„Das politische System, das Lessing kritisierte, war damals, als das Werk
entstand, noch gang und gäbe, der Konflikt zwischen Mann und Frau überdauert
jedes politische System, obgleich [..] der dramatische Knoten schon längst nicht
mehr mit dem Jungfernhäutchen geknüpft wird: Auch jenseits der sexuellen
Tabus stehen sich Mann und Frau als Todfeinde gegenüber.“ 1
Ganz so extrem wie Dürrenmatt würde ich die heutige Situation nicht charakterisieren. Dennoch
finden sich in diesem Zitat die Aspekte, die ich unter dem Thema „erotische Unschuld und
unschuldige Erotik“ in Lessings Trauerspiel „Emilia Galotti“ ansprechen werde. Traditionelle
Interpretationen sind meist politisch geprägt und bleiben dabei auf der Oberfläche des Stückes, das
doch von der Interaktion der durch Lessing psychologisch tiefgründig konzipierten Figuren lebt. Dem
Bereich der Erotik, der Rolle von Mann und Frau und dem begrifflichen Verständnis von Sexualität,
Sinnlichkeit und Körperlichkeit zur Zeit der Aufklärung, wird in moderneren Interpretationen der
Vorzug gegeben. Anhand dieser Themen, die ich entlang der Entwicklung der Hauptcharaktere
behandle, möchte ich meinen bei der Lektüre der „Emilia“ aufgetauchten Gedanken hinterfragen:
Kann Unschuld erotisch wirken, und ist Emilia, die diese Erotik dann ausstrahlen würde, Opfer eines
wie auch immer gearteten Missbrauchs und daran gänzlich unschuldig?
Als Theaterexperte 2 lässt Lessing die Exposition seines bürgerlichen Trauerspiels unmittelbar im
Kabinett des Prinzen Hettore Gonzaga beginnen. Er weiß, dass ein solcher szenischer Einstieg die
Aufmerksamkeit der Zuschauer fesselt und sie auf das Wesentliche lenkt. Hätte Lessing einen Roman
schreiben wollen, hätte seine Geschichte um die bürgerliche Tochter Emilia Galotti früher eingesetzt. [...]
1 Friedrich Dürrenmatt: Macht und Verführung – oder Die Macht der Verführung. Zu Lessings „Emilia Galotti“. In: Theater.
Essays, Gedichte und Reden. Zürich 1980 (S. 223-230), S. 224. Im Folgenden zitiert als DÜRRENMATT: Macht und
Verführung (1980), mit Seitenangabe.
2 Der 1729 in Kamenz geborene Pfarrerssohn begeisterte sich schon in jungen Jahren für das Theater. Als Dramaturg am neu
gegründeten Hamburger Nationaltheater (1767-69) hebt er das bürgerliche Trauerspiel auf ein neues Niveau. Vgl. Rainer
Baasner und Georg Reichard: Epochen der deutschen Literatur. Aufklärung und Empfindsamkeit. Ein Hypertext -
Informationssystem (auf CD-ROM). Reclam, 1998.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Ausgangspunkte
- Die Welt des Hettore Gonzaga
- Emilia im Schutzraum der Familie Galotti
- Das Haus des Kanzlers Grimaldi Ort der verhängnisvollen Begegnung
- Verführung und Begehren – Frauenbilder und erotische Männerphantasien
- Das Idealbild der erotischen Unschuld der „virgo intacta“
- Die Angst vor selbstbewusster weiblicher Sinnlichkeit
- Emilia: Tochterrolle und die „aimable ignorante“
- Gewalt und Missbrauch
- Emilia als Opfer eines „unterbewussten inzestuösen Verlangens“
- Sexuelle Nötigung: Vergewaltigung durch den Prinzen
- Zusammenfassung
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht Lessings „Emilia Galotti“ unter dem Aspekt der „erotischen Unschuld und unschuldigen Erotik“, indem sie traditionelle, politisch geprägte Interpretationen erweitert und den Fokus auf die psychologischen Tiefen der Figuren und das Verständnis von Sexualität und Körperlichkeit in der Aufklärung legt. Die Arbeit hinterfragt, ob Unschuld erotisch wirken kann und ob Emilia Opfer von Missbrauch ist.
- Die Darstellung der weiblichen Figur Emilia und das Ideal der „virgo intacta“
- Die Machtstrukturen und der Missbrauch von Macht im Stück
- Die Ambivalenz der Figur des Prinzen Hettore Gonzaga
- Die Rolle von Verführung und Gewalt in der Handlung
- Das Verständnis von Sexualität und Körperlichkeit in der Aufklärung
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung: Die Einleitung führt in das Thema „erotische Unschuld und unschuldige Erotik“ in Lessings „Emilia Galotti“ ein und kündigt die Auseinandersetzung mit traditionellen und modernen Interpretationen an. Sie stellt die zentrale Forschungsfrage nach Emilias Unschuld und der möglichen erotischen Wirkung ihrer Unschuld in den Mittelpunkt.
Ausgangspunkte: Dieses Kapitel beleuchtet die Ausgangssituation des Dramas. Es wird die ungewöhnliche Exposition im Kabinett des Prinzen Hettore Gonzaga analysiert und die Bedeutung der Andeutungen und bruchstückhaften Informationen für die Interpretation hervorgehoben. Die Kapitel unterstreichen die Wichtigkeit der Imagination des Lesers/Zuschauers zur Rekonstruktion der eigentlichen Ausgangssituation.
