Der Fotoautomat. Ein in hohem Maße heterotoper Ort


Hausarbeit, 2013

13 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Michel Foucaults Konzept der Heterotopie
2.1 „Von anderen Räumen“
2.2 Grundsätze der Heterotopie

3 Heterotopie und Fotoautomat
3.1 Die Fotokabine als ambivalenter Ort der Abschottung
3.2 Der Fotoautomat und sein besonderes Verhältnis zur Temporalität
3.3 Der heterotope Spiegel als Teil der Anordnung

4 Fazit

5 Quellenverzeichnis

1 Einleitung

»Aber wie Musik die göttliche Himmelstochter bleibt trotz Leierkasten, So bleibt Photographie die erhabene Tochter des Lichtgottes trotz Automaten« (Photographische Mitteilungen, 36. Jg., Berlin 1889, S. 132 f.)[1]

Der erste Fotoautomat (franz. Photomaton, engl. Photo Booth) wurde 1928 in Betrieb gesetzt und machte die Porträtkunst für jedermann und jedefrau zugänglich.[2] Passbildkabinen befinden sich an öffentlichen Orten, wie etwa an Bahnhöfen und Flughäfen, und dennoch ist man in ihnen durch den Vorhang von der Außenwelt abgetrennt. Im geschützten Raum der Fotokabine muss niemand rechtfertigen, auf welche Weise und aus welchen Gründen er den Photomaton benützt. Als Passbilder dienen die automatisierten Porträts der Registrierung und Identifizierung von Menschen durch den Staats- und Polizeiapparat, doch Laien und Künstler lassen in der Fotokabine noch ein anderes Porträt entstehen. Dadurch, dass die Richtlinien für ein Passbild, beispielsweise durch Grimassen schneiden, zunehmend unterlaufen werden, entstehen Spaßfotos, die eine persönliche oder eine künstlerische Perspektive auf das Individuum festhalten wollen.[3] Meine These ist, dass der Fotoautomat weder dem öffentlichen, noch dem privaten Raum angehört und er deshalb irgendwie anders als andere Orte ist, d.h. eine gegensätzliche Platzierung darstellt.

Michel Foucault entwarf 1967 ein Konzept, mit dessen Hilfe sich diese anderen Orte, die dennoch inmitten der Gesellschaft lokalisiert werden können, charakterisieren lassen. Er bezeichnet sie als Heterotopien.

In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob der Fotoautomat eine Heterotopie im Sinne Foucaults darstellt. In einem ersten Kapitel werde ich daher klären, wie Foucault Heterotopien definiert und welche Merkmale er ihnen zuschreibt, um dann in einem zweiten Schritt die Brauchbarkeit und Relevanz des Konzepts in der Betrachtung des Fotoautomaten sorgfältig zu untersuchen.

Anhand der Ambivalenz des Fotoautomaten als Ort der Abschottung, seinem besonderen Verhältnis zur Zeitlichkeit und dem heterotopen Spiegel als Teil seiner Anordnung soll festgestellt werden, inwiefern die Fotokabine als Heterotopie bezeichnet werden kann.

Abschließend sollen dann noch einmal meine Thesen und Gedanken zusammengefasst und mögliche Schlussfolgerungen darlegt werden. Darüber hinaus werde ich einen Ausblick auf weitere Fragestellungen, die sich mir durch diese Arbeit eröffnet haben, geben.

2 Michel Foucaults Konzept der Heterotopie

Der Heterotopie-Begriff taucht in zwei Werken Foucaults, allerdings mit unterschiedlicher Bedeutung, auf. In der Einleitung seines 1966 veröffentlichten Werks Les mots et les choses („Die Ordnung der Dinge“) gebraucht Foucault den Begriff der Heterotopie, um damit „[...] die Notwendigkeit einer historischen Archäologie der diskursiven Formationen zu verdeutlichen“.[4] Der Heterotopie-Begriff ist hierbei unmissverständlich mit der Sprache verbunden.

