Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Conrad Ferdinand Meyer – Kurzportrait
3. Die Richterin – Inhaltsangabe
4. Träume und Visionen
4.1. Der Traum der Richterin
4.2. Alptraum, Vision, Höllenfahrt - Der Höfling Wulfrin
5. Lug und Trug – Gegensätze und Gemeinsamkeiten
5.1. Richterin und Sünderin – Judicatrix und Peccatrix
5.2. Bruder und Schwester?
6. Wulfenhorn und Wulfenbecher – Symbole des Männlichen und Weiblichen
7. „Die Richterin“ – psychologisches Drama oder Kriminalgeschichte?
8. Zusammenfassung
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Frau Stemma liebt das Richtschwert und befaßt sich gerne mit seltenen und verwickelten Fällen. […] ihre feinen Finger enthüllen das Verborgene […]. Ihr Blick dringt durch Schutt und Mauern und das Vergrabene ist nicht sicher vor ihr.[1]
So lässt Conrad Ferdinand Meyer den junge Kleriker Gnadenreich die Richterin Stemma beschreiben und damit das Bild einer rechtschaffenen, intelligenten Frau, die ein besonderes Talent dafür hat, Straftaten aufzudecken und Verbrecher zu enttarnen, malen. Für Edgar Krebs steht fest:
Hinter dieser Leidenschaft und diesem Spürsinn verbirgt sich ein Geheimnis, und es ist die große Kunst des Dichters, wie er zwar den Leser dieses Geheimnis bald ahnen läßt, wie er es aber nur allmählich enthüllt und erst am Schluss völlig ans Licht bringt.[2]
Wie Meyer dieses Geheimnis verpackt hat und wie er es den Leser Schritt für Schritt auspacken lässt, soll in der folgenden Arbeit analysiert werden. Die Psychologie der Protagonisten, mögliche Gründe für ihr Tun und Lassen, Bedeutung ihrer Träume und Visionen werden anhand konkreter Beispiele veranschaulicht und mit Auslegungen und Meinungen andere Autoren verglichen und diskutiert. So werden beispielsweise unterschiedlich Figuren analysiert und miteinander verglichen. Allegorie und Symbolik spielen in Meyers Werk eine große Rolle, worauf sie sich beziehen, und was sie aussagen, soll in den folgenden Kapiteln untersucht werden.
Darüber hinaus geht es um unterschiedliche Motive und Symbole, offene und verborgene.
Auf den ersten Blick, nach der ersten Lektüre dieses Werkes, scheint das Inzestmotiv am schwer-wiegendsten zu sein, aber es bei weitem nicht das einzige Motive, das die Novelle behandelt, und, meines Erachtens, auch nicht das bedeutendste. Sämtliche Verbindungen zum wahren Leben Meyers und zur Beziehung zu seiner Schwester Betsy werden hier nicht thematisiert, da es sich dabei, meiner Meinung nach, nur um Gerüchte, Spekulationen, Klatsch und Tratsch handelt, und das Privatleben des Autors in dieser Weise nicht von Belang sein soll, um sein Werk zu analysieren. Weitaus mehr Beachtung wird deshalb, wie bereits erwähnt, der psychologischen Charakterisierung der Protagonisten sowie der Motive und Symbolik gewidmet. Für Meyer hatte gerade diese einen hohen Stellenwert, denn, laut seiner Schwester Betsy, galt für ihn: „ In der Poesie muß jeder Gedanke sich als sichtbare Gestalt bewegen.[3] Alles, was der Leser nicht sehen kann, Gedanken und Gefühle der Figuren, muss ihm anhand von Bildern und Symbolen veranschaulicht werden. Diese Bilder und Symbole bedürfen aber der genaueren Analyse, um sie alle deuten zu können.
