scheint, ein anderer besitze es. Das Subjekt erwartetvon diesem anderen, daß er ihm sagt, was gewünscht werden muß, um diesesSein zu erlangen. Wenn das vom höheren Sein anscheinend bereits erfüllteModell etwas begehrt, dann kann es sich dabei nur um ein Objekt handeln,das eine noch umfassendere Seinsfülle zu vermitteln vermag. Das Modellzeigt dem Subjekt das begehrenswerteste Objekt nicht durch Worte, sonderndurch seinen eigenen Wunsch an“ (Girard 1994: 215).

Das Subjekt ahme also das Begehren des Modells nach. Girard spricht in diesem Zusam- menhang auch von „ Aneignungsmimesis “ (1983: 37), dem „ mimetischen Wunsch “ (1994:219) oder schlicht „ Mimesis “ (ebd.: 215). Das mimetische Begehren führe dann zum Kon-flikt, wenn das begehrte Objekt nicht gemeinsam besessen werden könne. Solange sichjedoch das Subjekt und das Modell durch große soziale Unterschiede oder räumliche Dif-ferenzen voneinander unterscheiden, bleibe das Konfliktpotential eingeschränkt. In die-sem Fall spricht Girard von „ externer Vermittlung “ (1999: 18). Sind diese Unterschiedeallerdings marginal (zum Beispiel bei Geschwistern oder Nachbarn), handle es sich nachGirard um eine „ interne Vermittlung “ (ebd.), die aus Subjekt und Modell über kurz oderlang Rivalen werden lasse und zum Konflikt führt. Wie wird aber aus dem anfänglichen,schlichten Begehren ein gewalttätiger Konflikt?

Zu Anfang stehe der Wunsch des Subjekts, das Objekt des Modells zu besitzen. Das Mo-dell werde versuchen dem entgegenzuwirken, was wiederum das Subjekt veranlassenwerde, den Wert des Objekts neu und höher zu bewerten und somit seine Anstrengungen,es in seinen Besitz zu bringen, zu steigern. Daraus resultiere allerdings auch ein verstärk-ter Widerstand des Modells, sein Objekt zu schützen, was eine erneute Wertsteigerungdes Objekts nach sich zöge und das Subjekt animiere, seine Bemühungen erneut zu ver-stärken. So entsteht ein Teufelskreis, in dem der Wert des Objekts immer weiter ansteige,bis sich dieser schließlich so weit vom ursprünglichen Wert entfernt habe, dass Girardvon einem metaphysischen Objekt spricht, wodurch der Konflikt eskaliere (ebd.: 89).Diese Entwicklung reicht so weit, dass die beiden Rivalen schließlich das Gefühl hätten,es ginge für sie um alles. Im Zentrum des Konflikts stehe dann schon lange nicht mehrdas anfängliche Objekt, vielmehr würden die Gewalt und die Rivalit ä t zentral:

„Hier besteht ein Prozeß, der sich aus sich selbst nährt, der sich immer mehrsteigert und immer mehr vereinfacht. Jedesmal, wenn der Nachahmer das Seinvor sich zu sehen glaubt, wird er es dadurch zu erreichen suchen, daß er dasbegehrt, was der andere ihm bezeichne; und jedesmal begegnet ihm die Ge-walt des feindlichen Begehrens. Durch eine ebenso logische wie unsinnigeVerkürzung wird er sich bald davon überzeugt haben, daß die Gewalt selbstdas sicherste Zeichen jenes Seins ist, das ihn immer meidet. Gewalt undWunsch sind nun miteinander verbunden. Das Subjekt kann erstere nicht mehrerleiden, ohne letztere erwachen zu sehen“ (Girard 1994: 218).

Durch das zunehmende Verschwinden des Objekts als Konfliktmittelpunkt richte sich dasAugenmerk des Subjekts immer mehr auf das Modell selbst. Das Modell werde einerseits als absolutes Ideal, andererseits als absoluter Feind wahrgenommen (Palaver 2003: 175).

