Es muss was passieren, aber es darf sich nichts ändern. Eine theologische Beurteilung der Pastoralen Prioritäten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart


Diplomarbeit, 2005

107 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.“

1. Identität und Veränderung

2. Veränderung in systemtheoretischer Sicht

3. Struktur, Struktur

II. Der Prioritäten-prozess und sein Ergebnispapier „Zeichen setzen in der Zeit“

4. Die Diskussion über „Pastorale Prioritäten“
4.1 Idee und Ziel
4.2 Zeitplan und Durchführung
4.3 Priorität – Normalität – Posteriorität

5. „Zeichen setzen in der Zeit“
5.1 Aufbau und Inhalt des Papiers
5.2 Von „Wir geben unserer Hoffnung ein Gesicht“ zu „Zeichen setzen in der Zeit“

III. Die theologische Beurteilung

6. Die Theologie der Zeichen der Zeit

7. Evangelisierung: Schlüsselbegriff für die „Pastoralen Prioritäten“
7.1 Evangelisierung ist ein Grundbegriff der Pastoral
7.2 Der Evangelisierungsbegriff aus Evangelii nuntiandi
7.3 Ein Paradigmenwechsel
7.4 (Neu-)Evangelisierung durch „Pastorale Prioritäten“?

8. „Pastorale Prioritäten“ als „Option für“

9. Kirche und ihre Grundvollzüge
9.1 Grundvollzüge von Kirche in der Theorie ...
9.1.1 Grundvollzüge oder Ämter?
9.2.2 Zwei, drei oder vier Grundvollzüge? Drei Theorien
9.2 ... und in der Praxis

10. Pastoraler Erfolg – eine schwierige Kategorie

IV. Ist etwas passiert oder hat sich etwas geändert?

11. Das weitere Vorgehen: Die pastoralen Posterioritäten

12. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang
Anlage1: Zeitplan
Anlage 2: Arbeitshilfe
Anlage 3: Stellungnahmen
Anlage 4: Schaubild
Anlage 5: Zeichen setzen in der Zeit

Vorwort

Die Kirche in Deutschland steckt in einer ernsten Krise – so verkünden es zumindest die Pressemeldungen der vergangenen Monate und so ist auch die Stimmung innerhalb der Kirche treffend zu beschreiben.

Dabei steht nicht nur ihre schwindende Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit vielfach zur Debatte, auch finanzielle Probleme zwingen eine Diözese nach der anderen zu drastischen Einsparungsmaßnahmen. Vor dem Hintergrund von hohen Personalkosten, sinkenden Kirchensteuermitteln und oft jahrelanger Misswirtschaft scheint die Frage nach der Pastoral als der ureigenen Aufgabe von Kirche in der Welt sekundär. Die Kräfte der Ordinariate werden von Überlegungen zur wirtschaftlichen Lage der Kirche in Deutschland gebunden.

Auch in der Diözese Rottenburg-Stuttgart sehen sich die pastoralen wie verwaltungsrechtlichen Funktionsträger mit der Herausforderung einer „verantwortete[n] Zukunftsplanung“ konfrontiert, die es notwendig macht, „die künftigen Schwerpunkte festzulegen“ und Kriterien dafür aufzustellen, „was die Diözese (noch) leisten könne und was nicht“[1]. In dieser Formulierung schwingt implizit schon das Reflexivpronomen mit, welches die entsprechenden finanziellen Möglichkeiten beleuchtet: „[...] was die Diözese sich (noch) leisten könne und was nicht“. Um Klarheit in die ungewisse Planung zu bringen, wurde im Jahr 2000 ein diözesanweiter Prozess zur Findung „Pastoraler Prioritäten und Posterioritäten“ angestoßen.

Als Mitglied im 7. Diözesanrat der Diözese Rottenburg-Stuttgart hatte ich die Möglichkeit, diesen Prozess der Schwerpunktfindung mitzuerleben und mitzugestalten. Nachdem die operative Ebene mit den letzten Kürzungsbeschlüssen des Diözesanrats in seiner Sitzung vom 24./25. September 2004 verlassen ist und es in der Praxis nun um die Umsetzung aller Beschlüsse und Perspektiven geht, will ich das wichtigste Zwischenergebnis des Prozesses, das Papier „Zeichen setzen in der Zeit. Pastorale Prioritäten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart“ in theologischer Hinsicht untersuchen.

Welche impliziten und expliziten theologischen Aussagen das Papier trifft, welches Kirchenbild sich hinter einer solchen Art der Diskussion über die Zukunft von Ortskirche verbirgt, wie das Verhältnis von Verwaltung und Pastoral bestimmt wird und welche Implikationen sich aus dem Beschlusspapier ergeben, ist Thema dieser Arbeit.

