Non-deklarative Gedächtnisformen aus soziologischer Perspektive


Hausarbeit, 2017

15 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Körper und Kultur

3. Habitus als non-deklaratives Gedächtnis

4. Das Non-deklarative Gedächtnis bei Holzkamp

5. Das non-deklarative Gedächtnis und eine Strategie des Antwortfindens

6. Theoretische Implikationen - Die Fiktion administrativer Planbarkeit

7. Schluss

Literatur

1. Einleitung

Diese Arbeit wird von dem Gedanken gerahmt, dass aktuelle wissenschaftliche Forschungsergebnisse der Gehirnforschung und das daraus resultierende gestiegene funktionale Verständnis über das Gehirn nur einen Bruchteil dessen ausmachen, was über das menschliche Gehirn in Erfahrung oder ins Bewusstsein gebracht werden könnte. Viele, vor allem wissenssoziologische, Grundannahmen sind bereits und werden im Zuge zukünftiger Forschung in ein anderes Licht rücken. Es sei noch unklar, wie Menschen die inneren Bilder mit den neuen, über verschiedene Sinneskanäle ankommenden und im Gehirn erzeugten Aktivitätsmuster vergleichen und so ihre bisherigen Vorstellungen über Erscheinungen in der Welt verändern können (Hüther 2008, S. 1319). So unterscheide sich die genetische Ausstattung der heutigen Menschen nicht im Geringsten von den Menschen von vor hunderttausend Jahren, das Gehirn weise jedoch beträchtliche Unterschiede aufgrund der unterschiedlichen Nutzung in der heutigen Welt auf und sei anders strukturiert (ebd., S. 1325f.). Wie Menschen tatsächlich Bedeutung generieren, bleibt auch der Wissenschaft unklar, doch es scheint, als sei diese Fähigkeit durch die komplexe Wechselwirkung zwischen der Funktionsweise unseres Körpers und der Sozialität unserer Welt bedingt. Die Soziologie bleibt von den aktuellen neurowissenschaftlichen Forschungen nicht unberührt, wenn sie weiter nach einem Verständnis der sozialen Welt strebt. Die Konstruktion des Sinns ist eine zentrale soziologische Fragestellung, die in engem Zusammenhang mit Bildung und Wissen steht. Körper und Kultur hängen in einer komplexen Wechselwirkung miteinander zusammen, die seit jeher durch Sozialität charakterisiert ist. Die enge Kopplung von sprachlicher Formulierung und der abgerufenen Gehirnfunktion sei ein Beweis für die enge Verflechtung zwischen Kultur und Biologie (Kastl 2004, S. 12). Das Gedächtnis stelle die entscheidende biologische Grundlage von Gesellschaft und Kultur dar (ebd., S. 25). Gehirnforscher und Gehirnforscherinnen gehen davon aus, dass das Gedächtnis funktional in das deklarative und das non-deklarative Gedächtnis zu differenzieren sei. Letzteres werde auch Verhaltensgedächtnis genannt und sei ein Sammeltitel für ein Repertoire an experimentell und klinisch gut gesicherten Gedächtnisformen (Kastl 2016, S. 90). Non- deklarative Gedächtnisformen zeigen sich in erfahrungsabhängigen Verhaltensänderungen und werden verkürzt als Können bezeichnet (ebd., S.90f.). Zu den non- deklarativen Gedächtnisformen gehören perzeptuelle Erwartungssysteme, das sogenannte Priming-System, sensomotorische Fertigkeiten, das intuitive Erlernen kognitiver Konzepte, sportliche, künstlerische und handwerkliche Kompetenzen, der Primarspracherwerb und motorische, gestische, mimische, affektive Gewohnheiten und Verhaltensstile (ebd. S.91). Auf das intuitive Erlernen kognitiver Konzepte wie Typisierungen, Kategorien und komplexe Regelstrukturen kommt es in dieser Arbeit an, da dies soziologisch relevant ist.

Es ist bemerkenswert, dass sich Klaus Holzkamp in seinen Ausführungen über Die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse (Holzkamp 1992) hauptsächlich auf Prozesse des deklarativen Gedächtnisses bezogen hat und die Prozesse des non-deklarativen nur mit dem Begriff Mitlernen angeschnitten hat. Dies heißt jedoch nicht, dass das Erlernen non-deklarativer Gedächtnisinhalte vernachlässigbar ist.