Da das mimetische Verhalten allen Menschen innewohne, und gerade im ansteigendenKonflikt und bei geringer Nähe hochansteckend sei, wird das Modell in der Regel nichtdavon verschont. Es komme zur „ doppelten Vermittlung “ (Girard 1999: 108), bei der dasModell beginne das Subjekt nachzuahmen. Somit nehme bald auch das Modell das Sub-jekt als Ideal und Feind zugleich wahr und das Objekt verschwinde völlig, während dieRivalen sich nur noch auf den jeweils anderen konzentrierten und die reziproke Gewaltim Mittelpunkt der Mimesis stehe (ebd.: 179). Die Kontrahenten werden sich zwangsläu-fig immer ähnlicher, Girard spricht von „ feindlichen Br ü dern “ (Girard 1994: 231) oder„ Doppelg ä ngern “ (ebd.: 235). Aus der ursprünglichen Subjekt-Modell-Objekt Aneig- nungsmimesis werde nach dem Verschwinden sowohl des Objekts als auch der Unter-schiede zwischen dem Subjekt und dem Modell auf dem Höhepunkt des Konflikts die„ Gegenspielermimesis “ (Girard 1983: 37). Girard hält diesen mimetischen Prozess vorallem für Gesellschaften ohne Gerichtswesen - er nennt sie ‚primitive Gesellschaften’ -für äußerst gefährlich bis existenzgefährdend. Ohne regulierende Maßnahmen würde diemimetische Gewalt auf die gesamte Gesellschaft übergreifen, die sich daraufhin in einemKampf ‚alle gegen alle’ - Girard spricht von der „ mimetischen Krise “ (ebd.: 79) oder der„ Krise des Opferkultes “ (Girard 1994: 76) (siehe Kapitel 3.3) - selbst auslöschen würde(Girard 1994: 28f.).

3.2 Der Sündenbockmechanismus

Nach Girard sind die Mechanismen zur Kanalisierung der mimetischen Rivalität so altwie die Kultur selbst. Denn die erste erfolgreiche Überwindung der mimetischen Krise begründet für Girard auch die ersten Formen einer kulturellen Ordnung (Girard 1994: 311;Girard 1983: 36, 97; Palaver 2003: 198). Die mimetische Krise kennzeichnet sich vorallem durch einen völligen Verlust der Unterschiede (Entdifferenzierung) (Girard 1994:77; 88). Im Sinne der Gegenspielermimesis hat die mimetische Gewalt/Rivalität, begüns-

[...]


[1] An dieser Stelle sei auf die Mehrdeutigkeit des deutschen Terminus ‚Opfer’ hingewiesen. Das ‚Opfer’ kann sowohl die Opferhandlung, als auch das Objekt der Opferung meinen.

[2] Hier wird die Begrifflichkeit Girards übernommen. Der Termini ‚primitiv’ als das Gegenteil von ‚zivilisiert’ im Zusammenhang mit Religionen oder Kulturen, findet in aktuellen Diskursen auf Grund seiner negativen Konnotation so gut wie keine Verwendung mehr.

[3] mittelalterliche Handschriftenkunde

[4] Girards Ängste entpuppten sich später als überzogen. Der Arzt hatte versäumt ihm mitzuteilen, dass es sich um einen hervorragend heilbaren Krebs handelte, welcher in der Regel nach seiner Entfernung nicht zurückkäme (ebd.: 285).

[5] ‚Objekte’ können Sexualpartner, Materielles oder Immaterielles wie Titel, Ehrungen etc. sein

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Der Sündenbockmechanismus als Ursprung des Opfers und der Kultur. Anwendung von René Girards "Das Heilige und die Gewalt" auf Voodoo-Zeremonien in Haiti
Hochschule
Westfälische Wilhelms-Universität Münster  (Institut für Ethnologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
37
Katalognummer
V376068
ISBN (eBook)
9783668533363
ISBN (Buch)
9783668533370
Dateigröße
684 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
René Girard, Opfer, Kultur, Ursprung, Gewalt und Religion, Religion, Voodoo, Mimesis, mimetisches Begehren, Gewalt, Ursprung der Kultur, Ursprung des Opfers, religiöses Opfer, Blutopfer, Sündenbock, Sündenbockmechanismus, mimetische Krise, Krise des Opferkultes, Kulturtheorie, Gegenspielermimesis, Aneignungsmimesis, Gründungsgewalt, Mythen, Verbote, Kulturanthropologie, Sozialanthropologie, gewaltätige Einmütigkeit, versöhnendes Opfer, Wiedervereinigungsmimesis, Sakralisierung des Opfers, Opferkult, Verkennung, rituelles Opfer, Opferung, Opferstellvertretung, Das Heilige, König Ödipus, Ödipus, Ödipus Mythos, griechische Mythologie, Sündenbocktheorie, Religionswissenschaft, Theologie, Allgemeine Religionswissenschaft, Vergleichende Religionswissenschaft, Voodoo in Haiti, Haiti, Afroamerikanische Religionen, Voodoo Kult, Vodoo, Voodoo Zeremonie, Voodoo Ritual, Ursprung der Religion, primitiv cultures, primitive society, primitive cultures, primitive Gesellschaften, primitive Religion
Arbeit zitieren
Lia Jil Kluß (Autor:in), 2017, Der Sündenbockmechanismus als Ursprung des Opfers und der Kultur. Anwendung von René Girards "Das Heilige und die Gewalt" auf Voodoo-Zeremonien in Haiti, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/376068

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