2. Conrad Ferdinand Meyer – Kurzportrait
Conrad Ferdinand Meyer wurde am 11. Oktober 1825 in Zürich, als erstes Kind einer aristokratisch-konservativen Familie geboren. Sechs Jahre später kam seine Schwester Betsy zur Welt. Mit 15 Jahren verlor Meyer seinen Vater und die Familie, vor allem die Mutter, ihren bisherigen sicheren Halt. Meyer begann 1844 das Studium der Rechtswissenschaften, um sich, auf Wunsch der Mutter, so auf eine höhere Beamtenlaufbahn vorzubereiten. Allerdings lag ihm dieses Studium überhaupt nicht, weshalb er es abbrach und als Übersetzer arbeitete. Nach dem Tod der Mutter 1856 begannen Meyers europäische „Wanderjahre“ durch Frankreich, Italien und Deutschland. Nach seiner Rückkehr arbeitete er wieder als Übersetzer. Nach einigen Rückschlägen gelang es ihm 1864 seine „Zwanzig Balladen. Von einem Schweizer“ bei Metzler in Stuttgart, auf eigene Kosten, zu veröffentlichen. 1867 nahm der Leipziger Verleger Hermann Haessel, den Meyer durch seine Tätigkeit als Übersetzer kannte, dieses Buch unter dem Titel „Balladen von Conrad Ferdinand Meyer“ in seinen Verlag auf und veröffentlichte von nun an all Werke Meyers. Ab 1868 bis 1891 erschienen seine Werke in rascher Folge: „Romanzen und Bilder“, „Huttens letzte Tage“, „Engelberg“, „Das Amulett“, „Jürg Jenatsch“, „Der Schuss von der Kanzel“, „Der Heilige“, „Plautus im Nonnenkloster“, „Gedichte“, „Gustav Adolfs Page“, „Die Leiden eines Knaben“, „Die Hochzeit des Mönchs“, „Die Richterin“, „Die Versuchung der Pescara“ und „Angela Borgia“.
1875 vermählte er sich mit Luise Ziegler, die ihm 1879 seine Tochter Kamilla schenkte. Ab 1887 zeigte sich ein deutlicher Verfall seiner körperlichen und geistigen Kräfte, was sein Schaffen erheblich lähmte. Ab 1894 waren seine Jahre ein müdes und stumpfes Dahindämmern, bis er am 28. November 1898 durch einen Herzschlag starb.[4]
Literaturgeschichtlich fällt Meyers Schaffen in die Zeit des Realismus, allerdings kann er, laut Alfred Zäch, nur bedingt als Realist gelten, denn:
Seine Art jedoch, in Bildern, die gleichsam zu symbolischem Zweck gemalt und hingestellt sind, zu erzählen, und seine […] Sprache lassen ihn nicht als getreuen Abbildner der Lebenswirklichkeit erscheinen.[5]
3. Die Richterin – Inhaltsangabe
Die Novelle „Die Richterin“ wurde 1885 in der Oktober- und Novemberausgabe der Deutschen Rundschau veröffentlicht und erschien noch im selben Jahr als Buch.[6] Sie spielt zur Zeit Karls des Großen und ist zum größten Teil im schweizerischen Graubünden angesiedelt. Dort lebt die Richterin Stemma Judicatrix mit ihrer 15jährigen Tochter Palma. Stemma ist seit dem Tod ihres Vaters und ihres Gatten, dem alten Comes Wulf, die Richterin in Rätien und lebt auf der Burg Malmort. Sie schickt den Kleriker Gnadenreich/Graciosus nach ihrem Stiefsohn Wulfrin, um diesen aus Rom anreisen zu lassen, damit er sie endlich selbst vom Tod seines Vaters freispräche. Der Comes Wulf war, kurz nach der Hochzeit, überraschend gestorben, nachdem ihm seine junge Gattin einen Becher mit Wein gereicht hatte, von dem sie zuvor auch selbst drei große Schlucke trank. Wulfrin gelangt schließlich auf Umwegen nach Rätien, obwohl er sich sehr dagegen sträubt, dorthin zu reisen. Er sieht keinen Anlass dazu, da es keinen Grund gibt, um die Richterin auch nur im Geringsten einer Straftat zu bezichtigen: sie hatte jenen Becher vor hunderten Zeugen, am helllichten Tag, ihrem Ehemann kredenzt und sie hatte selbst daraus getrunken, bevor sie ihn weiterreichte. Somit liegt für Wulfrin der überraschende Tod seines Vaters eher an einer Überanstrengung oder einem Schlaganfall und bedarf deshalb keiner weiteren Klärung. Ohne große Befragung spricht er Stemma also von jeglichem Verdacht frei, hat aber gleich darauf das Gefühl, zu voreilig geurteilt zu haben und somit seinem Vater, auf den er nicht wirklich gut zu sprechen ist, Unrecht getan zu haben.