Holzkamps These, dass die schuloffizielle Lehrlernplanung die eigenen sachbezogenen, expansiven Lernbemühungen der Schüler und Schülerinnen systematisch behindere und störe, ist in dieser Arbeit zentral. Es soll überprüft werden, ob sich diese These auf das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten als Komponente des non-deklarativen Gedächtnisses übertragen lässt. Welche systematischen Auswirkungen hat die schuloffizielle Lehrlernplanung auf das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten als Komponente des non-deklarativen Gedächtnisses?

Im Folgenden wird einleitend die Diskussion um das Verhältnis von Körper und Kultur umrissen und daran anschließend der interdisziplinäre Ansatz durch Kastl vorgestellt, der Parallelen zwischen dem non-deklarativen Gedächtnis und dem Habitus zieht. Darauffolgend wird aufgezeigt, dass sich Holzkamp nur am Rande mit Prozessen des non-deklarativen Gedächtnisses beschäftigt. Diese Lücke in Holzkamps subjektwissenschaftlicher Theorie wird im vierten Teil durch die Vorstellung einer Analyse von Lerntagebüchern geschlossen. Hierbei wird der Bezug zu Prozessen des non-deklarativen Gedächtnisses hergestellt. Im vierten Teil wird die Fragestellung einerseits am Beispiel der Ergebnisse des vorangegangenen Teils und andererseits mit eigenen theoretischen Überlegungen beantwortet. Abschließend wird die Arbeit zusammengefasst und kritisch beleuchtet.

2. Körper und Kultur

Der Ansatz durch Kastl, der im dritten Kapitel vorgestellt wird, schließt an die wissenschaftliche Diskussion um die Grenzen zwischen Körper und Kultur an. In der wissenssoziologischen Diskussion um den Zusammenhang zwischen Körper und Gesellschaft wird der interdisziplinäre Charakter dieser Diskussion deutlich. In Bezug auf das Thema Wissen zeigen sich Überschneidungen der Natur- und der Sozialwissenschaften. Das Alltagswissen sei zu unterteilen in stillschweigende Annahmen, die zu selbstverständlich seien als dass wir darüber, im Sinne der eingefleischten Glaubensüberzeugungen, reden würden und zum anderen in ein stummes körperliches Können, das nicht abfragbar sei (Hirschauer 2008, S. 977). Marcel Mauss spreche von Körpertechniken, Schütz von Fertigkeiten und Routinen, Garfinkel von skills, Ryle von knowing how, Polanyi von tacit knowledge, Foucaolt von Disziplinen und Bourdieu vom Habitus (ebd.). Das verkörperte Wissen, dass bereits von vielen Autoren in unterschiedlichen Begrifflichkeiten thematisiert wurde, bestehe aus Fingerspitzengefühl, Orientierungssinn, Geschicklichkeit, Kniffen und Tricks (ebd.). Durch die laufende Beobachtung und das Wahrnehmen anderer im wechselseitigen Prozess, wissen wir uns zu benehmen (ebd., S. 981). Andere können ihre Präsenz als Publikum in meinem Körper sehen sowie es möglich sei einen Vorgesetzten in der Unterwürfigkeit eines Angestellten zu sehen (ebd.).

Um Missverständnissen vorzubeugen setzen wir den Begriff des Bewusstseins, der für den Umgang mit den Begriffen Wissen und Gedächtnis zentral ist, mit dem non-deklarativen Gedächtnis in Beziehung. Non-deklarativ heißt nicht zwingend unbewusst. Es bedürfe für die Klärung des Zusammenhangs zwischen Bewusstsein und Gedächtnis eine Reihe an Differenzierungen, denn Bewusstsein sei noch keine präzise phänomenologische Kategorie (Kastl 2016, S. 92f.). Man könne nicht einfach sagen, dass Wissen generell bewusst sei und Körpergedächtnis unbewusst funktioniere, auch nicht-bewusste Prozesse spielen bei deklarativen Gedächtnisformen und -prozessen eine wichtige Rolle und umgekehrt könne auch Bewusstsein bei nicht-deklarativen Gedächtnisphänomenen von Bedeutung sein (ebd., S. 92). Es sei erforderlich, danach zu fragen, auf welche Weise (noetisch) was (noematisch) Gegenstand von Erfahrung sei, darüber hinaus müsse differenziert werden, ob sich das jeweilige Bewusstsein beziehungsweise der jeweilige noetische Akt auf den Gedächtnisgegenstand richtet und/oder reflexiv auf die Gedächtnisleistung selbst, außerdem müsse klargestellt werden, auf welche Phase des Operierens von Gedächtnis sich bezogen wird. Beziehe es sich auf den Erwerb, die Konsolidierung oder den Abruf von Gedächtnisinhalten (ebd., S. 93). Auf diese Problematik wird in dieser Arbeit nicht weiter eingegangen, sie soll aber deutlich machen, dass die Entwicklung differenzierter Begrifflichkeiten in diesem jungen interdisziplinären Dialog unabdingbar ist.