Sie besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil, „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“, gehe ich auf die Frage nach Veränderung und Identität sowie auf systemtheoretische und strukturelle Überlegungen zum Thema ein. Der zweite Teil, „Der Prioritätenprozess und sein Ergebnispapier ‚Zeichen setzen in der Zeit’“, dient einer genaueren Beschreibung des Prozessverlaufs und einer eingehenden Untersuchung der Textbasis. Der dritte Teil, „Die theologische Beurteilung“, will Theoremen der Theologie auf den Grund gehen, die implizit oder explizit im Papier enthalten sind. Ausgehend von den „Zeichen der Zeit“ und der postulierten Grunddimension der Evangelisierung geht es um die Verbindung des Prozessergebnisses mit dem Modell der Grundvollzüge von Kirche und die Frage danach, inwiefern man im Kontext pastoralen Handelns von Erfolg reden kann. Im abschließenden vierten Kapitel, „Ist etwas passiert oder hat sich etwas geändert?“, stehen die sogenannten Posterioritäten der Pastoral im Mittelpunkt, bevor ich die Ergebnisse der Arbeit in einem Fazit zusammenfasse.

Der Schwerpunkt bei allen Überlegungen liegt dabei nicht auf organisationsmethodischen Aspekten. Das heißt, dass diese Arbeit weder eine qualifizierte Beschreibung und Bewertung des Prozessablaufs im Sinne einer Prozessanalyse, noch eine Projektbeschreibung im Sinne des Projektmanagements[2] leistet und auch nicht leisten will. Mir geht es vielmehr um die theologischen Implikationen des Prozesses und seines Ergebnisses bzw. seiner Ergebnisse. Dieser Tatsache trägt auch die nicht empirische Methode Rechnung: Ich stütze mich weder auf Gesprächsprotokolle aus diversen Diözesanratssitzungen noch auf den Vergleich von Organigrammen vor und nach dem Prozess, sondern gehe theoretisch vor, das heißt, ich betrachte die Theorie, die in der Praxis sichtbar wird.

Dennoch werde ich nicht umhin kommen, aus den Erfahrungen und Einschätzungen der Diözesanräte und deren Beratungen heraus zu argumentieren. Des Weiteren muss ich mich teilweise auch auf nicht veröffentlichte Quellen[3] beziehen. Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei Hr. Karl-Eugen Hagmann, der mir viele Hintergründe des Prioritäten- und Posterioritätenprozesses erläutert hat.

I. „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.“

1. Identität und Veränderung

Das paradoxe, Wolf Biermann zugeschriebene Diktum „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu“ muss – auch in kirchlichen Kreisen - bei allen möglichen passenden und weniger passenden Gelegenheiten zur Illustrierung der Notwendigkeit von Veränderungen herhalten.[4] Wer es mit dem Titel dieser Arbeit „Es muss was passieren, aber es darf sich nichts ändern“[5] in Beziehung setzt, erreicht die Meta-Ebene der Veränderung: Auf der einen Seite scheint Veränderung ein zu großer Einschnitt zu sein, als dass man sie willentlich herbeiführen wollte, auf der anderen Seite soll gerade in der Veränderung die Erhaltung der eigenen Identität liegen. Beides in eine Synthese zu bringen scheint eine geradezu unmögliche Aufgabe zu sein, der sich zu stellen keine triviale Entscheidung ist.

Jede Veränderung beinhaltet eine innere und äußere Lösung von bekannten Strukturen und Denkmustern und bedeutet damit Abschied vom Gewohnten. Eine Veränderung erfordert deshalb, wenn sie erfolgreich durchgeführt werden will, neben der nötigen Entschlossenheit vor allem Zeit und viel Fingerspitzengefühl. Wer Veränderungen anstrebt, braucht ein Ziel vor Augen, das nötigenfalls Halt gibt in der Phase, in der Halt vom Alten nicht mehr und vom Neuen noch nicht geleistet werden kann. Diese Funktion kann ein Ziel nur dann erfüllen, wenn es sehr konkret in der Formulierung sowie transparent in der Umsetzung ist und in einem zeitlich absehbaren Rahmen überprüfbar umgesetzt werden kann.

Veränderungen bieten auch Chancen. Diese positive Grundstimmung gründet sich in der Hoffnung, dass die Veränderung eine Verbesserung mit sich bringen wird. Auch für die Institution Kirche gilt diese Haltung, wenn sie sich der Notwendigkeit von Veränderung bewusst und verantwortet stellt. Sie plant und handelt dann aus einer doppelten Überzeugung heraus. Zum einen handelt es sich um die begründete Hoffnung, dass das Ergebnis der Veränderung besser sein wird als der Status quo, entweder weil es Theorie und Praxis des pastoralen Handelns theologisch reflektiert und dadurch verbessertt, oder weil es das pastorale Handeln trotz oder gerade wegen anderer Rahmenbedingungen ermöglicht. Dies ist der handlungsorientierte Aspekt. Zum anderen steht im Hintergrund von Planen und Handeln die Frage nach der eigenen Identität. Hier findet sich der systematisch-dogmatische Aspekt, wenn Kirche davon ausgeht, dass erst die Veränderung sie als veränderte zu neuer Identität finden lässt. Damit gehört die Veränderung konstitutiv zur Kirche dazu und ist die Bedingung dafür, dass Kirche sich je neu als Kirche in der Welt selber wahrnehmen kann und wahrgenommen wird.