Palma, seine Halbschwester, ist wie vernarrt in ihren Bruder und auch Wulfrin fühlt sich, je länger er auf Malmort verweilt, immer mehr zu ihr hingezogen. Auf Bitten Stemmas reist er dann mit Palma zu Gnadenreich, damit die beiden verlobt werden. Auf dem Weg über malerische Landschaften kommen sich die Geschwister aber gefährlich nahe. Als Gnadenreich ihnen dann ein Buch zeigt, das die sündige Liebe zwischen Bruder und Schwester thematisiert, ist es um Wulfrins Selbstbeherrschung geschehen und er stürzt davon. Durch gefährliche und dunkle Schluchten führt ihn nun der Rückweg nach Malmort und in diesen wilden Tiefen stellt er sich auch den Tiefen seiner Seele und erkennt, dass er Palma liebt.
Zurück auf Malmort spricht er mit Stemma und will sich von ihr verurteilen lassen, da er bereits den sündigen Gedanken als Straftat empfindet. Stemma aber entgegnet: „ Die Tat aber und nur die Tat ist richtbar “,[7] und rät ihm, diese Gefühle für sich zu behalten. Wulfrin kann und will das nicht. Er beschließt zurück ins Gefolge Karls des Großen zu reiten, um ihm alles zu gestehen.
Stemma, die schon seit längerem von ihrer dunklen Vergangenheit verfolgt wird, beichtet eines Nachts wie im Wahn, am Grab ihres toten Mannes, dass sie bereits schwanger gewesen sei, als er sie geheiratet habe und dass sie ihm damals ein Gift in den Wein gemischt habe. Ihr sei nichts geschehen, da sie selbst zuvor ein Gegengift getrunken habe.
Da sie diese Verbrechen endlich ausgesprochen hat, fühlt sie sich erst befreit und erleichtert, muss aber entsetzt feststellen, dass Palma sie belauscht hat und nun die Wahrheit kennt. All die Mühen Stemmas, Palma einzureden, sie habe nur geträumt, sind vergebens. Palma will die Sünde ihrer Mutter offenlegen, vor allem deshalb, weil sie Wulfrin liebt und nun sogar ohne Schuld und Sünde öffentlich lieben darf. Stemma schafft es mit sprachlichem Geschick und mütterlichem Druck Palma zum Schweigen zu bewegen, allerdings verschließt Palma fortan ihren Mund ganz und tritt in eine Art Hungerstreik. Dadurch wird sie so schwach und krank, dass sie zu sterben droht. Das öffnet Stemma dann doch Augen und Herz und sie gesteht ihre Verbrechen vor Karl dem Großen und ihrem gesamten Volk und richtet sich danach, mit eben dem Gift, das schon den Gatten tötete, selbst.