3. Habitus als non-deklaratives Gedächtnis

Kastl plädiert ebenso für eine interdisziplinäre Forschungspraxis mit einheitlicher Begriffsbildung sowie für das Konzept eines Naturbegriffs, der menschliche und kulturelle Erfahrungen nicht aus-, sondern einschließt. Ein solches Konzept des Naturbegriffs könne der Dialog zwischen Sozial- und Verhaltenswissenschaften mit naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen hervorbringen (Kastl 2004, S. 36).

In diesem Sinne wird die Schnittmenge zwischen Soziologie und neuropsychologischer Gedächtnisforschung im Verhältnis vom Habitus und dem non-deklarativen Gedächtnis aufgezeigt. Für einen Überblick kann die Tabelle Ged ä chtnissysteme und Soziologie hinzugezogen werden, in der das Können als Leistungscharakteristik dem non-deklarativen Gedächtnis zugeordnet wird (Kastl 2016, S. 89). Bourdieu nehme mit dem Habituskonzept Phänomene in den Blick, die in der modernen Gedächtnisforschung unter dem Begriff des non-deklarativen Gedächtnisses gefasst werden (Kastl 2004, S. 5). Diese These wird auf Grundlage der Untersuchungen an amnestischen Patienten entwickelt. Es zeige sich am Beispiel des berühmten Falles H.M. und der daran anschließenden Forschung, dass eine Unfähigkeit zur Handlungsplanung und zum Neuerwerb von Informationen, die dem deklarativen Gedächtnis zuzuordnen sind, nicht gleichbedeutend mit einer generellen Unfähigkeit zum Lernen sei (ebd., S. 10).

So zählen Priming, Wahrnehmungslernen, das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten, Klassifikationen und Typisierungen und das Erlernen motorischer Fertigkeiten zum non-deklarativen Gedächtnis und können auch von hochgradig amnestischen Patienten, die sich nicht daran erinnern, was sie vor einigen Minuten gegessen haben, also eine Amnesie des deklarativen Gedächtnisses aufweisen, weiterhin ausgeführt beziehungsweise gelernt werden (ebd., S. 12ff.). Lernvorgänge, die sich qua Einbindung in eine Praxis vollziehen, werden mittels der Begriffe Habitus und non-deklaratives Gedächtnis beschrieben (ebd., S. 23). Die Soziologie bezieht sich mit dem Begriff des Habitus auf bestimmte Strukturen oder Teilaspekte des non-deklarativen Gedächtnissystems, die als soziales Lernen aufgefasst werden können (ebd., S. 24). Mit Bezug auf die Familien- und Sozialisationsforschung von Overmann, Allert, Hildebrand und Schmeiser verweist Kastl neben der Erforschung der Primärsozialisation auf den wichtigen Bereich der non- deklarativen Aspekte sozialen Lernens in der schulischen Sozialisation (ebd., S. 34). Langzeitstudien könnten in diesem Zusammenhang gerade mit der objektiven Hermeneutik aufgrund ihrer methodischen Privilegierung der Beobachtung von Verhalten eine große Rolle in der Bildungsforschung zukommen (ebd.).