Noch im selben Jahr spricht Foucault in einem Radiovortrag auf dem Sender France Culture über ein anderes Konzept der Heterotopie, welches den Begriff mit dem Raum in Beziehung setzt. In einem Vortrag mit dem Titel Des espaces autres („Von anderen Räumen“) hat Foucault eine modifizierte Fassung dieses Konzept vor Architekten des Cercle d'études architecturales im März 1967 abermals zum Besten gegeben. Diese Version wurde erst 1984 in der Zeitschrift Architecture, Mouvement, Continuité schriftlich veröffentlicht. Der ursprüngliche Radiovortrag ist erstmals 2005 im Suhrkamp Verlag erschienen.[5]

2.1 „Von anderen Räumen“

Foucault geht es in seinem Vortrag „Von anderen Räumen“ dezidiert um den äußeren Raum, unseren Lebensraum. Dieser ist heterogen, da er aus öffentlich zugänglichen Plätzen, aus geschlossenen Plätzen und aus Durchgangsbereichen besteht.[6] Besondere Aufmerksamkeit widmet Foucault dabei den Orten, die zugleich auf ihre Umgebungsorte bezogen sind und ihnen widersprechen. Diese Orte, denen die Eigenschaft zukommt, „in Beziehung mit allen anderen Orten zu stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren“[7], teilt er in zwei Gruppen ein.

Die Utopie ist eine Platzierung ohne wirklichen Ort, ein unwirklicher Raum, der „[...] in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft steh[t]“.[8] Entweder ist sie die Perfektionierung oder der Gegenentwurf der realen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Die Heterotopie hingegen ist ein wirklicher und vor allem wirksamer Ort, der seine spezifische Funktion durch eine Gesellschaft erhält. Da die Funktion einer Heterotopie nicht allein mit ihrer Topografie fassbar ist, kann man sie nur in Bezug auf die Zusammenhänge, in welchen von diesem Ort Gebrauch gemacht wird, verstehen. Heterotopien sind „[...] tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte [...] zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“.[9] Foucault liefert sechs Grundsätze anhand derer sie sich identifizieren lassen.

2.2 Grundsätze der Heterotopie

Der erste Grundsatz besagt, dass Heterotopien in allen Kulturen existieren. Foucault teilt diese Heterotopien, die in den unterschiedlichsten Formen ‚auftreten‘, in zwei Hauptgruppen ein. Die Krisenheterotopien bieten Abweichendem, das heißt von biologischen Krisen betroffenen Menschen, Raum. So halten sich beispielsweise Heranwachsende oder schwangere Frauen an ganz bestimmten Orten, die ihnen vorbehalten sind, auf. Abweichungsheterotopien hingegen sind Orte, an denen man Menschen unterbringt, die von der gesellschaftlichen Norm abweichen. Dazu zählen unter anderem das Gefängnis, psychiatrische Anstalten und Sanatorien.[10]

Zweitens postuliert Foucault, dass sich die Funktionsweise einer Heterotopie im Laufe der Zeit durch die jeweilige Gesellschaft wandeln kann. Als Beispiel einer umgedeuteten Heterotopie führt er den Friedhof an. Einst war die Begräbnisstätte der zentrale Ort in der Stadt, doch mit seiner Verlegung an den Stadtrand ist der Friedhof nicht länger der „[...] heilige und unsterbliche Geist der Stadt, sondern die ‚andere Stadt‘, in der jede Familie ihre dunkle Bleibe besitzt“.[11]

Ein weiteres Merkmal der Heterotopien ist, dass sie normalerweise unvereinbare Räume an einem Ort platzieren und zueinander in Beziehung setzen. Foucault verweist auf das Theater und den Kinosaal, wo„[...] auf eine zweidimensionale Leinwand ein[...] dreidimensionaler Raum projiziert“[12] wird. Die wohl älteste Heterotopie dieser Art ist der Garten, der als eigener Mikrokosmos die ganze Welt symbolhaft darstellt und vereint.

Der vierte Grundsatz greift die Beziehung der Heterotopie zu zeitlichen Brüchen, sogenannten Heterochronien, auf. He

„Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben“.[13] Einerseits stellt Foucault heterotope Orte vor, an denen Vergangenes verwahrt wird. Dazu zählen Bibliotheken und Museen. Es gibt aber auch temporäre Heterotopien, wie die nur zeitweilig besuchten Jahrmärkte, die binnen weniger Stunden oder Tagen wieder verschwinden.[14]