„Die Richterin“ wird in der Literatur sehr kontrovers beurteilt: der Autor selbst sah in ihr „ seinen Liebling oder sein Bestes “[8]. Manche Kritiker, wie zum Beispiel John Osborne, zählen sie zu den „ weniger gelungenen Werken “ und kritisieren einen „ historisch farblosen, sich nicht verändernden Hintergrund […], der ausschließlich zu symbolischen Zwecken verwertet wird “.[9]
Andere sehen in der Novelle ein durchaus gelungenes Werk, in dem sich kaum ein beiläufiges Requisit finden [lässt], das nicht mit einem motivischen Pendant verbunden oder mit symbolischer Bedeutung aufgeladen wäre.[10]
4. Träume und Visionen
Im folgenden Kapitel werden Träume, Visionen und Halluzinationen der Charaktere Stemma und Wulfrin behandelt. Conrad Ferdinand Meyer baute oft und gerne Träume in seine Gedichte und Erzählungen ein, insgesamt findet Manfred Engel 25 Träume in Meyers Werken, zählt man Visionen, Gesichte und Halluzinationen dazu, erhöht sich diese Zahl auf 36: „ Jedenfalls gibt es keinen [Erzähltext], der ganz ohne Traum ist. “[11]
Nach Engel ist der Traum ein etabliertes und vielfältig genutztes Bauelement in der Literatur, und dient vor allem der Figurencharakteristik oder der Etablierung einer Schicksalssemantik.[12]
Charakteristisch für die Zeit des Realismus ist, dass der allwissende Erzähler aus den Geschichten verschwindet. Dadurch entfällt aber die Instanz, die dem Leser direkt sagt, was in den Figuren vor sich geht, wie sie denken, was sie fühlen; diese Lücke schließt Meyer durch den Traum. Er nutzt die Träume seiner Protagonisten als plastisch-szenische Inszenierung von psychischen Prozessen und verstößt somit nicht gegen den realistischen Imperativ des „ showing, not telling “.[13]
Auch Hardaway betont:
His works show his constant and successful striving to make thoughts and feelings stand out as pictures, as objects of sensual perception. Meyer portrays in a wonderfully vivid and picturesque manner the innermost emotions and thoughts of his characters.[14]
4.1. Der Traum der Richterin
Im zweiten, von insgesamt fünf Kapiteln, lässt Conrad Ferdinand Meyer seine „Richterin“ einen verheißungsvollen Traum träumen:
Frau Stemma wurden die Lider schwer und sie ließ sich betäubt in einen Sessel fallen. Da sah sie ein Ding hinter ihrem Sessel hervorkommen, das langsam dem Lager ihres schlummernden Kindes zustrebte. […] Die Erscheinung war die eines Jünglings, dem Gewande nach eines Klerikers, […]. „Du, Peregrin! Du bist lange weggeblieben. Ich dachte, du hättest Ruhe gefunden.“ […] „Ich danke dir, daß du mich leidest. […] Ich werde zunichte. Aber noch zieht es mich zu meinem trauten Kindchen. […] Denke dir, Liebchen, neben welchem Nachbar ich zeither sitze, neben dem“ – er suchte. „Neben dem Comes Wulf?“ fragte die Richterin neugierig. „Gerade. […] Er lehnt an seinem Spieß […] und kann nicht darüber wegkommen. Ob du ihm ein Leid antatest oder nicht. Ich bin mäuschenstille“ – Peregrin kicherte, tat dann aber einen schweren Seufzer. […] „Wir liebten uns“, sagte Stemma. „Du lagest in meinen Armen!“ „Wo dich der Judex überraschte und erwürgte“ […] „Peregrin, ich habe geweint!“ […] Vater, Heimat, alles hätte ich niedergetreten und wäre dein eigen geworden.“ „Du wurdest es“, flüsterte der Schatten. „Niemals! […] Sieh mich an: […] Bin ich nicht die Zucht und die Tugend? […] Du hast mich nicht berührt […]“. „O ihr Gewalttätigen beide, der Vater und du! […]“ „Stille, Schwächling!“ zürnte die Richterin. „Das hast du dir in deinem Schlupfwinkel zusammengeträumt. […] Stemma ist makellos! Und auch der Comes, er komme nur! ich will ihm Rede stehen!“[15]
Betäubt ist sie vom ausströmenden Duft des Gegengiftes, das sie, in der Absicht das Fläschchen mit dem Gift zu zerstören, versehentlich zuerst zertreten hat. Als sie auch das zweite unter die Ferse legt, um es zu zertreten, es sich aber weigert zu zerbrechen, verbirgt Stemma es „ mit einem anderen Gedanken […] sorgfältig in dem weiten Busen ihres Gewandes “.[16]
Wobei es sich bei diesem „anderen Gedanken“ handelt, lässt Meyer offen für die Interpretation des Lesers. Edgar Krebs deutet diesen Gedanken so:
„Ich will das Gift doch lieber aufheben, […] denn wer weiß, vielleicht bedarf ich seiner noch einmal für mich selber.“ Im Hintergrund steht die Ahnung und der unbewußte Wunsch, das Gift möge einmal dazu dienen, daß sie damit die Sühne der Untat an sich selber vollziehe, wie es zuletzt auch wirklich geschieht.[17]
Der „Traumdialog“, dem der Leser wie ein heimlich Lauschender folgt, gibt die gesamte Vergangenheit Stemmas preis: Er deckt auf, dass sie eine Liebschaft mit einem anderen hatte und dessen Kind in sich trug, als sie den Comes Wulf heiratete; heiraten musste, auf Befehl ihres Vaters. Der Traum verrät aber auch, dass sie diesen ungeliebten Mann vergiftete; er lässt tief in ihre Vergangenheit blicken, er deutet eine Wahrheit an, die Stemma bisher verborgen und verdrängt hatte.