Veränderungen und „Situationen des Umbruchs sind Krisenzeiten.“[6] Eine Krise ist im Wortsinn noch kein Anlass zur Besorgnis, sondern lediglich die Feststellung, an einem Entscheidungspunkt angekommen zu sein. Nun ist die Behauptung, die Kirche stecke in einer Krise, sicherlich fast so alt wie die Kirche selber.[7] Von daher scheint der Negativkonzentration auf die schwierige Lage der Kirche zu Beginn des dritten Jahrtausends und dem besorgten Blick auf schwindende Katholikenzahlen ein Hang zur Dramatisierung innezuwohnen – ein Zeichen von fehlendem Vertrauen in das erhaltende Handeln Gottes zu Gunsten seiner Kirche. Auf der anderen Seite steht außer Frage, dass Krisenzeiten einer engagiert wahrgenommenen Verantwortung bedürfen, um die Identität von Kirche angesichts ihrer und der Welt Veränderungen wahren zu können.

Eine „kritische“ Ausgangssituation für die Kirche bedeutet also nicht nur die Schwierigkeit der Lösungsfindung überhaupt, sondern verlangt sowohl von den Entscheidungsträgern in der Kirche als auch von allen Gläubigen, die gemeinsam Kirche sind, die Bereitschaft, außerhalb und jenseits der bekannten Strukturen zu denken. Alte Denkmuster können oftmals einer inhaltlichen Neuorientierung im Weg stehen. Natürlich ist die Grundidee von Kirche kein neu zu definierender Inhalt: Die Kirche hat als Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes in der Welt[8] einen über sich hinausweisenden Charakter, den sie sich nicht selber geben kann, sondern der ihr geschenkt und aufgegeben ist. Dennoch beinhaltet diese Aufgabe auch die je neue inhaltliche Ausgestaltung ihres Daseins als Zeichen der Gegenwart Gottes in der Welt – nicht, weil sich die Gegenwart Gottes ändert, sondern weil sich die Welt ändert, in der seine Liebe durch die Kirche sichtbar werden soll.

Deshalb ist die Kirche geradezu darauf angewiesen, die veränderte Gesellschaft in der Realisierung ihrer eigenen Identität in dieser Gesellschaft zu berücksichtigen. Diese Überlegung konzentriert sich in dem Schlagwort des mit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zu Ende gegangenen Milieukatholizismus.[9] Michael Hochschild warnt jedoch davor, diesem „goldenen Zeitalter“[10] – wobei er diesen Begriff nicht in einem pejorativen Sinn verstanden wissen will, sondern positiv als Verankerung kirchlichen Lebens in Kultur und Gesellschaft als „Erfahrung großer innerer Homogenität der Kirche“[11] – in der Haltung von rückwärts gewandtem „Heimweh“ nachzutrauern, die zum „Wiederholungszwang des Erfolgs vergangener Tage“[12] führt. Das Resultat einer solchen Vergangenheitszuwendung kann mit Blick auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen und der Tatsache, dass Kirche infolgedessen heute eben nicht mehr so „funktioniert“ wie früher, nur eine persönliche und strukturelle Überforderung sein, die sich daran abrackert, den ehemaligen Status quo voller Kirchen und selbstverständlicher Verbindung von Alltag und Kirche zu erhalten. Vielmehr ist die Kirche auf Grund des als schmerzlich empfundenen Verlusts dazu herausgefordert,

„angesichts ihrer historisch gewachsenen Überforderungen zunächst einmal optimal [zu] versagen, nämlich in ihrem Strukturverfall die sich eröffnenden Gestaltungsspielräume zur Förderung ihrer Zukunftsfähigkeit [zu] nutzen“[13].

Veränderungen „passieren“ nicht einfach von heute auf morgen, sondern bedürfen der aktiven Gestaltung. Es ist die genuine Aufgabe der Praktischen Theologie, die Prozesse der Veränderung in der Kirche nicht nur zu begleiten, sondern auch vorauszudenken und im Wortsinn zu reflektieren. Eine verantwortete Begleitung von Veränderung findet nur statt, „wenn man nicht nur an den letzten Schritt [...] denkt, sondern wenn auch schon die Schritte des Sichtens und Beurteilens einer Situation als der Hintergrund eines neuen Handelns mitbedacht werden.“[14] Zu diesem Sichten und Beurteilen gehört wesentlich die Fragestellung nach den gesellschaftlichen Bedingungen für Veränderung und Identität von Kirche dazu!

