Ist ein Leben ohne leidenschaftliche Liebe nur halb gelebt? Kann Liebe die Zeit anhalten oder bewirkt sie im Gegenteil, dass die Zeit regelrecht verfliegt? Sollte jeder Augenblick sinnlich ausgekostet werden oder sollte man sich Zeit lassen und nichts überstürzen? In Liebesgedichten tauchen auch solche Fragen auf, die die Liebe in ihrer Abhängigkeit von der Zeit oder ihre Fähigkeit, die Zeit zu beeinflussen, thematisieren.
Im Folgenden soll geklärt werden, in welchem Verhältnis in Andrew Marvells Gedicht To His Coy Mistress Liebe und Zeit zueinander stehen. Zuerst muss allerdings ein Überblick darüber gegeben werden, welche Liebeskonzepte in den vorangegangen Epochen die englische Lyrik geprägt haben, um in einem zweiten Schritt zu untersuchen, wie der Sprecher in Marvells Gedicht mit diesen Konventionen verfährt.
Inhaltsverzeichnis
1. Vorüberlegungen
2. Von der höfischen zur modernen Liebe
3. Das Verhältnis von Liebe und Zeit in To His Coy Mistress
3.1 An age at least to every part
3.2 Thy beauty shall no more be found
3.3 Now let us sport us while we may
4. Fazit
Anhang: To His Coy Mistress
Literaturverzeichnis
1. Vorüberlegungen
Ist ein Leben ohne leidenschaftliche Liebe nur halb gelebt? Kann Liebe die Zeit anhalten oder bewirkt sie im Gegenteil, dass die Zeit regelrecht verfliegt? Sollte jeder Augenblick sinnlich ausgekostet werden oder sollte man sich Zeit lassen und nichts überstürzen? In Liebesgedichten tauchen auch solche Fragen auf, die die Liebe in ihrer Abhängigkeit von der Zeit oder ihre Fähigkeit, die Zeit zu beeinflussen, thematisieren.
Im Folgenden soll geklärt werden, in welchem Verhältnis in Andrew Marvells Gedicht To His Coy Mistress[1] Liebe und Zeit zueinander stehen. Zuerst muss allerdings ein Überblick darüber gegeben werden, welche Liebeskonzepte in den vorangegangen Epochen die englische Lyrik geprägt haben, um in einem zweiten Schritt zu untersuchen, wie der Sprecher in Marvells Gedicht mit diesen Konventionen verfährt.
Außerdem sollten vorab einige Überlegungen zur Zeit angestellt werden. Da die Zeit eine abstrakte Größe ist, die der Mensch aus sich heraus nicht messen kann, empfindet er das Vergehen einer Stunde situationsabhängig das eine Mal als langsam und das andere Mal als schnell. Deshalb muss unterschieden werden zwischen reeller Zeit und psychologischer Zeit. Letztere meint das subjektive Empfinden des Einzelnen darüber, wie schnell die Zeit vergeht. Wenn im Zusammenhang mit Gedichten von Zeit die Rede ist, ist meistens die psychologische Zeit gemeint, so auch in Andrew Marvells Gedicht To His Coy Mistress.
2. Von der höfischen zur modernen Liebe
Über 500 Jahre hinweg war die höfische Liebe die bestimmende Konvention in Europa. Im 11. und 12. Jahrhundert an den Adelshöfen entstanden, wurde sie vor allem von dem italienischen Dichter und Gelehrten Francesco Petrarca (1303-1374) beeinflusst. Deshalb wird die höfische Liebe auch als petrarkistisches Liebeskonzept bezeichnet. Peter Hühn beschreibt die wichtigsten Merkmale dieser Konvention[2]: Ein Mann wirbt um eine meist sozial höherstehende Frau, die seine Liebe aus moralischen und sozialen Gründen nicht erwidert. Weil diese Liebe also keine Hoffnung auf Erfüllung hat, muss sich der Liebende zur Uneigennützigkeit erziehen und anerkennen, dass seine Aufgabe allein in der Verehrung der Dame besteht. Über diese Affektkontrolle bezieht der Mann sein Selbstbewusstsein. Oft äußert er seine Gefühle in poetischer Form, die Dichter imitieren dabei die von Petrarca verwendete Sonettform. Die Angebetete bleibt in der Konstellation der höfischen Liebe hingegen stumm und unnahbar. Diesem Liebeskonzept liegt also eine unaufhebbare Spannung zwischen dem Streben nach ideeller Liebe und erotischem Verlangen zugrunde.
