Das Argument des familialen Erziehungsdefizits in der Ganztagsschuldebatte


Hausarbeit, 2004

14 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort

2. Entstehung der Ganztagsschuldebatte
2.1. Hintergründe „fehlender“ Erziehung
2.2. Mögliche Ursachen für mangelnde familiale Erziehung

3. Die Ganztagsschule als Kompensierung familialer Erziehungsdefizite

4. Gründe für eine Ablehnung der Ganztagsschule

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Vorwort

In meiner Hausarbeit möchte ich mich mit der Fragestellung beschäftigen, ob familiale Erziehung durch Erziehung innerhalb der Ganztagsschule ersetzt werden kann.

In der heutigen Gesellschaft wird häufig behauptet, dass Kinder und Jugendliche nicht „richtig“ erzogen sind. Ohne mich damit beschäftigen zu können, ob die Vorwürfe wirklich zutreffend sind, möchte ich mögliche Gründe für die Vernachlässigung der Erziehung anführen. An diesen Punkten kann ich dann im weiteren Verlauf meiner Arbeit erläutern, welche Gründe für und gegen die Erziehung in der Ganztagsschule bzw. der Erziehung außerhalb der Familie sprechen. Ich habe diese Hausarbeit auf viele Zitate gestützt, um die unterschiedlichen Meinungen zu verdeutlichen und auch die andauernde Beschäftigung mit diesem Thema aufzuzeigen. Denn wie und wo Erziehung stattfinden sollte ist eine ständige Debatte.

Die Ganztagsschuldiskussion ist momentan sehr aktuell. Die meisten Begründungen laufen jedoch alle auf die PISA-Studie hinaus, die als Anlass für den Umbau des deutschen Schulsystems gesehen wird. Gründe, wie die Vernachlässigung der Kinder durch ihre Eltern, die schon länger existieren, werden leider nur sehr selten angesprochen. Aus diesem Grund habe ich versucht diese Debatte schwerpunktmäßig auf sozial-gesellschaftliche Veränderungen im Laufe der Zeit, im Besonderen innerhalb der Familie zu untersuchen und Faktoren aus dem Bereich der Politik und der PISA-Studie möglichst auszugrenzen.

2. Entstehung der Ganztagsschuldebatte

Die Halbtagsschule in Deutschland hat eine lange Tradition. Im 19. Jahrhundert gehörte die ganztägige Schule zwar noch zum Alltag der Kinder, aber seit der Jahrhundertwende, hat sich die Vormittagsschule durchgesetzt. Deswegen wurde nur in geringem Maße auf Forderungen nach Ganztagsschulsystemen, die es schon seit Beginn des 20 Jahrhunderts („Landerziehungsheime“, siehe auch Kap 2.1.) gegeben hat, eingegangen.[1]

Das erste gezielte Gründungsvorhaben für Ganztagsschulen entstand in der Nachkriegszeit als Reaktion auf sozialpolitische Probleme. Die hohe Anzahl an unvollständigen Familien, die häufige Erwerbstätigkeit der Mutter und daraus resultierende Belastungen für die Kinder, sollten durch die Ganztagsschule aufgefangen werden. Die Ganztagsschule sollte also vor allem zur Betreuung von unversorgten Kindern dienen.[2]

Anfang der neunziger Jahre kam mit der Wiedervereinigung eine gewisse Bewegung in die Diskussion, zeigten doch die Probleme bei der Transformation des Erziehungssystems der DDR, dass die Ganztagserziehung Ost möglicherweise nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile gehabt hatte. Vor allem aber lässt die Ende 2001 veröffentlichte internationale Schulstudie PISA die deutsche Halbtagsschule in einem anderen Licht erscheinen – und zwar nicht etwa in zukunftsweisendem hellem Glanz, sondern eher in rückständigem Schein.[3]