Eine bewährte Praxis ändert sich selten ohne den triftigen Grund der Notwendigkeit ihrer Veränderung. Josef Hochstaffl referiert in diesem Zusammenhang das sogenannte „Regelkreismodell“ von Rolf Zerfass.[15] Auf der Grundlage der bestehenden Praxis, der geltenden Überlieferung (also der Orientierung am Handeln Jesu sowie der Tradition der Kirche) und der erhobenen Situation wird diskursiv eine neue Praxis entwickelt, die der Relevanz der identitätsstiftenden Elemente der Überlieferung Rechnung tragen muss. Ein ähnlicher Gedankengang findet sich bei O. Fuchs, wenn er sagt:

„Vor allem wenn man unter Druck gerät, um mit den Veränderungen zurecht zu kommen, favorisiert man dabei gerne (und zum Teil durchaus mit Recht) das Paradigma der „Theologie im Nachhinein“ und vergisst darüber, dass es auch eine Theologie im Vorhinein gibt, die vorgegeben ist und die Praxis zu bestimmen hat.“[16]

Dabei ist es durchaus möglich, dass Inhalte einer Theologie im Nachhinein zu solchen einer Theologie im Vorhinein werden. Ein Beispiel dafür sind die Aussagen der Kirchenkonstitution Lumen Gentium und der Pastoralkonstitution Gaudium et spes: Die Kirche kann theologisch nicht mehr hinter die Feststellung zurück, dass die empirisch fassbare, irdische Kirche nicht identisch ist mit der „mit himmlischen Gaben beschenkten Kirche“[17], was durch die ständige Aufgegebenheit und Änderungsnotwendigkeit der Kirche grundgelegt ist. Ein ebenso unhintergehbares Grunddatum ist, dass die Kirche sich „mit der Menschheit und ihrer Geschichte engstens verbunden“[18] erlebt.

Kirchliche Identität wird hier auf der Grundlage der „Zeichen der Zeit“ neu gedeutet und bleibt gleichzeitig dadurch bestehen, dass sie Grundlage neuer und erneuerter kirchlicher Praxis ist.

Die Kirche ist in ihrer Verantwortung für die Menschen in ihren je eigenen Lebensumständen dazu aufgerufen, mögliche und nötige - das heißt die Not wendende (!) - Ansatzpunkte für Veränderung wahrzunehmen und Modelle für deren Durchsetzung zu suchen. Sie wird darauf durch innere und äußere Gegebenheiten hingewiesen, auf die sie – je neu – reagieren muss, um sich, frei nach Biermann, in ihrer Zeit und Gegenwart treu zu bleiben. Dabei steht sie vor der doppelten Herausforderung, ihrem Selbstverständnis in und nach der Veränderung treu zu bleiben – nämlich mehr zu sein als ein reiner Verwaltungsapparat: Zeichen und Werkzeug der Liebe Gottes in der Welt.

2. Veränderung in systemtheoretischer Sicht

Kirche als strukturierte Gemeinschaft vieler Einzelner ist „mehr“ als die Summe ihrer Subjekte.[19] Dieses „Mehr“ kann unter verschiedenen Gesichtspunkten gesehen und gedeutet werden. In dogmatischer Hinsicht verstehe ich darunter vor allem die pneumatologische und eschatologische Dimension von Kirche, die von der Heilsgegenwart Gottes, in der sie gegründet ist und aus der heraus sie lebt, überzeugt ist und aus dieser Überzeugung heraus ihren Auftrag zu erfüllen versucht, Zeichen und Werkzeug dieser Liebe Gottes zu sein. Dabei bleibt sie sich auch ihrer Vorläufigkeit und Begrenztheit bewusst, deren letztgültige Vollendung durch Gott selber noch aussteht und ihr als Hoffnung geschenkt ist.

Man kann dieses „Mehr“ auch in eine institutionelle und organisationstheoretische Kategorie einordnen, die sich vor allem mit dem Verhältnis von Einzelperson und Kollektiv beschäftigt und der Frage danach, wie sich Kirche institutionell organisiert, um das Handeln einzelner und das Handeln der Institution in Verbindung miteinander zu bringen.

In diesem Sinne stellt die Rede vom „Mehr-Sein“ der Kirche auch einen Anschlusspunkt an die Systemtheorie dar, den Ottmar Fuchs für den Bereich der Theologie im allgemeinen und der Praktischen Theologie im besonderen bisher zu wenig reflektiert sieht.[20] Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, um alle Argumente für und wider die Beschäftigung der Theologie mit der Systemtheorie und ihrem Hauptvertreter, Niklas Luhmann, zu diskutieren.[21] Ich weise daher an dieser Stelle nur auf die wichtigsten Grundlagen der Systemtheorie hin:

Grundlegender Ausgangspunkt für die Überlegungen Luhmanns ist die Welt, innerhalb derer sich das System der Gesellschaft funktional ausdifferenziert, das heißt, es bilden sich Subsysteme, die die Komplexität der Umwelt auf ihre je spezifische Weise reduzieren, um damit eine Stabilisierung des Gesamtsystems zu erreichen. Das Kriterium, auf dessen Grundlage ein System Informationen zur Komplexitätsreduktion filtert, heißt „Sinn“. Solche Subsysteme haben allesamt eine Funktion für die Gesellschaft. Die Funktion der Religion ist für Luhmann „Kontingenzbewältigung“, worunter er folgendes versteht: Kontingenz meint die grundsätzliche Möglichkeit des Andersseins. Die Funktion der Religion ist es, dieser Kontingenz, die die innere Stabilität des Systems gefährdet, mit sogenannten „Kontingenzformeln“ wie etwa „Gottes Wille“ oder „Gnade“ zu begegnen.[22]