William Shakespeare versucht Ende des 16. Jahrhunderts, diese Widersprüchlichkeit zu lösen, indem er die beiden entgegengesetzten Haltungen auf zwei Personen aufteilt. Während der Sprecher in seinem Sonnet-Zyklus einen jungen Mann von besonderer Schönheit bewundert, findet er bei einer Frau sexuelle Befriedigung. Shakespeare lässt diesen Lösungsversuch im Verlauf des Zyklus scheitern, erweckt aber auch das petrarkistische Schema nicht zu neuem Leben.
Ein völlig neues Liebeskonzept führen Ende des 16. Jahrhunderts die so genannten Metaphysical Poets, zu denen später auch Andrew Marvell gehört, in die englische Lyrik ein. In ihren Gedichten orientieren sich die Individuen nicht mehr an einem Bezugsrahmen außerhalb ihres Selbst. Peter Hühn zufolge bildet nicht mehr die höfische Welt mit ihren konventionalisierten Auffassungen von menschlichem Miteinander die Grundlage für ihre Selbstwahrnehmung.[3] Stattdessen zögen sich die Individuen in eine private Welt zurück, in die Welt der Liebe. Diese Verlagerung bringe ein völlig neues Liebeskonzept mit sich.. John Donne, der herausragende Repräsentant der Metaphysical Poets, füge das, was Shakespeare auf zwei Personen aufgeteilt habe, nämlich idealisierende Liebe und sexuelle Erfüllung, wieder zusammen.
Dieses „moderne bürgerliche Liebeskonzept“[4] ist in seinen Grundzügen bis ins 21. Jahrhundert als dominantes Konzept erhalten geblieben. Der Begriff der Liebe charakterisiert noch heute ein Gefühl der Zuneigung, das auf die Vereinigung mit dem geliebten Objekt zielt, also Erfüllung sucht.
3. Das Verhältnis von Liebe und Zeit in To His Coy Mistress
In Andrew Marvells berühmtesten Liebesgedicht Gedicht To His Coy Mistress bezieht sich der Sprecher auf verschiedene Liebeskonzepte. Er verbindet sie mit unterschiedlichen Zeitannahmen und wendet sich ihnen mit Ironie, Sarkasmus oder Ernst zu. Dadurch versucht er, seine Angebetete zu überzeugen, ihre Keuschheit aufzugeben und sich ihm und ihrer Liebe hinzugeben. Die drei Abschnitte des Gedichts kennzeichnen dabei die unterschiedlichen Argumentationsschritte des Sprechers.
3.1 An age at least to every part
Im ersten Abschnitt (Z. 1 bis 20) wird das petrarkistische Liebeskonzept mit einem unrealistischen Zeitkonzept verknüpft. Die Wörter „coyness“ (Z. 2) und „refuse“ (Z. 9) im Zusammenhang mit dem Verhalten der Frau verweisen genau wie das Werben des Mannes um seine Angebetete und das Preisen ihrer Schönheit (Z. 13-18) auf die Konvention der höfischen Liebe. Schon in der ersten Zeile wird jedoch deutlich, dass er die Voraussetzungen für eine solche Liebe als nicht gegeben ansieht. Der Gedichtanfang „Had we but world enough, and time“ leitet einen Konditionalsatz ein. Was der Protagonist machen würde, wenn diese Bedingung erfüllt wäre, führt er in den übrigen Zeilen des ersten Abschnitts aus. Alle Aussagen sind mit den Hilfsverben „would“, „should“ und „were“ verbunden und somit in den Bereich der Spekulation gerückt.