Die jetzige Debatte ist also auch wieder eine Reaktion auf gesellschaftliche Probleme. Der Auslöser ist die PISA-Studie und das Erschrecken der Deutschen, dass ihre Schulkinder ungebildeter sind als der Durchschnitt aller teilnehmenden Länder. Abgesehen von der Bildung scheint es aber auch immer schlechter auszusehen mit der Erziehung. Es werden „Kopfnoten“ verlangt und überall wird von „Werteverfall“ gesprochen. Nun soll die Ganztagsschule diese Probleme aufgreifen und lösen, denn viele denken, dass die deutsche Halbtagsschule (ein Ausnahmefall in Europa) Schuld an der ganzen Misere ist. Denn „Länder mit Ganztagsschulsystemen, […] [schneiden] deutlich besser ab als diejenigen, die wie Deutschland Schule auf wenige Stunden Unterricht am Vormittag konzentrieren.“[4] Da ich in meiner Hausarbeit nur auf Argumente der Erziehung in Bezug auf die Ganztagsschule eingehen kann, möchte ich im Folgenden mögliche Gründe für die vorgeworfenen Erziehungsdefizite von Kindern anführen.

2.1. Hintergründe „fehlender“ Erziehung

Mit der APO (Außerparlamentarische Opposition), die sich als antiautoritäre Bewegung verstand (68er-Bewegung),[5] begann auch eine zunehmende „Entmachtung der Eltern“. Erziehung wurde als Herrschaftsausübung entwürdigt und es entstanden starke Verunsicherungen bei den Eltern. Die antiautoritäre Erziehung wurde in diesem Zusammenhang geprägt, damit die Kinder sich ohne Grenzen frei entfalten können. Das Problem bestand darin, dass die antiautoritäre Erziehung (ursprünglich aus der Reformpädagogik) falsch verstanden wurde. Sie wurde von den meisten Eltern als „laissez-faire“[6] gedeutet und so wurde die Auffassung des „Wachsen lassen“ gegenüber dem des „Führen“ überbewertet.[7],[8]

„Schon etwas länger zurückliegend forderten die Konservativen den „Mut zur Erziehung“ als vielleicht verständliche Reaktion auf die erzieherische Abstinenz der antiautoritären Bewegung.“[9]

Karin Gottschall kritisiert die deutsche Halbtagsschule, die sich im Vergleich zu den anderen europäischen Ganztagsschulsystemen nur als Unterrichtsschule versteht und keine sozialen Leistungen umfasst.[10] Versuche diese Auffassung von Schule zu ändern fanden schon um 1900 statt mit den bekannten „Landerziehungsheimen“ von Hermann Lietz, der weg von der reinen Unterrichtsschule zur ganztägigen Erziehung, Betreuung und Bildung wollte. Doch die Tradition der deutschen Schule sollte nicht gebrochen werden.[11] Auch auf die Forderungen des Deutschen Bildungsrats[12] 1968, die Ganztagsschule als Ergänzung zur familiären Erziehung zu stärken, wurde nicht eingegangen.

So verliert die Erziehung nicht nur innerhalb der Familie an Bedeutung, sondern auch in schulischen Bereichen wird die Erziehung völlig ausgegrenzt.

2.2. Mögliche Ursachen für mangelnde familiale Erziehung

Heinz Günter Holtappels versucht in seinem Buch „Ganztagsschule und Schulöffnung“ Begründungen für Erziehungsdefizite vor allem an der Veränderung familiärer Rollenstrukturen zu erklären. Es gibt eine steigende Zahl nicht ehelicher Lebensgemeinschaften (die Zahl der Kinder, die von Ehescheidungen der Eltern betroffen sind, hat sich von 87.328 (1990) auf 123.257 (2000) erhöht). Die Anzahl der Alleinerziehenden ist von 17,2% im Jahre 1990 auf 21,1% im Jahre 2000 gestiegen[13] und Bindungen scheinen nicht mehr die Option des Lebenslänglichen zu haben.