Meyer uses the dream as a means of heightening suspense. He gives through the dream a hint, thereby arousing in us interest as to wether our suspicion will prove true or not.[18]
Die Traumtheoretiker des 19. Jahrhunderts arbeiten an einer Depotenzierung des Traumes. Für sie ist der Traum nur ein Überbleibsel des wachen Geistes und wird durch schwache Außen- oder Körperwahrnehmungen, als sogenannter „Leibreiz- oder Nervenreiztraum“, ausgelöst.[19] Stemmas Traum, der als Psychomachia angelegt ist, also als Kampf zwischen den zwei Existenzen, in die die Seele Stemmas in fast schizophrener Spaltung zerfällt: auf der einen Seite die geläuterte, gerechte Richterin, auf der anderen, verdrängten Seite die, wie es im Text heißt, «magna Peccatrix», die große Sünderin,[20]
entspricht genau diesen Kriterien, denn er wird durch Außen- und Körperreize evoziert: Erinnerungen (durch Faustines Geständnis wieder wachgerufen), das alte Spiel mit den Glasfläschchen, der ausströmende Duft des zerstörten Gegengiftes, wahrscheinlich halluzinogen, aber vor allem die Geste der schlafenden Tochter (die ihre Hand genauso ans Herz drückt, wie schon als kleines Kind[21] ), sind innere und äußere Reize, die den Erinnerungstraum an Peregrin auslösen.
Im Text hat dieser [Traum] eine dreifache Funktion: Er gewährt uns Einblick in die schizophrene Existenz der Richterin zwischen verdrängter Schuld und ihrem „gerechten“ Leben nach der Tat, er löst in der Richterin einen psychologischen Prozeß aus, der schließlich die Wahrheit an den Tag bringen wird, und er liefert dem Leser erste Informationen zu den vergangenen Ereignissen.[22]
Stemma empfängt Peregrin in ihrem Traum zuerst freundlich, aber ihr Ton wird immer rauer und bestimmter, je mehr Erinnerungen an früher der Tot wecken will. Sie verbietet ihm Palma, seine Tochter, anzusehen, sie streitet seine Vaterschaft ab, sie leugnet, dass er sie je berührt hätte. Sie verbietet ihm zu sprechen, obwohl er ohnehin nur flüstern, hauchen und seufzen kann.
Wenn sie den toten Peregrin verdrängt und entwertet, wiederholt sie nur die Vernichtung, die der Judex [ihr Vater] dem lebenden angetan hat [als er ihn tötete, nachdem er ihn in den Armen der Tochter gefunden hatte (eigene Ergänzung)].[23]
Dass Stemma Peregrin so harsch abweist, bedeutet aber nicht, dass sie ihn nicht geliebt hat, nicht immer noch liebt. Sie hat, nach dem Tod/Mord des Gatten, nicht wieder geheiratet, obwohl es an Angeboten nicht mangelte: „ Die dem jungen und schönen Weibe […] entstehenden Freier […] hatte sie […] veruneint und […] gebändigt.“[24] Das mag nicht nur daran liegen, dass sie sich keinem Mann unterordnen will, sondern der Grund könnte auch sein, dass sie keinen Mann mehr getroffen hat, der Peregrin hätte ersetzen können. Vielleicht verdrängt sie ihn und die Erinnerung auch nur aus verletztem Stolz, weil er nicht mit ihr fliehen wollte, obwohl sie ihn dreimal „ drohend beschworen [hatte], mit mir zu fliehen [..] Ich liebte dich […] “[25]
4.2. Alptraum, Vision, Höllenfahrt - Der Höfling Wulfrin
Auch Wulfrin, neben Stemma die wichtigste Person der Novelle, erlebt eine Art Vision oder Halluzination, die Michael Rohrwasser folgendermaßen beurteilt:
Höhepunkt der Novelle ist die Höllenfahrt des Wulfrin, sein Abstieg in eine Unterwelt […]. Die auffällige sprachliche Zäsur ist Indiz, dass hier ein „Anderes“ erzählt wird. Eine seelische Krise […], ein temporäres Außer-sich-Sein, bei dem die Grenzen von Innen- und Außenwelt aufgehoben wird [sic! werden].[26]
[...]