Besonders relevant für die Soziologie ist unter anderem das intuitive Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten als Komponente des non-deklarativen Gedächtnisses. Es wird anhand dreier Beispiele verdeutlicht, dass Menschen die Fähigkeit besitzen, nach mehrmaliger Einschätzung eines Problems, dem gewisse Regeln und Regelmäßigkeiten zugrunde liegen, ganz ohne kognitive Anstrengung ein Gefühl für diese zugrunde liegenden Regeln und Regelmäßigkeiten zu erlangen und sich so intuitiv diesen annähern (ebd., S. 16ff.). Ein sehr eindrückliches Beispiel sei das Experiment mit einem probalistischen Regelsystem, bei dem gezeigt wird, dass Menschen, ohne das Gefühl zu haben, etwas Fassbares gelernt zu haben, ihre Vorhersageleistung verbessern (ebd.). Bei dem Wettervorhersagespiel werden den ProbandInnen eine bis vier Karten jeweils mit Quadrat, Dreieck, Kreis oder Raute in mehreren Durchgängen auf einem Bildschirm gezeigt. Jede dieser Karten ist unabhängig voneinander mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit für Regen bzw. gegen Sonne oder eben für Sonne bzw. gegen Regen verknüpft. Ihnen liegt somit ein probalistisches Regelsystem zugrunde. Die ProbandInnen sollen anhand der Karten, die ihnen mehrmals nacheinander gezeigt werden, voraussagen, ob es regnen oder ob die Sonne scheinen wird. Nach jedem Versuchsdurchgang erhalten die ProbandInnen prompt eine Rückmeldung, ob ihre Vorhersageleistung richtig war. Nun stelle sich heraus, dass die PorbandInnen mit der Zeit besser werden, die Lage richtig einzuschätzen, obwohl sie nicht das Gefühl haben, etwas Fassbares gelernt zu haben. Sie verbessern ihre Vorhersageleistung von 50% Treffer auf 65% Treffer (ebd., S. 16f.). Dieser exemplarische Befund zum Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten sei im Lichte der Sozialisation, bei der sich das eigene Verhalten sukzessiv an den Reaktionen Anderer orientiere, zentral, denn es handele sich bei sozialisatorischen Inhalten meist um Erfahrungs"wissen", das sich irgendwo in einem Kontinuum zwischen subtilen als solchen aber kaum durchschaubaren Regelstrukturen, diffusen Regelmäßigkeiten und einer trüben Probabilistik bewege (ebd., S. 18).

Nachdem die Annahme hergeleitet wurde, dass Priming, Wahrnehmungslernen und das Erlernen von Regeln, Regelmäßigkeiten, Typen und Typisierungen Teil des non-deklarativen Gedächtnisses ist und mit gewissen Elementen des Habitus gleichzusetzen sei, gilt es nun zu untersuchen, inwiefern die schuloffizielle Lehrlernplanung die Aneignung und Speicherung non-deklarativer Gedächtnisinhalte der SchülerInnen systematisch beeinflusst. Im Rahmen dieser Arbeit wird nur der Bezug auf das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten hergestellt.

4. Das Non-deklarative Gedächtnis bei Holzkamp

Im Folgenden wird aufgezeigt, dass Holzkamp sich kaum auf das Erlernen non- deklarativer Gedächtnisinhalte bezieht. Das Lernen mit seinen Voraussetzungen und Möglichkeiten müsse besser verstanden werden, um die Diskrepanz zwischen Lernzielen und faktischen Fähigkeiten zu begründen (Holzkamp 1992, S. 7). Holzkamp gibt an, dass er sich in seinem Buch hauptsächlich mit intentionalem Lernen auseinandersetzt und das, wie er es nennt, akzidentelle Lernen oder Mitlernen nicht thematisiert, obwohl es vor allem bei kleineren Kindern eine besondere Bedeutung zukomme (Holzkamp 1996, S. 30f.). Intentionales Lernen kann dem deklarativen Gedächtnis zugeordnet werden. Bei Holzkamp klingt mit dem Begriff Mitlernen, wenn auch anders ausgedrückt, ein Bezug auf das non- deklarative Gedächtnis an. Es wird die Annahme hervorgehoben, dass menschliches Lernen über gegenständlich kumulierte Erfahrungen vermittelt sei (Holzkamp 1992, S. 12). Hier wird der Bezug zu sozialisatorischen Inhalten, bei denen es sich meist um „Erfahrungs"wissen"“ (Kastl 2004, S. 18) handele, deutlich.

5. Das non-deklarative Gedächtnis und eine Strategie des Antwortfindens

Diese Lücke wird nun geschlossen. Im Gegensatz zur Eingrenzung des Lernens auf eine intentionale Handlung wird Lernen bei Haugg als Ergänzung zu den konzeptionellen Lücken bei Holzkamps Ausführungen über das Lernen als kontinuierlicher Prozess untersucht, der es Menschen ermögliche, ein Mitglied dieser Gesellschaft zu werden (Haugg 2003, S. 194). Der Blick auf das Subjekt als ein begründet handelndes Subjekt beziehe den Bereich des Lernens nicht mit ein, indem die herrschenden sozialen Verhältnisse wie Medien, Traditionen, kulturell Angeeignetes und Gewohnheiten in jedem Einzelnen verkörpert, inkorporiert, aufgenommen und verinnerlicht werden (ebd., S. 206). Eine solche Betrachtung schließe Prozesse der Unterwerfung, der Integration, des Widerstandes und die Zunahme der Handlungsfähigkeit mit ein (ebd., S. 194). Haugg untersucht somit auch Bereiche des non- deklarativen Gedächtnisses, die bei Holzkamp nur am Rande thematisiert wurden.