Um so handeln zu können, müsste dem Sprecher seiner Meinung nach der gesamte Zeitraum vom Anfang bis zum Ende der Zeit zur Verfügung stehen. Anspielungen auf die Flut (vgl. Z. 8), die der christlichen Glaubenslehre zufolge in der Vergangenheit weit zurückliegt, oder die Konversion der Juden (vgl. Z. 10) in ferner Zukunft stellen diesen Zusammenhang her.[5] Durch Enjambements (Z. 6, 7) und gelegentliche Unterbrechungen des jambischen Rhythmus (zum Beispiel Z. 6-8, 12) wird die Lese- bzw. Sprechgeschwindigkeit verlangsamt und der Eindruck, den Liebenden stünde alle Zeit der Welt zur Verfügung, auf formaler Ebene verstärkt. Auch erweckt das ruhige Tempo den Eindruck, der Sprecher erzähle eine Geschichte, deren Spannungspotenzial sich in Grenzen hält. Und tatsächlich sind in einer Beziehung, die den Regeln der höfischen Liebe gehorcht, die Handlungsmöglichkeiten von Mann und Frau sehr begrenzt. Die Metapher „vegetable love“ (Z. 11) zeigt sehr anschaulich, dass Leidenschaft dabei keine Rolle spielt, sondern langsames und stetiges Wachstum diese „pflanzliche“ Liebe kennzeichnet.
Indem der Sprecher vorgibt, nicht einfach nur die Schönheit der Frau als Ganzes preisen zu wollen, sondern jedem Körperteil mindestens ein Zeitalter lang seine Aufmerksamkeit widmen möchte (vgl. Z. 17), verspottet er die petrarkistische Liebe in milder Weise. Formulierungen wie „Two hundred to adore each breast“ (Z. 15) verstärken diesen Eindruck durch ihre unangemessene Detailgenauigkeit.
3.2 Thy beauty shall no more be found
Im zweiten Abschnitt des Gedichts erklärt der Sprecher seiner Angebeteten, warum das zuvor geschilderte Szenario unmöglich zu realisieren ist. Die Konjunktion „[b]ut“ am Anfang von Zeile 21 leitet seinen Einwand ein: Er höre den geflügelten Streitwagen der Zeit näher kommen (vgl. Z. 21f.), was in diesem Zusammenhang für ihn das Herannahen des Todes bedeutet. Dieter Lohr schreibt, bereits seit der Antike seien der Gott Kronos, sein römisches Pendant Saturn und die Personifizierung der Zeit, Chronos, miteinander vermengt worden.[6] Chronos habe sich so die Eigenschaften des tödlichen, menschenfressenden Saturn angeeignet und sei dadurch mit dem Tod verbunden worden. In der bildlichen Darstellung leihe sich der Tod hin und wieder von Chronos die Flügel. Marvell schreibt nicht, dass die Zeit herbeieile, sondern ihr Streitwagen. Genauso gut könnte dieser vom allegorischen Tod gelenkt werden. Das Zeitkonzept, dass in diesem Abschnitt verwendet wird, ist ein realistisches. Der Sprecher weiß, dass das menschliche Leben verglichen mit den im ersten Abschnitt geschilderten Möglichkeiten zeitlich sehr begrenzt ist und mit dem Tod enden muss.
Die Wortgruppe „wingéd chariot hurrying“ (Z. 22) trägt zu einem sehr pointierten Rhythmus in der 22. Zeile bei. Dadurch wird der Eindruck verstärkt, der Tod eile in hohem Tempo herbei. Mit diesem Wechsel in dem sonst sehr regelmäßigen Metrum unterstreicht der Sprecher die Dringlichkeit seines Appells. Bis auf diese und eine zweite Ausnahme in Zeile 24 bestehen alle Zeilen aus jambischen Tetrametern, wodurch sich das Lese-/Sprechtempo erhöht und der Mann den Druck auf die Frau verstärken kann.
Der Protagonist malt seiner Mistress sehr bildhaft aus, was mit ihr geschieht, wenn sie weiterhin auf ihrer Keuschheit beharrt. Er stellt die Ewigkeit, die nach ihrem Tod auf sie beide wartet, als gewaltige Wüsten (vgl. Z. 24) dar. Die Abweichung vom Metrum am Anfang dieser Zeile betont das Wort ,Wüsten’. Die Konnotationen, die hier angesprochen werden sollen, sind zweifellos Trostlosigkeit und Leere.