Die Bezeichnung „System“ ist nicht auf gesellschaftliche Phänomene beschränkt; auch Personen können unter dieser Kategorie beschrieben werden, „wobei die Grundoperation des personalen Systems das Bewusstsein und des sozialen Systems die Kommunikation ist.“[23] Dem Begriff des Systems wird der der Umwelt gegenübergestellt: „Die Umwelt eines Systems ist alles, was durch das System ausgegrenzt wird, also nicht zu ihm gehört.“[24]

Die Kirche nimmt im Rahmen des Systems Religion die Stelle der „Organisationsform“ ein, „innerhalb der das Teilsystem der Religion seine Funktion erbringt.“[25]

Zwischen System und Umwelt sowie zwischen Systemen selber bestehen Wechselwirkungen, die das System dazu nutzt, sich von der Umwelt oder anderen Systemen einerseits abzugrenzen, andererseits aber auch deren Impulse für den eigenen Selbstbezug fruchtbar zu machen. Ein System bildet sich daher immer wieder selber neu, mit Luhmann: Es ist autopoietisch. Das heißt in der Konsequenz, dass es sich jeglicher Steuerung von „außen“, also von Seiten der Umwelt oder auch eines anderen Systems entzieht. Für das Verhältnis von personalen und sozialen Systemen bedeutet dies, dass das Bewusstsein der einzelnen Person niemals die Kommunikation der sozialen Umgebung bestimmen kann und umgekehrt die Kommunikation des sozialen Systems nicht das Bewusstsein des Einzelnen lenken kann. Luhmann:

„Autopoietische Systeme sind geschlossene Systeme insofern, als sie das, was sie als Einheit ihrer eigenen Reproduktion verwenden (also: ihre Elemente, ihre Prozesse, sich selbst) nicht aus der Umwelt beziehen können. Sie sind gleichwohl offene Systeme insofern, als sie diese Selbstreproduktion nur in einer Umwelt, nur in Differenz zu einer Umwelt vollziehen können.“[26]

Wenn man die Kirche in dieses Koordinatensystem der systemtheoretischen Betrachtung einordnen will, muss man sich zuerst darüber klar werden, dass auch innerhalb der Kirche als Organisationsform des Systems Religion verschiedene Teilsysteme zu identifizieren sind. Neben den vielen einzelnen Personen bildet beispielsweise auch das Gremium des Diözesanrates ein eigenes System, genau wie die Bistumsleitung im Bischöflichen Ordinariat oder verschiedene Zusammenschlüsse von Personen in Verbänden und Gemeinschaften, nicht zu vergessen jede einzelne Kirchengemeinde.

Die „Geschlossenheit“ dieser Subsysteme bedeutet auf unseren Kontext übertragen, dass die Praxis einer Einzelperson oder eines Verbandes auf ihre je eigene autopoietische Kraft angewiesen ist, um diesem Handeln „Sinn“ zu verleihen. Für das handelnde Individuum kann das die systemtheoretische Beschreibung dafür sein, dass es sich der Beweggründe und Hintergründe seines Handelns selbst bewusst sein muss, um authentisch zu sein. Für eine Kirchengemeinde kann es bedeuten, dass ihr kollektives Handeln selbstreferentiell, das heißt, sich aus dem allgemeinen Auftrag kirchlichen Handelns und dem speziellen Auftrag der Gemeinde als Kirche vor Ort speisend, und unabhängig von der Situation außerhalb dieses Systems Kirchengemeinde erfolgt.

Dennoch kommt keine Person und keine Kirchengemeinde umhin, ihr Handeln in den Horizont der sie umgebenden Umwelt zu stellen. An den Berührungspunkten zwischen System und Umwelt eröffnet sich das Potential einer kritischen Infragestellung und Weiterführung der eigenen Praxis. Diese Offenheit äußert sich etwa in den sozio-ökonomischen oder geographischen Anforderungen der Umwelt an eine Kirchengemeinde. Wenn diese sich im unmittelbaren Nebeneinander zu sozialen Brennpunkten befindet, stellen diese einen Irritationsfaktor dar, den zu übersehen die Identität dieser Gemeinde schwächen würde. Denn der Vollzug ihres eigenen Handelns unter diakonischem Anspruch ist nicht unabhängig von der konkreten Situation des Außens ihrer selbst durchführbar. Dabei kann die Gemeinde aufgrund ihrer eigenen komplexen Struktur nicht von ihrer Umwelt dirigiert werden, vielmehr nimmt diese nur eine hinweisende und korrigierende Funktion für den gemeindlichen Selbstvollzug dar.