Die Welt des Hettore Gonzaga: Dieser Abschnitt analysiert die Darstellung des Prinzen Hettore Gonzaga in den ersten Szenen. Lessings Fokus auf die private Seite des Prinzen, seine menschliche Seite neben der politischen, wird betont. Der Kontrast zwischen dem humanen Landesvater und dem skrupellosen Machthaber, der sich in der Szene mit Camillo Rota zeigt, wird hervorgehoben. Die Interpretationen Dürrenmatts werden in Bezug auf den Prinzen als unberechenbaren Verführer diskutiert.
Verführung und Begehren – Frauenbilder und erotische Männerphantasien: Dieses Kapitel analysiert Lessings Darstellung von Frauen und den männlichen Phantasien darüber. Es untersucht das Ideal der „virgo intacta“ und die Angst vor selbstbewusster weiblicher Sinnlichkeit. Die Rolle Emilias als „aimable ignorante“ und die Konventionen des damaligen Frauenbildes werden diskutiert.
Gewalt und Missbrauch: Dieses Kapitel befasst sich mit den Aspekten von Gewalt und Missbrauch im Stück. Die Interpretation Emilias als Opfer eines „unterbewussten inzestuösen Verlangens“ und die Vergewaltigung durch den Prinzen werden analysiert. Der Fokus liegt auf den unterschiedlichen Formen von Gewalt und deren Auswirkungen auf Emilia.
Schlüsselwörter
Emilia Galotti, Lessing, erotische Unschuld, unschuldige Erotik, Verführung, Gewalt, Missbrauch, Macht, Aufklärung, Frauenbild, Sexualität, Körperlichkeit, Prinz Hettore Gonzaga, virgo intacta, aimable ignorante.
Häufig gestellte Fragen zu Lessings "Emilia Galotti"
Was ist der Fokus dieser Arbeit zu Lessings "Emilia Galotti"?
Diese Arbeit untersucht Lessings Drama "Emilia Galotti" unter dem Aspekt der "erotischen Unschuld und unschuldigen Erotik". Sie erweitert traditionelle Interpretationen und konzentriert sich auf die psychologischen Tiefen der Figuren sowie das Verständnis von Sexualität und Körperlichkeit in der Aufklärung. Die zentrale Frage ist, ob Emilias Unschuld erotisch wirken kann und ob sie Opfer von Missbrauch ist.
Welche Themen werden in der Arbeit behandelt?
Die Arbeit behandelt folgende Themenschwerpunkte: die Darstellung der weiblichen Figur Emilia und das Ideal der „virgo intacta“, die Machtstrukturen und der Missbrauch von Macht im Stück, die Ambivalenz der Figur des Prinzen Hettore Gonzaga, die Rolle von Verführung und Gewalt in der Handlung und das Verständnis von Sexualität und Körperlichkeit in der Aufklärung.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit und worum geht es in jedem Kapitel?
Die Arbeit gliedert sich in die Kapitel: Einleitung (Einführung in das Thema und die Forschungsfrage), Ausgangspunkte (Analyse der Ausgangssituation des Dramas und der Bedeutung der Andeutungen), Die Welt des Hettore Gonzaga (Analyse der Darstellung des Prinzen und seiner Ambivalenz), Verführung und Begehren – Frauenbilder und erotische Männerphantasien (Analyse von Frauenbildern und männlichen Phantasien, das Ideal der „virgo intacta“ und Emilias Rolle), Gewalt und Missbrauch (Analyse von Gewalt und Missbrauch im Stück, insbesondere im Bezug auf Emilia), und Zusammenfassung.
Wie wird die Figur Emilia Galotti dargestellt?
Emilia wird als potenzielles Opfer von Missbrauch dargestellt, wobei die Frage nach ihrer "erotischen Unschuld" im Mittelpunkt steht. Ihre Rolle als "aimable ignorante" und die Konventionen des damaligen Frauenbildes werden kritisch beleuchtet. Die Arbeit diskutiert, ob sie Opfer eines "unterbewussten inzestuösen Verlangens" ist und wie die verschiedenen Formen von Gewalt auf sie wirken.
Wie wird die Figur des Prinzen Hettore Gonzaga charakterisiert?
Der Prinz Hettore Gonzaga wird als ambivalente Figur dargestellt: einerseits als humaner Landesvater, andererseits als skrupelloser Machthaber und Verführer. Die Arbeit analysiert den Kontrast zwischen seiner privaten und politischen Seite und diskutiert verschiedene Interpretationen seiner Rolle, beispielsweise im Vergleich zu Dürrenmatts Interpretationen.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit am besten?
Schlüsselwörter sind: Emilia Galotti, Lessing, erotische Unschuld, unschuldige Erotik, Verführung, Gewalt, Missbrauch, Macht, Aufklärung, Frauenbild, Sexualität, Körperlichkeit, Prinz Hettore Gonzaga, virgo intacta, aimable ignorante.
- Arbeit zitieren
- Franziska Moschke (Autor:in), 2000, Erotische Unschuld und unschuldige Erotik; Begehren, Verführung, Gewalt und Missbrauch in Lessings "Emilia Galotti", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37781