Fünftens bestehen Heterotopien aus einem System der Öffnung und Schließung. Um eine Heterotopie zu betreten, muss man eine Schwelle überwinden. Entweder besteht ein Zwang, wie im Falle des Gefängnisses, oder man muss ein Eingangsritual ausführen. Es gibt auch Heterotopien, die offen zu sein scheinen, aber stattdessen der Ausschließung dienen. „Jeder hat Zutritt, doch wenn man eingetreten ist, stellt man fest, dass man einer Illusion aufgesessen und in Wirklichkeit nirgendwo eingetreten ist“.[15]

Abschließend hält Foucault fest, dass Heterotopien den verbleibenden Raum infrage stellen. Entweder konstruieren sie einen illusionären Raum, um die Realität als Illusion zu enthüllen, oder sie erzeugen einen vollständig geordneten Realraum, der einen Ausgleich zum umliegenden Chaos schafft.[16]

3 Heterotopie und Fotoautomat

Der Fotoautomat ist mit einer bestimmten Räumlichkeit und Öffentlichkeit verbunden. So finden sich Automaten sowohl in Kaufhäusern und Passagen als auch an Bahnhöfen und Flughäfen. Demnach steht die Fotofix -Kabine vorrangig „[...]an öffentlichen Orten des Transits und der Anonymität [...]“[17] sowie an Orten der Warenakkumulation.

In diesem Raum steht das Fotofix nicht im Sinne einer Zugehörigkeit, sondern (auf eine [sic] anderen Ebene der Betrachtung) eher im Sinne einer [sic] Inseln, einer Lagerung, die sich der Regel entziehen, und in Kontrast zu den Lagerungsbeziehungen des Raumes stehen. Mit Foucault wird diese Form der Herausgehobenheit benennbar. Wir sehen uns mit dem Heterotopen konfrontiert, dem »Ort«, der etwas ganz anderes ist als das, für was er einsteht.[18]

3.1 Die Fotokabine als ambivalenter Ort der Abschottung

Wie nun schon mehrfach angedeutet, zeichnet sich der Fotoautomat durch eine spezifische Räumlichkeit aus. Er stellt ein „[...] Medium an der Grenze zwischen privat und öffentlich [dar], denn man zieht sich in einen Bereich zurück, der gleichzeitig Teil eines öffentlichen Raumes ist (auf der Straße, im Bahnhof, auf dem Jahrmarkt)“.[19] In der Fotokabine ist man räumlich isoliert und tritt aus der Öffentlichkeit heraus. Dieses Heraustreten wird durch das Zuziehen des an dem Automaten angebrachten Vorhangs ermöglicht und erinnert stark an die eigentümliche Abgrenzung der Heterotopien zu den anderen Orten der Gesellschaft.

„[...] Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht“.[20] Wer eine Heterotopie betreten will, muss eine Schwelle überwinden. Entweder wird man zum Eintritt genötigt, wie im Falle des Gefängnisses, oder man muss bestimmte Eingangsrituale und Gesten vollziehen, um eintreten zu dürfen.

Meiner These nach offenbart sich das Heterotope in der halboffenen Bauweise der Fotokabine.[21] Ein Fotoautomat hat zwar keine Tür, aber einen Vorhang. Dieser Vorhang zieht die Grenze zwischen außen und innen und schützt den Benutzer vor den Blicken der vorüberlaufenden Passanten. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Fotoautomat seinen Siegeszug erst mit der Einführung der Abschottungsmöglichkeit von der Außenwelt antrat.[22]

Der Vorhang ermöglicht, dass man alleine und ungestört mit der Kamera sein kann, allerdings vermag er nicht, den äußeren Raum komplett auszublenden. Die Geräusche der Umwelt dringen in die Fotokabine ein. Hinzu kommt, dass der Blick auf die Beine der Person, welche im Fotoautomaten sitzt, von außen möglich ist.[23] Der Fotoautomat stellt folglich einen ambivalenten Ort zwischen Absonderung und Transparenz dar. Es ist eine „[...] Räumlichkeit des Hineintretens und Verlassens“[24], denn durch das Betreten des Fotoautomaten tritt man aus der Öffentlichkeit heraus und verlässt den Außenraum.