In der Logik des Sprechers gibt es also kein Leben im Jenseits. Sein Denken ist komplett auf das Diesseits ausgerichtet.[7] Nach dem Tod sind nur noch ihre sterblichen Überreste übrig, die im Grab ruhen. Dort gibt es keine sinnliche Liebe, überhaupt keinen Kontakt zwischen den Liebenden mehr. Weder seine Stimme erreicht das Innere ihres Grabes (vgl. Z. 26f.) noch kann es zu einer intimen Berührung (vgl. Z. 32) kommen. Der Verweis auf die lang gehütete Jungfräulichkeit seiner Angebeteten (vgl. Z. 28) sowie auf ihre Schönheit (vgl. Z. 25) und ihre Ehre (vgl. Z. 29) zeigt, dass sich der Sprecher auch im zweiten Abschnitt des Gedichts auf das petrarkistische Liebeskonzept bezieht. Hier werden die Schönheit und Tugend der Frau jedoch nicht mehr gepriesen, sondern vernichtet. Ihre Ehre wird zu Staub (vgl. Z. 29) und Würmer fallen über ihre Jungfräulichkeit her (vgl. 27f.). Auf diese Weise führt der Sprecher seiner Angebeteten die Sinnlosigkeit ihres keuschen Verhaltens vor Augen.
Das Adjektiv „quaint“ (Z. 29) meint jedoch nicht nur stolz oder prüde, sondern ist zugleich ein Wortspiel: Das mittelenglische Wort „queynte“ heißt Vagina. Wie in den ersten Zeilen wird also auch hier das Konzept der höfischen Liebe verspottet, denn der Sprecher beschränkt die Ehre der Frau auf ihr Genital. Der milde Spott aus dem ersten Abschnitt wird hier jedoch zu bitterem Spott. Die Parenthese „I think“, die der Sprecher in die letzte Zeile einfügt, verwandelt seine Aussage in Hohn über die in seinen Augen einfältige Denkweise der Frau.
3.3 Now let us sport us while we may
Im dritten Abschnitt folgt die Schlussfolgerung, die der Sprecher aus seinen bisherigen Ausführungen zieht. Mit „therefore“ eingeleitet, nennt er die für ihn einzige mögliche Konsequenz: Die beiden müssen sich in leidenschaftlicher Liebe vereinen (vgl. Z. 37). Im letzten Teil des Gedichtes ist kein Spott mehr zu finden. Stattdessen nimmt die Dramatik zu, der Sprecher intensiviert seinen Appell. Gleich dreimal verwendet er das Wort „now“ (Z. 33, 37, 38), um seiner Angebeteten zu verdeutlichen, dass sie sofort handeln müssen. Auch die Tatsache, dass in den ersten fünf Zeilen dreimal die Konjunktion „while“ erscheint (Z. 33, 35, 37), steigert die Dynamik des Textes. Die dritte dieser Konstruktionen führt dabei das so genannte Carpe-Diem-Motiv ein, wenn auch in abgewandelter Form.[8] Dem Sprecher geht es nicht um Lebensgenuss im Allgemeinen, sondern um leidenschaftliche Liebe im Besonderen. Zwar will auch der Sprecher in Marvells To His Coy Mistress die Gegenwart dafür nutzen, doch kann dabei von ruhiger Gelassenheit nicht die Rede sein. Gierig strebt er nach Leidenschaft und Erfüllung.
Diese Gier des Sprechers steigert sich genau wie seine erotische Energie zuweilen bis zur Gewalttätigkeit. Die Wörter „devour“ (Z. 39), „tear“ und „rough strife“ (Z. 43) zeigen genau wie die Metapher der Raubvögel (vgl. Z. 38) ein solches Potenzial. Was die Raubvögel als Sinnbild für das liebende Paar bedeuten, wird besonders deutlich, wenn man sie mit dem sonst häufig mit der Liebe in Verbindung gebrachten Vogel, der (Turtel-)Taube, vergleicht. Tauben sind friedliche Vögel, die in der Nähe des Menschen leben. Raubvögel hingegen gelten als stark, unabhängig und verglichen mit Tauben als gewalttätig; sie haben Krallen an ihren Klauen und scharfe Schnäbel. Wenn Marvell sein Paar nun mit diesen Tieren vergleicht, dann verhindert auch das Adjektiv „am’rous“ (Z. 38) nicht, dass etwas von dieser animalischen Kraft übrig bleibt.