Ähnliches gilt für eine Bistumsleitung, deren Handeln zuerst einmal auf sich selber rekurriert: Auf die Verwirklichung des Leitungsauftrages einer Diözese. Im Fall der im Rahmen dieser Arbeit näher betrachteten Situation fungiert das System der Geldwirtschaft als Korrektiv dieses Handelns. Doch auch hier gilt: Dieses andere System als das eigene kann nicht die Steuerung übernehmen, sondern lediglich Anstoß von außen sein, in dessen Horizont das Handeln neu orientiert werden muss, um die eigene Identität wahren zu können.[27]

Die Identitätswahrung eines Systems ist also nicht nur auf die perpetuierte eigene Handlung angewiesen, sondern auch und gerade auf die Signale und Informationen, die von anderen Systemen, seien es personale oder soziale, an es herangetragen werden. Theologisch gewendet interpretiert Ottmar Fuchs:

„Wenn die Systemtheorie klärt, dass die Überlebensfähigkeit von Organisationen an der Wahrnehmung „schwacher Signale“ hängt, um von daher Kriseninterventionen zu inszenieren, dann kann von diesem Vorgang her präziser erfasst werden, was im II. Vatikanum mit der Erkenntnis der „Zeichen der Zeit“ gemeint ist.“[28]

Michael Schüssler führt diesen Gedankengang weiter, indem er systemtheoretische Grundsätze mit Überlegungen zum Thema Prophetie zusammenbringt.[29] Er stellt fest, dass der prophetische Protest genau darauf angewiesen ist, dass sich durch diese Praxis eines Einzelnen – denn meist handelt es sich bei Propheten um Einzelne – das System, gegen welches sich der Protest richtet, davon irritieren und stören lassen muss. Es reicht nicht, wenn dieser Einzelne allein eine neue Praxis des eigenen Handelns installiert:

„Nachhaltige Veränderungen sind [...] nur möglich, wenn auch die Struktur des betreffenden Systems an einer Orientierung ausgerichtet ist, die Raum lässt für das, was Christinnen und Christen in einer bestimmten Situation „prophetisch“ bezeichnen.“[30]

In diesem Sinn ist auch der Titel dieser Arbeit anschlussfähig für systemtheoretische Überlegungen: Die prophetische Aufforderung, es müsse „etwas passieren“ findet ihre reale Entsprechung nur in einer veränderten Praxis. Dieser Aufforderung steht die reaktionäre Implikation, es dürfe sich aber „nichts ändern“, entgegen, die letztlich sogar ein tieferes Verständnis der eigenen Identität verhindern kann.

Um jedem Missverständnis an dieser Stelle vorzubeugen: Es geht nicht darum, dass das System Kirche durch die Reaktion auf alles, was – im Sinne des Charismas der Prophetie oder in anderer Hinsicht – an sie herangetragen wird, das Bewusstsein für ihre eigenen autopoietischen Kräfte zur Gestaltung von Veränderung verliert.[31] Ein solches Verständnis verbietet sich schon allein durch die Überzeugung der angebrochenen Heilsgegenwart Gottes in der geschichtlich verfassten Kirche. Aber sie ist dazu aufgefordert, ihr eigenes Handeln mit der Praxis und Entwicklung anderer (personaler und sozialer) Systeme zu „synchronisieren“, das heißt zu „vergleichzeitigen“ und eben nicht unreflektiert sich daran anzupassen.[32]

3. Struktur, Struktur

Die Frage nach der angemessenen Struktur für die Umsetzung ihrer inhaltlichen Grundausrichtung ist eine wichtige Aufgabe der Kirche in der Welt. In den letzten Jahren hat sie sich dabei vermehrt auch auf den Dialog mit anderen Gesellschaftsbereichen eingelassen, die aufgrund ihres institutionellen Charakters ebenso wie die Kirche selber vor dem Problem stehen, einen bestimmten Inhalt strukturell umsetzen zu müssen.[33]

Dementsprechend stammt ein Grundsatz, der mir für die Art und Weise dieser Umsetzung auch für die Kirche fruchtbar erscheint, aus der Betriebswirtschaftslehre. Dieter Chandler hat 1962 für die strategische Planung in Unternehmen das Prinzip „structure follows strategy“ aufgestellt. Dieses Prinzip geht davon aus, dass das wichtigste Moment im Rahmen einer verantworteten Planung die Bestimmung des Ziels, der Leitperspektive, ist und nicht die Frage danach, wie man zu diesem Ziel gelangt. Auf die Situation der Institution Kirche übertragen heißt das, dass sich Kirche immer über das Ziel und damit den Grund ihres Daseins in und für die Welt – mit Chandler: ihrer „strategy“ - bewusst sein muss, wenn sie sich so in dieser Welt einrichten will – mit Chandler so ihre „structure“ wählt -, dass sie auf bestmögliche Weise ihrem Auftrag gerecht werden kann.