Bei einer strukturierten, systematischen Untersuchung mittels Zerlegung der Erzählung eines Lerntagebuchs lasse sich eine neue Bedeutung erschließen, die von der Verfasserin des Lerntagebuchs zwar produziert wurde, dessen Bedeutung sich aber erst als eine Art Subtext unter den geschriebenen Worten mit dieser Methode identifiziert lasse (ebd., S.204). Eine solche Untersuchung kann das durch Kastl hervorgehobene Potenzial der hermeneutischen Forschung für die Aufdeckung der non-deklarativen Gedächtnisinhalte darstellen (Kastl 2004, S. 34). Die Beschreibung der Lernsituation durch die Verfasserin des Lerntagebuchs beinhalte das stetige Abschätzen, Ausharren, Nachdenken und Abgleichen der von anderen MitschülerInnen gegebenen Antworten, sodass sie am Ende die richtige Frage herausfinden konnte (Haugg 2003, S. 201f.). Die Verfasserin des Lerntagebuchs identifiziere nicht den Stoff als Inhalt des Gelernten, sondern die Art und Weise, wie sie auf die richtige Antwort gekommen ist (ebd., S. 203). Das Einsetzen eines Fehlersuchsprogramms und das Einüben von Antworten sei als Lernen und Verstehen aufzufassen (ebd., S. 204). Dieses Einüben von Antworten und die Fähigkeit des Einsetzens des Fehlersuchprogramms, um die Erwartungen des Lehrenden zu erfüllen und die richtige Antwort zu liefern, ist das, was über Zeit, Erfahrungen und Gewöhnung, verinnerlicht, verkörpert und inkorporiert wird und stellt das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten als Komponente des non-deklarativen Gedächtnisses dar. Anhand dieses Beispiels wird gezeigt, dass Haugg die Ausführungen von Holzkamp auf die Ebene der inkorporierten Verhältnisse, die sich innerhalb des Klassenraumes wiederfinden, erweitert. Dadurch zeige sich, dass das Lernarrangement offenbar in der Lage sei, "geschädigte Subjekte" hervorzubringen, die sich zu sich selbst auf eine Weise verhalten, die gleichzusetzen sei mit dem Verhältnis zu Objekten, die entweder funktionieren oder eben nicht (ebd., S. 204-205). Dieses Lernergebnis sei mit Lust und Macht besetzt (ebd.). Die von SchülerInnen inkorporierten gesellschaftlichen Verhältnisse seien auch im Verhältnis im Klassenraum wiederzufinden und beeinflussen und leiten Interaktion, Selbstkonzepte, Denken, Fühlen, Handeln und Erleben auf eine gewisse Art (ebd.). Ob das Lernarrangement tatsächlich geschädigte Subjekte hervorbringt und in welchem Sinne der Schaden zu verstehen ist, sei dahingestellt, doch es gilt als unumstritten, dass schulische Sozialisation die Konfrontation mit gesellschaftlich geltenden Normen und Regeln und deren Inkorporierung umfasst. Normen und Regeln werden in der Schule im Sinne des heimlichen Lehrplans vermittelt und SchülerInnen sind mit einer Fähigkeit ausgestattet, diese Normen, Regeln und Regelmäßigkeiten in Situationen, in denen ihnen Welt begegnet, in sich aufzunehmen.

6. Theoretische Implikationen - Die Fiktion administrativer Planbarkeit

Nun gilt es die vorangegangenen Überlegungen auf die These von Holzkamp zu übertragen. Der Schule sei die Aufgabe der Planung von Abschlüssen und Qualifikationen zur Bedienung des Beschäftigungssystems zugewachsen (Holzkamp 1992, S.3). Sie solle über die administrative Planung des schulischen Outputs den ungleichen Zugang zu Berufslaufbahnen und Lebensmöglichkeiten steuern und rechtfertigen (ebd., S. 2). Holzkamp leitet die These, dass die schuloffizielle Lehrlernplanung die eigenen sachbezogenen, expansiven Lernbemühungen der SchülerInnen systematisch behindere und störe, her (ebd., S.11). Welche Konsequenzen hat die schuloffizielle Lehrlernplanung nun auf das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten als Element einer non-deklarativen Gedächtnisform?

Nachdem das exemplarische Beispiel des Erlernens von Regeln und Regelmäßigkeiten als non-deklarative Gedächtnisleistung vorgestellt wurde, bei dem die Lernende ein System des Antwortfindens entwickelt hat, wird der Versuch unternommen, dieses Beispiel auf generelle Strukturen zu übertragen. Einige theoretische Überlegungen sind dabei hilfreich.