Was die Frau vom Vorschlag ihres Verehrers hält, kommt nur indirekt zum Ausdruck. Zwar äußert sie selbst sich nicht, doch der Liebende beschreibt ihre körperliche Reaktion. Glaubt man seinen Schilderungen, dann steigert sich ihre Lust in einem ähnlichen Maße wie die des Mannes. Er spricht von Schweiß, der wie Tau auf ihrer Haut sitzt (vgl. Z. 33f.), und deutet diese Beobachtung als Bereitschaft ihrer Seele, sich ihm hinzugeben (vgl. Z. 35). Die Wörter „glew“ (Z. 33), „transpires“ (Z. 35) und „pore“ (Z. 36) sind also sexuell konnotiert.
Auch die Zeilen 41 bis 44 können auf diese Weise gelesen werden. Wenn die Liebenden ihre Kraft und Süße zu einem Ball rollen (vgl. Z. 41f.), dann kann das auf der sexuellen Isotopieebene als körperliche Vereinigung von maskulinen (Kraft) und femininen Eigenschaften (Süße) verstanden werden. Zwei zuvor unabhängige Hälften werden zu einem perfekten Ganzen zusammengeführt. Erst durch die körperliche Vereinigung wird die Liebe komplett. Bruce King sieht auch in den Zeilen 43 und 44 eine Einladung zu sexueller Ekstase.[9] Mit „rough strife“ würden die Bewegungen beim Sex beschrieben, und die „gates of life“ seien eine Anspielung auf die weiblichen Sexualorgane. „The plea to tear one’s pleasures through the gates of Life [...] glances at the commonplace of the sexual climax as a form of ‘dying’.”
Um noch andere Deutungen dieses Textabschnittes anführen zu können, müssen zuerst die Hinweise auf die Einstellung des Sprechers zur Zeit untersucht werden. Der Sprecher zieht es vor, die Zeit der Liebenden zu verschlingen, anstatt sich der Macht der Zeit/des Todes zu überlassen (vgl. Z. 39f.). Das Wort „slow-chapped“ (Z. 40) meint langsam zermalmend, denn die “chaps” sind hier die Kiefer, in denen die Zeit, die den Liebenden noch bleibt, zermalmt wird. Die Zeit ist also auch im dritten Abschnitt gleichbedeutend mit dem Tod. Indem die Liebenden ihre Zeit verschlingen, entgehen sie dem Schicksal, nach und nach selbst verschlungen zu werden.
Die Sonne ist eine weitere Metapher für die Zeit. Die Formulierung „our sun“ (Z. 45) bedeutet dasselbe wie „our time“ (Z. 39), nämlich die Lebenszeit, die dem Paar noch bleibt. An dem immer wieder verwendeten Personalpronomen „our“ sieht man, dass der Sprecher nur auf das Paar bezogen denkt und spricht. Ihn interessiert nicht die Zeit im Allgemeinen oder wie andere Menschen damit umgehen, sondern er handelt losgelöst von der Umwelt des Paares. In diesem Zusammenhang könnte das Bild des Balles (vgl. Z. 42) auch so verstanden werden, dass sich die beiden ihre eigene kleine Sonne schaffen und durch die Tore des Lebens (vgl. Z. 44) in ihre Umlaufbahn bringen.
Über die Bedeutung der „gates of life“ ist viel geschrieben worden, auch weil einige Autoren die Variante „grates of life“ für plausibler halten. Für Margarita Stocker verbergen sich wahlweise hinter „gates“ die Zähne und hinter „grates“ der Mund der Zeit, aus dem sich die Liebenden befreien.[10] Michael Craze sieht darin den Fluchtweg aus ihrem Leben, mit dessen Hilfe die beiden Welt und Zeit hinter sich lassen können.[11] Auf Kings Version, wonach mit dieser Metapher die weiblichen Sexualorgane gemeint sind, ist bereits eingegangen worden. Ganz allgemein kann man sicher davon ausgehen, dass die Tore den Übergang von einer Welt in eine andere bezeichnen und das erst die Vereinigung der beiden diesen Übergang ermöglicht.