Der Fotoautomat lässt sich nur unter Ausführung diverser Gesten betreten. Wer sich in der Fotokabine porträtieren lassen will, muss zunächst den Preis für die Fotos entrichten. Bei digitalen Fotofix -Automaten kann man zuvor sogar das gewünschte Produkt wählen. Neben biometrischen Passfotos gibt es auch Bewerbungsfotos und Spaßfotos, die mit Stickern oder diversen Hintergründen versehen sind. Wichtig ist, dass der in der Fotokabine befindliche Drehhocker auf die richtige Höhe gestellt und der Vorhang geschlossen ist. Bevor man von der Kamera abgelichtet wird, hat man kurz Zeit, sich richtig zu positionieren. Je nach gewähltem Produkt macht die Kamera, die sich hinter einer Scheibe befindet, in regelmäßigen Abständen meist zwei oder vier Aufnahmen. Damit man rechtzeitig eine Pose einnehmen kann, avisiert ein klangliches und/oder visuelles Warnsignal vor jeder Belichtung die nächste Aufnahme. Im digitalen Fotofixautomaten kann man das aufgenommene Porträt zunächst am Bildschirm überprüfen und gegebenfalls verwerfen. Das Foto wird nach der letzten Aufnahme entwickelt beziehungsweise ausgedruckt. Dieser Vorgang kann einige Minuten in Anspruch nehmen. Die fertigen Bilder, die eventuell noch Zeit zum Trocknen bedürfen, können dann aus dem Bildauswurfschlitz entnommen werden.[25]

[...]


[1] Zit. nach Rolf Nohr, „A Dime – A Minute – A Picture”, S. 160.

[2] Vgl. ÜBER DIE ÄSTHETIK VON PASSFOTOS. In: ARTE-Videoportal, http://videos.arte.tv/de/videos/ueber-die-aesthetik-von-passfotos--6563242.html, Stand: 09.09.13.

[3] Vgl. Susanne Regener, „Blickmaschine Fotoautomat“, S. 197.

[4] David Zintl, ANDERE ZEITEN, S. 6.

[5] Vgl. Ebenda, S. 5-7.

[6] Vgl. Michel Foucault, Die Heterotopien, S. 9f.

[7] Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 318.

[8] Ebenda, S. 320.

[9] Ebenda.

[10] Vgl. Ebenda, S. 321f.

[11] Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 323f.

[12] Ebenda, S. 324.

[13] Ebenda.

[14] Vgl. Ders., Die Heterotopien, S. 16.

[15] Ebenda, S. 18.

[16] Vgl. Ders., „Von anderen Räumen“, S. 326.

[17] Christina Natlacen, Arnulf Rainer und die Fotografie, S. 42.

[18] Rolf Nohr, „A Dime – A Minute – A Picture”, S. 172.

[19] Susanne Regener, „Blickmaschine Fotoautomat“, S. 213.

[20] Michel Foucault, „Von anderen Räumen“, S. 325.

[21] Diese These verfolgt auch Rolf Nohr (Vgl. Rolf Nohr, „A Dime – A Minute – A Picture”, S. 172, 180.)

[22] Vgl. Nadine Helms, „Fotoautomaten“, in: einestages. Zeitgeschichten auf SPIEGEL ONLINE, http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/23368/karriere_einer_knipskiste.html, Stand: 17.09.13.

Der Russe Anatol Josepho hat den ersten autodynamischen Photomaton, der acht Bilder in acht Minuten herstellte, konstruiert. Im März 1927 verkaufte er sein Patent für eine Million Dollar an amerikanische Investoren. Die ersten Fotokabinen befanden sich überwiegend in Kaufhäusern. Um zu verhindern, dass das Blitzlicht des Geräts den Verkauf beeinträchtigt, befestigten die Kaufhausbetreiber Vorhänge an den Vorderseiten der Kabinen und verhalfen dem Fotoautomaten dadurch zu seinem weltweiten Erfolg. (Vgl. Ebenda.)

[23] Vgl. auch Rolf Nohr, „A Dime – A Minute – A Picture, S. 172, 180.

[24] Ebenda, S. 172.

[25] Vgl. Grün, Oskar/ Jean-Claude Brunner, Der Kunde als Dienstleister, S. 132-133.

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Der Fotoautomat. Ein in hohem Maße heterotoper Ort
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2013
Seiten
13
Katalognummer
V376971
ISBN (eBook)
9783668545861
ISBN (Buch)
9783668545878
Dateigröße
499 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Fotoautomat, Mediengeschichte, Heterotopie, Foucault
Arbeit zitieren
Carmen Ruf (Autor:in), 2013, Der Fotoautomat. Ein in hohem Maße heterotoper Ort, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/376971

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