Wenn das Ziel administrativ festgeschrieben worden wäre, dass SchülerInnen Strategien entwickeln sollen, um die von den Lehrenden erwarteten Antworten auf die von ihnen gestellten Fragen richtig zu beantworten, dann wäre das administrativ Geplante erfüllt und es würde die Lernenden somit auch nicht systematisch stören oder behindern können. Wenn das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten, die nicht der Logik der Lehrsituation entsprechen, als Ziel festgeschrieben wird, kann im Grunde nicht von einer Störung oder Behinderung des Lernens gesprochen werden, sondern in diesem Fall würden trotzdem die Regeln und Regelmäßigkeiten erlernt und verinnerlicht werden, die der Logik der Lehrsituation entsprechen. Wenn beispielsweise administrativ geplant wird, dass SchülerInnen Strategien entwickeln sollen, in denen sie sich frei und selbstständig mit einer Problematik auseinandersetzen, und sich aber beobachten lässt, dass sie (im Gegenteil zum in diesem Fall Geplanten) eine Strategie entwickeln, die es ihnen ermöglicht im Sinne der Logik der Lehrsituation die erwartete Antwort auf die Frage der Lehrenden zu finden, dann stört oder behindert das Geplante nicht das Erlernen sich selbstständig und frei mit einer Problematik auseinanderzusetzen, sondern es entzieht sich in Gänze einer solchen Planung.

Die SchülerInnen lernen und verinnerlichen trotzdem die Strategie des Antwortfindens. Statt des selbstständigen und freien Auseinandersetzens werden die Regeln und Regelmäßigkeiten mitgelernt, die der Logik der Situation zugrunde liegen, in diesem Fall das Finden der richtigen Antwort. Es werden zwar Regeln und Regelmäßigkeiten erlernt, doch müssen es nicht zwangsweise jene sein, die geplant wurden.

Administrative Planung übt also im Rahmen dieser theoretischen Überlegungen gar keinen Effekt auf das Erlernen non-deklarative Gedächtnisinhalte in Bezug auf Regeln und Regelmäßigkeiten aus. Es sind die den Handlungen zu Grunde liegenden Regeln und Regelmäßigkeiten, die beeinflussen, welche non-deklarativen Gedächtnisinhalte erlernt werden. In diesem Fallbeispiel folgen sie einer Logik, die das Erlernen der Erfüllung der an die SchülerIn gestellten Erwartungen mittels einer Strategie des Antwortfindens ermöglicht. Meines Erachtens lässt sich dieses Beispiel auf andere Regeln und Regelmäßigkeiten wie Machtverhältnisse übertragen. Man könnte zwar anbringen, dass administrative Planung nur unter der Bedingung einen „Effekt“ hat, dass sie jene Strategien als Ziel benennt, die tatsächlich von SchülerInnen verfolgt werden. Die Vorstellung dass administrativ geplant wird, dass SchülerInnen die Vorstellung verinnerlichen sollen, dass die Lehrenden in einer Machtposition sind, und über ihre Zukunfts- und Lebenschancen entscheiden können, ist in Anbetracht der formulierten Lernziele paradox.

Die Annahme, dass das non-deklarative Gedächtnis nach Mechanismen funktioniert, die sich nicht grundsätzlich durch Planung ändern lassen, ist für die Beantwortung der Frage fruchtbarer. Hieraus lässt sich schließen, dass sich lediglich die Regelmäßigkeiten und Regeln ändern lassen, nicht aber die Tatsache, dass Menschen die der Situation zugrunde liegenden Regeln und Regelmäßigkeiten automatisch erlernen, inkorporieren oder wie Holzkamp sagen würde mitlernen. Es bleibt zu überprüfen, inwiefern sich das Erlernen der Strategie des Antwortfindens geändert hätte, wenn die Unterrichtssituation anderen Regeln und Regelmäßigkeiten gefolgt wäre, doch es lässt sich vermuten, dass die Schülerin in diesem Fall eine andere Strategie entwickelt hätte.

Aus dieser Argumentation ergibt sich, dass sich das Erlernen non-deklarativen Gedächtnisinhalte nur „verändern“ oder „beeinflussen“ lässt, wenn auch die gesellschaftlichen Regeln und Regelmäßigkeiten verändert werden.1 Hier zeigt sich das komplexe, sich gegenseitig bedingende Wechselspiel zwischen Körper und Gesellschaft.