Die letzten beiden Gedichtzeilen fassen zusammen, was der Sprecher angesichts der Bedrohung durch die Zeit zu tun gedenkt. Wenn er die Sonne beziehungsweise die Zeit schon nicht anhalten kann, dann versucht er das Gegenteil: Er will sie durch die sexuelle Vereinigung mit seiner Angebeteten antreiben und so in gewisser Weise überlisten. Dass die letzten sechs Wörter des Gedichts alle einsilbig sind und betont werden, bekräftigt die Entschlossenheit des Sprechers, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen und die Zeit herauszufordern.
Indem der Protagonist anerkennt, dass er die Zeit nicht anhalten kann, bricht er aus der Carpe-Diem-Logik aus. Er versucht nicht, die Gegenwart zu bewahren, sondern will die Zukunft umso schneller herbeiführen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Marvells Lösungsansatz auch von dem Donnes. Die Liebenden in Donnes Gedichten sind bestrebt, die Zeit anzuhalten.[12]
4. Fazit
Marvell vergleicht in seinem Gedichts To His Coy Mistress die petrarkistische Liebeskonvention mit dem modernen Liebeskonzept, in dem sich idealisierende Liebe und sexuelle Erfüllung vereinen. Indem er diese beiden Konzepte in Zusammenhang mit drei verschiedenen Zukunftsentwürfen bringt, widerlegt er einerseits den Code der höfischen Liebe und begründet andererseits die Notwendigkeit, nach dem anderen Konzept zu leben.
Der Gedichtanfang spielt mit einer unrealistischen Zeitannahme, in der den Liebenden nahezu unendlich viel Zeit zur Verfügung steht. Die hier verwendete Liebeskonvention ist die der höfischen Liebe. In der Logik des Sprechers ist diese Art der Liebe unmöglich zu verwirklichen, da auch die dazugehörige Zeitannahme unrealistisch ist. Im zweiten Abschnitt zeigt der Sprecher, was mit der petrarkistischen Liebe passiert, wenn es mit einer realistischen Zeitannahme zusammengebracht wird: Mit dem unausweichlichen Ende der Lebenszeit der Liebenden, das heißt ihrem Tod, enthüllt das petrarkistische Konzept seine Sinnlosigkeit. Nach dem Tod wird das Paar getrennt, die Tugend der Frau verliert ihren Wert und jede Form der Liebe ist unmöglich, da es kein Leben im Jenseits gibt. Aus diesen Überlegungen leitet der Sprecher die Schlussfolgerung ab, dass nur mit Hilfe der modernen Liebe, vor allem durch die sexuelle Vereinigung der Liebenden, die erwünschte Zukunft geschaffen werden kann. Statt sich langsam von der Zeit vernichten zu lassen, zieht er es vor, die Zeit zu beschleunigen und auf diese Weise sein Leben und Lieben selbst zu kontrollieren.
Diese Untersuchung hat gezeigt, dass in To His Coy Mistress Liebe und Zeit in Opposition zueinander stehen. Da Zeit in diesem Gedicht nur in Zusammenhang mit Vergänglichkeit und Tod auftritt, wird sie vom Sprecher als Feind angesehen. In der sexuellen Vereinigung mit seiner Angebeteten sieht er die einzige Möglichkeit, sich gegen seinen Feind aufzulehnen.
In der Liebe findet der Sprecher seine Identität, sie stellt den zentralen Bezugspunkt in seinem Leben dar. Das liebende Paar steht in Opposition zur übrigen Gesellschaft, ist unabhängig von ihr. Mit diesem Liebeskonzept widerspricht Marvell der petrarkistischen Auffassung, wonach sich der Mensch nur im Rahmen gesellschaftlicher Normen bewegen darf. Der Sprecher stellt jedoch seine individuellen Erfahrungen vor die Ansprüche der Gesellschaft, indem er sich von der christlichen Überzeugung, wonach die Sünde seiner Lust mit dem Tod bestraft wird, abwendet und gegen die Konventionen seiner Umwelt rebelliert.