Eine solche Leitperspektive sieht Zeno Cavigelli-Enderlin in der Kategorie der „Koinonia“ gegeben, die „eine mögliche Kriteriologie für alles, was Kirche tut, [bietet], also auch für ihre Sozialformen, Ämter und Einrichtungen“[34]. Koinonia ist in diesem Verständnis der Raum, innerhalb dessen sich neben der pastoralen Praxis auch die strukturelle Situierung von Kirche ereignet. Dezidiert weist Cavigelli-Enderlin darauf hin, dass sich dieser Raum der Verbindung von Menschen- und Gottesliebe verdankt. Diese Gratuität entbindet die Kirche jedoch nicht von der Anstrengung, „nach den legitimen Mitteln [zu suchen], den kommunizierenden Gott in weltlichen Strukturen sichtbar zu machen“[35]. Diese Suche wird vor allem dann für die Kirche wichtig, wenn es darum geht, Veränderungsprozesse verantwortet und verantwortlich zu gestalten, damit die entsprechenden Strukturen der Umsetzung dem Leitziel, der Strategie, nicht widersprechen.[36]

Nun wird die Struktur von Kirche von verschiedenen Seiten her bestimmt. Ein Großteil ihrer Bestimmung leitet sich aus ihrem Gegründetsein in der Heilswirklichkeit Gottes ab. Andere Bestimmungen sind weniger substantiell und mehr dem Bereich der Gesellschaft und deren Implikationen für mögliche und/oder nötige Veränderungen zugeordnet. Daneben gibt es, wie bereits ausgeführt, systemtheoretische Überlegungen, die Kirche in ihrem Dasein bestimmen. Einer der häufigsten Anlässe für den Veränderungsbedarf der Struktur von Kirche in den letzten Jahren ist ein sehr profaner: Geldmangel.

Das Ziel einer derart motivierten Veränderung ist klar. Nur, wenn sich die Kirche beziehungsweise ihre Struktur ändert, kann sie ihrem Auftrag nach wie vor gerecht werden. Ressourcen – finanzielle wie personelle – müssen anders verteilt und Aufgabengebiete anders gewichtet werden. Und trotz allem soll die Kernaufgabe der Kirche, die Nähe zum Menschen, die Pastoral und Seelsorge, erhalten, wenn nicht sogar ausgebaut werden.

Die Quadratur des Kreises?

Zu den impliziten Herausforderungen und Schwierigkeiten von Veränderungsprozessen kommt ein weiterer Aspekt hinzu. Ottmar Fuchs beschreibt ihn folgendermaßen:

„In Krisen und Umbruchzeiten wächst in der Kirche die Versuchung, das Weiterfunktionieren von Institutionen wichtiger zu nehmen als die Inhalte, mehr sich selbst zu verwalten als ihre eigene Identität, die Wirkung von Strategien ernster zu nehmen als ihre inhaltliche Kritik und Orientierung.“[37]

Dies gilt auch und besonders im Bereich der finanziellen Verwaltung von Kirche, die oft genug weit entfernt ist von den Bedürfnissen und Erfordernissen der Pastoral vor Ort![38]

Die finanzielle Verwaltungsstruktur der Diözese Rottenburg-Stuttgart lässt durch die Besonderheit des sogenannten „Rottenburger Modells“ eine direkte Anlehnung an die Leitstrategie der Koinonia erkennen. Diese Besonderheit besteht darin, dass der Diözesanrat kein reiner (Laien-)Pastoralrat ist, der sich nur mit der pastoralen Situation in Gemeinden und Verbänden auseinandersetzt, sondern auch das Haushaltsrecht über die zur Verfügung stehenden Vermögensmittel der Diözese hat. Damit werden inhaltliche Gestaltung und Ressourcenverwaltung eng nebeneinander geführt, was auch ihrer inneren Logik entspricht: Keine Pastoral kann unabhängig von ihrer realen Verwirklichungschance betrieben, keine Finanzentscheidung unabhängig von den pastoralen Bedürfnissen getroffen werden.

In der Verantwortung der gewählten Vertreter aus Dekanaten und Verbänden – Laien und Kleriker -, zusammen mit der Diözesanleitung und dem Bischof wird die gemeinsame Teilhabe am Auftrag zur inneren und äußeren Einheit deutlich. Dabei bleibt das Gremium als solches auf das Vertrauen gegenüber der Verwaltung und ihren Fachleuten gegenüber angewiesen. So entgeht der Einzelne in diesem Gremium einer unleistbaren Überforderung hinsichtlich seiner Kompetenzen und zeitlichen Ressourcen, was jedoch der kollektiven Kompetenz in Bezug auf entsprechende Haushaltsbeschlüsse keinen Abbruch tut. Im Gegenteil: Durch die gemeinschaftlich wahrgenommene Verantwortung stellt sich der Diözesanrat seinem Auftrag, pastorale und finanzielle Grundentscheidungen für die Zukunft der Diözese zu treffen. Gemeinsam wird so am Einheitsdienst der Koinonia gearbeitet.

Unter managementtheoretischer Perspektive ist das Rottenburger Modell als Beispiel dafür zu sehen, wie Strategiefindung dezentral aufgebaut sein kann. Insbesondere hinsichtlich eines Veränderungsprozesses aufgrund von finanziellen Gegebenheiten zahlt sich diese Dezentralität gegenüber einer zentralen Alleinentscheidungsinstanz aus. Selbstverständlich bleibt der Bischof auch innerhalb des Rottenburger Modells autonom und kann jederzeit von seinem Vetorecht Gebrauch machen. Der Diözesanrat hat jedoch das Recht, darüber informiert zu werden, und die Pflicht, seine Beratungsfunktion wahrzunehmen. Dieses Vorgehen stärkt das Bewusstsein der Gemeinden und Verbände für die eigene Bedeutung hinsichtlich der Zukunft und Einheit der Diözese. Außerdem kann damit einer Kluft zwischen Pastoral und Verwaltung begegnet werden, die davon ausgeht, dass der jeweils andere Bereich nichts von der eigenen Praxis weiß, und damit einen Zirkelschluss provoziert, der letztlich nur schwer wieder aufzubrechen ist.