Ich möchte mich an dieser Stelle auf eine Situation beziehen, die die Besonderheit aufweist, durch spezifische, nur auf diese Situation bezogene, festgelegte gesellschaftlichen Regeln und Regelmäßigkeiten charakterisiert zu sein. Das Planspiel Schule als Staat. Die Intention des Planspiels ist es die Demokratie, und mit ihr gesellschaftliche Regeln und Regelmäßigkeiten, als eine Lebensform, durch aktives Erleben bei den SchülerInnen zu verinnerlichen. Es kann theoretisch aufgrund der vorangegangen Argumentation behauptet werden, dass in diesem Prozess das Erlernen der Regeln und Regelmäßigkeiten, sprich der non-deklarativen Gedächtnisinhalte, von den gesellschaftlich konstruierten Regeln und Regelmäßigkeiten abhängt, die die PlanerInnen des Spiels oder im Übertragenden Sinne gedacht die Gesellschaft aufgestellt haben. Analog dazu wurden ja auch die Regeln und Regelmäßigkeiten des Wettervorhersagespiels konstruiert und von den PrabandInnen, ohne durchschaut zu werden, verinnerlicht. Man könnte sogar soweit gehen und überprüfen, dass das Gelingen eines solchen Planspiels als ein Ausdruck der verinnerlichten Regeln und Regelmäßigkeiten einer Gesellschaft verstanden werden kann. Eine solche Hypothese bleibt zu überprüfen und es ist zu bedenken, dass Forschung darüber berücksichtigt werden muss, in welcher Wechselwirkung das non-deklarative Gedächtnis mit den erlernten Regeln und Regelmäßigkeiten steht, wenn diese nur fiktiv von einer geschlossenen Gruppe in diesem Fall einer Schule „nachgespielt“ werden. Von dieser Überprüfung wird im Rahmen dieser Arbeit angesehen. Es ist anzunehmen, dass sich das Wechselspiel in einer solchen fiktiven Situation anders verhält, denn die im Laufe des Lebens verinnerlichten gesellschaftlichen Regeln und Regelmäßigkeiten werden durch einen kurzen Zeitraum nicht einfach ausgeschaltet.

7. Schluss

Einleitend wurde im Rahmen der Diskussion um das Verhältnis von Körper und Kultur gezeigt, dass das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten eine Komponente des non- deklarativen Gedächtnisses darstellt. Die Relevanz dieser zunächst naturwissenschaftlichen Feststellung für die Soziologie und die Bildungsforschung wurde verdeutlicht. Darauffolgend wurde gezeigt, dass sich Holzkamp in Bezug auf die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse nur auf Inhalte des deklarativen Gedächtnisses bezogen und die non-deklarativen Inhalte zunächst nicht ausgeführt hat. Im Folgenden Abschnitt wurde diese Lücke durch die Vorstellung einer Untersuchung eines Lerntagebuchs geschlossen. Auf Basis der sich aus dieser Analyse ergebenden Annahme, dass dem Lernprozess eine Strategie des Antwortfindens zugrunde liegt, konnte dieser Lernprozess als Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten identifiziert werden, der dem non-deklarativen Gedächtnis zuzuordnen ist.2 Im abschließenden, für diese Arbeit zentralen Teil, wurde Holzkamps These, dass die schuloffizielle Lehrlernplanung die eigenen sachbezogenen, expansiven Lernbemühungen der SchülerInnen systematisch behindere und störe auf das Erlernen von Regeln und Regelmäßigkeiten übertragen. Die theoretischen Überlegungen ergeben, dass der Gedanke, administrative Planung habe Effekte auf das non-deklarative Gedächtnis, sehr unfruchtbar ist, denn eine solche Kausalrichtung ist auf Basis der Funktionsweise des non-deklarativen Gedächtnisses nicht haltbar. Administrative Planung übt keinen Effekt auf das Erlernen non- deklarativer Gedächtnisinhalte aus, sondern die den Handlungen zu Grunde liegenden Regeln und Regelmäßigkeiten beeinflussen, was verinnerlicht beziehungsweise intuitiv abgespeichert wird.