Diese Arbeit hat sich auf die Betrachtung des Verhältnisses von Liebe und Zeit in To His Coy Mistress beschränkt. Ein Aspekt, den es ebenfalls zu untersuchen lohnt, ist die räumliche Komponente. Analog zu der Frage, wie die Liebe mit der Zeit zusammenhängt, ließe sich auch analysieren, wie sie sich in Abhängigkeit vom Raum verhält. Immerhin beklagt sich der Sprecher in der ersten Gedichtzeile nicht nur darüber, dass er nicht genug Zeit habe, sondern auch darüber, dass es nicht genug Welt gebe.
[...]
[1] Dieser Arbeit liegt folgende Gedichtfassung zugrunde: Nigel Smith (Ed.), The Poems of Andrew Marvell (London, 2003), 81ff. Siehe Anhang Seite 12.
[2] Peter Hühn, Geschichte der englischen Lyrik, Band 1 (Tübingen, 1995), 24ff. Im Folgenden zitiert als Hühn, Lyrik.
[3] Hühn, Lyrik, 104
[4] Hühn, Lyrik, 104
[5] Die Konversion der Juden zum Christentum wird als eines der Ereignisse angesehen, die die Wiederkunft Jesu voraussagen sollen.
[6] Dieter Lohr, Sand- und Räderuhr in der Malerei (o.O., o.J.), [www.ub.uni-konstanz.de/v13/ volltexte/2000/458//pdf/458_1.pdf, gefunden am 9.2.05, 12 Uhr], 3
[7] Die Metaphysical Poets wirkten zu einer Zeit, die heute als frühe Neuzeit bezeichnet wird. Damals orientierten sich die Menschen in vielerlei Hinsicht neu. So wurde zum Beispiel die Jenseitsorientierung, die ihr Handeln die vorhergehenden Jahrhunderte bestimmt hatte, abgelöst von einer Diesseitsorientierung. Das Leben auf der Erde gilt seitdem nicht mehr nur als kurze Zwischenstation vor dem ewigen Leben im Jenseits, sondern besitzt einen eigenen Wert.
[8] Das Carpe-Diem-Motiv wird auf Horaz zurückgeführt. In seiner elften Ode verwendet der römische Dichter diese Formulierung, die oft mit „Nutze den Tag“ oder „Genieße den Augenblick“ übersetzt wird. Hans Peter Syndikus zufolge bringt Horaz damit eine Auffassung zum Ausdruck, wonach für uns Menschen die Zukunft gleichgültig sei. Es stehe uns nur die augenblickliche Gegenwart wirklich zur Verfügung und diese gelte es zu nutzen. Horaz plädiere dabei jedoch für stille Gelassenheit statt für ein gieriges Streben und Wünschen. (Hans Peter Syndikus, Die Lyrik des Horaz – Eine Interpretation der Oden Band 1 (Darmstadt, 2001), 130
[9] Bruce King, Marvell’s Allegorical Poetry (New York u.a., 1977), 72
[10] Margarita Stocker, Apocalyptic Marvell: the Second Coming in seventeenth-century poetry (Brighton, 1986), 224
[11] Michael Craze, The Life and Lyrics of Andrew Marvell (London u.a., 1979), 325
[12] John Donne thematisiert u.a. in seinem Gedicht „The Anniversarie“ das Zeitempfinden von Liebenden. Seine Protagonisten versuchen, die Zeit anzuhalten, indem sie sich in die nach außen hin abgeschottete Welt ihrer Liebe zurückziehen. Anthony Low zufolge könnten sich innerhalb der Grenzen dieser Welt die Liebenden ohne Angst vor Zeit oder Tod ewig lieben. – Anthony Low, English Literary Renaissance (???, 1990), 484
- Arbeit zitieren
- Ulrike Wronski (Autor:in), 2005, Das Verhältnis von Liebe und Zeit in Andrew Marvells Gedicht 'To His Coy Mistress', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37693
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