[1] Conrad Ferdinand Meyer: Novellen II – Die Hochzeit des Mönchs. Das Leiden eines Knaben. Die Richterin. Bern: Benteli Verlag 1961. (Conrad Ferdinand Meyer – Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch Band 12). S. 170.
[2] Edgar Krebs: Das Unbewußte in den Dichtungen Conrad Ferdinand Meyers. In: Psychoanalytische Bewegung 2/4 (1930), S. 327.
[3] Betsy Meyer: Conrad Ferdinand Meyer in der Erinnerung seiner Schwester Betsy Meyer. Basel: Zbinden Verlag 1971. S. 131.
[4] Vgl. Martin Pfeifer: Erläuterungen zu Conrad Ferdinand Meyers Novelle. Der Schuß von der Kanzel. Die Hochzeit des Mönchs. Die Richterin. Hollfeld: C. Bange Verlag 1964. (Dr. Wilhelm Königs Erläuterungen zu den Klassikern Band 257/58). S. 6-9.
[5] Alfred Zäch: Conrad Ferdinand Meyer – Dichtkunst als Befreiung aus Lebenshemmnissen. Frauenfeld: Huber Verlag 1973. (Wirkung und Gestalt Band 3). S. 297.
[6] Vgl. Alfred Zäch: CFM – Dichtkunst als Befreiung. S. 198.
[7] C.F. Meyer: Die Richterin. S. 221.
[8] Alfred Zäch: CFM – Dichtkunst als Befreiung. S. 202.
[9] John Osborne: Vom Nutzen der Geschichte. Studien zum Werk Conrad Ferdinand Meyers. Paderborn: Igel Verlag 1994. (Kasseler Studien zur deutschsprachigen Literaturgeschichte Band 5). S. 119.
[10] Michael Rohrwasser: Freuds Lektüren – Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler. Gießen: Psychosozial Verlag 2005. S. 113.
[11] Manfred Engel: Der literarische Traum im Spätrealismus am Beispiel Conrad Ferdinand Meyers. In: Monika Ritzer (Hg.): Conrad Ferdinand Meyer – Die Wirklichkeit der Zeit und die Wahrheit der Kunst. Tübingen: Francke Verlag 2001. S. 82-83.
[12] Vgl. Manfred Engel: Der literarische Traum. S. 79.
[13] Vgl. Manfred Engel: Kulturgeschichte/n? Ein Modellentwurf am Beispiel der Kultur- und Literaturgeschichte des Traumes. In: KulturPoetik 10/2 (2010), S. 172.
[14] R.T. Hardaway: Dreams and Visions in the Works of C.F. Meyer. In: The Journal of English and Germanic Philology 31/1 (1932), S. 84+87 (in Auszügen).
[15] C.F. Meyer: Die Richterin. S. 187-191 (in Auszügen).
[16] C.F. Meyer: Die Richterin. S. 187.
[17] Edgar Krebs: Das Unbewußte. S. 329-330.
[18] R.T. Hardaway: Dreams and Visions. S. 89.
[19] Vgl. Manfred Engel: Kulturgeschichte/n? S. 170.
[20] Manfred Engel: Kulturgeschichte/n? S. 170.
[21] Vgl. C.F. Meyer: Die Richterin. S. 186-187.
[22] Manfred Engel: Der literarische Traum im Spätrealismus. S. 85.
[23] Friedrich Kittler: Der Traum und die Rede. Eine Analyse der Kommunikationssituation Conrad Ferdinand Meyers. Bern: Francke Verlag 1977. (Gegenwart der Dichtung Band 4). S. 279.
[24] C.F. Meyer: Die Richterin. S. 186.
[25] C.F. Meyer: Die Richterin. S. 190.
[26] Michael Rohrwasser: Freuds Lektüren. S. 111.