Hier sollte jedoch berücksichtigt werden, dass all diese Faktoren nicht zwangsläufig auch eine Erklärung für fehlende Erziehung innerhalb der Familie sein müssen, da es vielmehr auf die Beziehung des Kindes zu Eltern oder Elternteil ankommt. Es wurde nämlich beobachtet, dass das Engagement der Eltern nicht mehr in erster Linie der Familie, sondern vielmehr Außerfamiliärem gewidmet wird. Es herrscht weniger Nähe zwischen Kind und Eltern (oder Elternteil), wobei der Grund Zeitmangel sein soll.[14] Josef Kraus, Präsident des deutschen Lehrerverbandes, beschreibt diese Situation in einem Gespräch mit Jürgen Liminski folgendermaßen:

„Es ist ja heute eine paradoxe Situation: Wir haben pro Elternpaar immer weniger Kinder. Wir haben gleichzeitig in der Erwachsenenwelt, also bei den Eltern, immer kürzere Arbeitszeiten. Die Zeit, die man also für die immer geringere Kinderzahl aufwendet, wird immer kürzer. Das meine ich mit der paradoxen Situation.“[15]

Die Veränderungen der familiären Strukturen sind also nicht der Grund für mangelnde interfamiliäre Erziehung, sondern vielmehr die Abnahme des Interesses der Erwachsenen an Benehmen und auch Bildung der Kinder bewirken ein Maß an Vernachlässigung. „In Deutschland sind es laut Heidrun Bründel und Klaus Hurrelmann ungefähr ein Fünftel der Kinder, die in ihren Familien häufig auf Gleichgültigkeit stoßen und eine dementsprechend geringe Förderung erhalten.“[16] Es wäre nun notwendig, dass die Schule dieses Desinteresse der Familie ausgleichen würde. Das Problem besteht eigentlich darin, dass die deutsche Politik nicht auf die neuen Gegebenheiten eingeht, sondern an den alten Strukturen festhält. Denn die Halbtagsschule setzt „die nicht-erwerbstätige Hausfrau und Mutter voraus, die mittags für eine warme Mahlzeit sorgt und sich um die Hausaufgaben kümmert; sie impliziert weiter, dass es einen Ehemann und Vater gibt, der einen für die Familie ausreichenden Lohn nach Hause bringt.“[17]

Defizite der familiären Erziehung, die durch Veränderung der Familienkonstellation und die fehlende Anpassung der Gesellschaft verursacht werden, wirken sich auch extrem auf die Schulleistungen der Kinder, aus diesen „inkonsistenten“ Familien, aus.

Heinz Günter Holtappels lenkt jedoch hier ein, dass aus dem Wandel innerhalb der Familie nicht nur negative Folgen wie Erziehungsdefizite folgen müssen. „Kinder können durch veränderte und wechselnde Familienkonstellationen Belastungen in ihrer Entwicklung erfahren, aber auch belastbarer und anpassungsfähiger werden“.[18]

Nur die sich wandelnde gesellschaftliche Auffassung von Familie als Indiz für die genannten Probleme zu nehmen, wäre somit nach Holtappels falsch.

aus dieser Diskussion stellt sich aber Die Frage, ob die Ganztagsschule nun die Erziehungsdefizite (woher sie auch kommen mögen) ausgleichen kann oder diese Aufgabe weiterhin der Familie überlassen werden sollte.

[...]


[1] Vgl. Gottschall, Karin / Hagemann, Karen: Die Halbtagsschule in Deutschland: Ein Sonderfall in Europa? In: Aus Politik und Zeitgeschiche. B 43 / 2003. S. 13.

[2] Vgl. Holtappels, Heinz Günter: Ganztagsschule und Schulöffnung. Perspektiven für die Schulentwicklung. Weinheim / München, 1994. S. 14 f.

[3] Die Halbtagsschule…ebd. S.12.

[4] Die Halbtagsschule…ebd. S.12.

[5] APO: 1966 entstandene Gruppe, die sich im Streit um Notstandsgesetze und Hochschulreform nicht durch die Parteien des Bundestages vertreten sah. Anarcho-kommunistische Bewegung, die durch provokative, häufig gewaltsame Methoden gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen suchte. Quelle: Der Neue Brockhaus. Band 1. A-Eip. Wiesbaden 61978. S.178.