Diese Arbeit knüpft an Kastl, Hirschauer und Hüther an und basiert auf der Annahme, dass sich einige Parallelen zwischen wissenssoziologischen Theorien und den jüngsten Ergebnissen der Gehirnforschung finden lassen, die der Soziologie nicht zu vernachlässigende Anknüpfungspunkte bietet. Sie erhebt keinen Anspruch darauf, die Wechselwirkungen zwischen Körper und Kultur durchdrungen zu haben. Wir wissen nur, dass wir sehr wenig über das Gehirn wissen. Des Weiteren lässt sich anmerken, dass noch zu überprüfen ist, ob sich die theoretischen Überlegungen, die anhand des Erlernens einer Strategie des Antwortfindens hergeleitet wurden, auf andere Regeln und Regelmäßigkeiten übertragen lassen. Es gilt außerdem zu überprüfen, in welchem Verhältnis das Entwickeln der Strategie des Antwortfindens zum Erlernen kognitiver Konzepte im Sinne komplexer gesellschaftlicher Regelstrukturen steht. Die bereits durch Haugg erwähnten Lust- und Machtverhältnissen, mit denen Unterwerfung, Integration, Widerstand und die Zu- oder Abnahme der Handlungsfähigkeit einhergehen, sowie Hierarchie- und Machtstrukturen stellen neben den anderen durch Kastl hervorgehobenen Bereichen des non-deklarativen Gedächtnisses wie Priming, Wahrnehmungslernen und das Erlernen von Klassifikationen und Typisierungen wichtige Untersuchungsgegenstände dar.

Literatur

Haugg, Frigga. 2003. Erinnerung an Lernen. Journal f ü r Psychologie 11:S. 194-213.

Hirschauer, Stefan. 2008. Körper macht Wissen - Für eine Somatisierung des Wissensbegriffs. In Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft f ü r Soziologie in Kassel 2006, Bd. 33, Hrsg. Karl-Siegbert Rehberg, und Dana Giesecke, 974-984. Frankfurt/Main: Campus Verlag.

Holzkamp, Klaus. 1992. Die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse. In Lernwiderspr ü che und p ä dagogisches Handeln. Bericht von der 6. Internationalen Ferien- Universit ä t Kritische Psychologie, 24. bis 29. Februar 1992 in Wien. Studienbibliothek der kritischen Psychologie, Bd. 10, Hrsg. Karl-Heinz Braun. Marburg: Arbeit und Gesellschaft. Holzkamp, Klaus. 1996. Wider den Lehr-Lern-Kurzschluß. Interview zum Thema >Lernen<. In Lebendiges Lernen. Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung, Bd. 5, Hrsg. Rolf Arnold, 29-38. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.

Hüther, Gerald. 2008. Gehirnforschung und Soziologie. Die Strukturierung des menschlichen Gehrins durch soziale Erfahrungen. In Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft f ü r Soziologie in Kassel 2006, Bd. 33, Hrsg. Karl- Siegbert Rehberg, und Dana Giesecke, 1315-1328. Frankfurt/Main: Campus Verlag.

Kastl, Jörg Michael. 2004. Habitus als non-deklaratives Gedächtnis - zur Relevanz der neuropsychologischen Amnesieforschung für die Soziologie. sozialer sinn 5:1-40 195-226.

Kastl, Jörg Michael. 2016. Inkarnierte Sozialität - Körper, Bewusstsein, non-deklaratives Gedächtnis. In Der Körper als soziales Ged ä chtnis. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen - Memory Studies, 1. Auflage, Hrsg. Michael Heinlein, Oliver Dimbath, Larissa Schindler, und Peter Wehling, 79-98. Wiesbaden: Springer VS.


1 Die Organisation der Gesellschaft und ebenso die Organisation des Unterrichts beruht auf einer Vielzahl an Regeln und Regelmäßigkeiten. Wie sich eine Veränderung dieser im Wechselspiel mit anderen Regeln und Regelmäßigkeiten verhält und ob es ggf. Regeln gibt, die eine zentralerer Rolle einnehmen als andere, bleibt offen.

2 Diese Annahme und die damit einhergehenden Konsequenzen für die Lernforschung bedürfen weiterer Prüfung mithilfe eines Dialogs zwischen Natur- und Verhaltenswissenschaften und der Soziologie.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Non-deklarative Gedächtnisformen aus soziologischer Perspektive
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Note
1,0
Autor
Jahr
2017
Seiten
15
Katalognummer
V378429
ISBN (eBook)
9783668554771
ISBN (Buch)
9783668554788
Dateigröße
501 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
non-deklaratives Gedächtnis, Körpergedächtnis, Schnittstelle Psychologie und Soziologie, Bildungsforschung, Lernen, verkörpertes Wissen, Können
Arbeit zitieren
Franziska Hecht (Autor:in), 2017, Non-deklarative Gedächtnisformen aus soziologischer Perspektive, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378429

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