[6] laissez-faire: (franz. lasst sie machen) In der Pädagogik ein Erziehungsstil, der zum autoritären Prinzip die freie, unbeeinflusste Entfaltung des Kindes fordert. Quelle: Der Neue Brockhaus. Band 3. J-Neu. Wiesbaden 61979. S.317.

[7] Vgl. Dudek, Peter: Vor einer Erziehungskatastrophe? Die vermeintlichen Spätfolgen der antiautoritären Erziehung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29 / 2001.

[8] Vgl. Deutscher Lehrerverband: Jürgen Liminski im Gespräch mit Josef Kraus. Benimmdefizit deutscher Schüler und Jugendlicher. (Deutschlandfunk – Interview vom 25.08.03). <www.lehrerverband.de/dfunkben.htm>. (07.08.04).

[9] Ipfling, Heinz-Jürgen: Über die Grenzen der Erziehung in Schule und Unterricht. In: Rekus, Jürgen (Hrsg.): Grundfragen des Unterrichts. Bildung und Erziehung in der Schule der Zukunft. Weinheim / München 1998. S. 151.

[10] Vgl. Gottschall, Karin (Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen): Von Picht zu Pisa – Zur Dynamik von Bildungsstaatlichkeit, Individualisierung und Vermarktlichung in der Bundesrepublik. <www.soziologie.de/sektionen/b01/beitraege2.pdf>. (07.08.04).

[11] Vgl. Appel, Stefan / Rutz, Georg: Handbuch Ganztagsschule. Konzeption, Einrichtung und Organisation. Schwalbach 1998. S. 17.

[12] Der Deutsche Bildungsrat (1965-1975): Zweikammersystem mit einer Bildungskommission, die der Regierungskommission Vorschläge unterbreitet. Bis heute gibt es keinen Ersatz des Bildungsrats, so dass ein Mangel an institutionalisierter Beratung sichtbar wird. Quelle: Baumert, Jürgen: Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland: Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Arbeitsgruppe Bildungsbericht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Hamburg 1997. S. 88ff.

[13] Buhren, C. G. / Witjes, W. / Zimermann, P.: Veränderte Kindheit und Jugend – Schwierigere Schülerinnen und Schüler? In: Rolff, H.-G. / Holtappels, H. G. u.a. (Hrsg.): Jahrbuch der Schulentwicklung. Daten, Beispiele und Perspektiven. Band 12. Weinheim, München 2002.

[14] Vgl. Holtappels, Heinz Günter: Ganztagsschule und Schulöffnung. Perspektiven für die Schulentwicklung. Weinheim / München, 1994. S. 17 ff.

[15] Deutscher Lehrerverband: Jürgen Liminski im Gespräch mit Josef Kraus. Benimmdefizit deutscher Schüler und Jugendlicher. (Deutschlandfunk – Interview vom 25.08.03). <www.lehrerverband.de/dfunkben.htm>. (07.08.04).

[16] Meyer, Thomas: Moderne Elternschaft – neue Erwartungen, neue Ansprüche. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 22-23 / 2002. S. 42.

[17] Von Picht zu Pisa… a.a.O. S. 4f.

[18] Ganztagsschule und Schulöffnung… a.a.O. S. 54.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Das Argument des familialen Erziehungsdefizits in der Ganztagsschuldebatte
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Institut für Pädagogik)
Note
2,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
14
Katalognummer
V37729
ISBN (eBook)
9783638369947
Dateigröße
442 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In der heutigen Gesellschaft wird häufig behauptet, dass Kinder und Jugendliche nicht 'richtig' erzogen sind. Soll daher jetzt die Institution Ganztagsschule dieses Erziehungsdefizit ausgleichen und ist sie überhaupt dazu in der Lage oder muss die Familie auf ihre Erziehungspflichten aufmerksam gemacht werden? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich diese Hausarbeit
Schlagworte
Argument, Erziehungsdefizits, Ganztagsschuldebatte
Arbeit zitieren
Cornelia Tietzsch (Autor:in), 2004, Das Argument des familialen Erziehungsdefizits in der Ganztagsschuldebatte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37729

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