Aus diesem Grund plädiert Karl Gabriel in seiner Stellungnahme zum Prioritätenprozess für ein ausgewogenes Verhältnis von „territorialer Struktur einerseits und funktionalen bzw. kategorialen Strukturelementen andererseits“[39]. Im Sinne der Koinonia ist dieses Nebeneinander und Miteinander von Gemeinden und Verbänden und ihren jeweiligen Kompetenzen wichtig und nötig, um Planungsprozesse zu vollziehen und Veränderungen zu erreichen. Veränderungen, die in der gemeinsamen Sorge um und im Geiste der Koinonia durchdacht, geplant, geprüft und durchgeführt werden, können so zu einem tieferen Verständnis dieser gemeinschaftlichen Identität der Koinonia führen. Bernd Jochen Hilberath nennt dies in einem anderen Kontext das Zusammenführen von Ekklesiologie und Ekklesiopraxis[40]: Theorie und Praxis kirchlichen Handelns gehen damit nicht ineinander auf, beziehen sich aber aufeinander und ergänzen sich, so dass damit auch die oben erwähnte Gefahr der einseitigen Sorge um die eigene Institution zwar nicht inexistent, aber doch abgemildert wird.

Mit diesen Überlegungen zu einigen Rahmendaten in Sachen Veränderung im Hintergrund wende ich mich im Folgenden der Betrachtung des eigentlichen Prozesses zu.

II. Der Prioritäten-prozess und sein Ergebnispapier „Zeichen setzen in der Zeit“

4. Die Diskussion über „Pastorale Prioritäten“

4.1 Idee und Ziel

„In Zeiten nachhaltiger Veränderungen ist es gut und notwendig, sich den Umbrüchen nicht passiv auszuliefern, sondern sie überlegt und mutig zu gestalten. Die christliche Botschaft gibt uns dafür die unverzichtbare Orientierung. Sie bewirkt zugleich in den Glaubenden Hoffnung, die Kraft gibt zuversichtlich zu handeln.“[41]

Die Diözese Rottenburg-Stuttgart hat sich mit einem breit angelegten Prozess zur Findung von „Pastoralen Prioritäten“ auf die Herausforderung der Veränderung eingelassen. Der Prozess erhebt den Anspruch, gerade nicht Besitzstandswahrung unter veränderten Bedingungen – und damit letztlich Zementierung des Ist-Zustandes und die apriorische Ausschließung jeglicher Veränderungsmöglichkeit - zu proklamieren, sondern neben dem äußeren Movens des Sparzwangs auch die inneren Antriebsmotive für die Veränderung zu berücksichtigen. Diese werden in der Kirchenkonstitution Lumen Gentium grundgelegt in der Tatsache, dass die Kirche „zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig“ ist und „immer den Weg der Buße und Erneuerung“ beschreiten muss.[42] Die Deutung dieser Aussage durch Hans Küng hat in der Folge Schlagwortcharakter bekommen: „Ecclesia semper reformanda![43]. Der Impetus zur Veränderung liegt im Wesen der Kirche selber begründet und findet seine dogmatische Fundierung durch die Texte des II. Vatikanums. Die Art und Weise der Veränderung ist nach Küng auf zweifache Art und Weise möglich, zum einen im negativen Sinn, als „Abstellung von Verformungen“, zum anderen im positiven Sinn als „Neuausformung“.[44]

Methodisch wirkt sich die doppelte Motivation (der Sparzwang und die ontologische Grundlegung im Wesen der Kirche selber) zur Veränderung in einer – zumindest eingeforderten – Trennung von inhaltlicher Beratung und Maßnahmen zur Konsolidierung des Haushalts aus.[45] Der anstoßgebende Antrag für die Prioritätendiskussion, den die AKO[46] in der Diözesanratssitzung vom 1./2. Dezember 2000 stellte, macht dies deutlich. In der Begründung des Antrags heißt es: „Bischof Dr. Gebhard Fürst hat in der Diözesanratssitzung im Oktober 2000 die Bedeutung der Räte unterstrichen und verdeutlicht, dass er auf eine Beratung der Gremien Wert legt. Zwar hat der Diözesanrat 1998 Voten für Bereiche beschlossen, die von den Sparvorgaben auszunehmen sind, bis heute erfolgte aber keine Beratung über Schwerpunktsetzungen.“ Hier wird zwar auf bereits beschlossene Reduzierungsmaßnahmen verwiesen, aber das Gewicht liegt deutlich auf der dringenden Notwendigkeit, unabhängig von diesen Maßnahmen eine Diskussion zur Findung von Prioritäten der pastoralen Arbeit zu beginnen.

Die Grundlage für jegliche Überlegung stellt also nicht der zu verteilende Mitteltopf, sondern die christliche Botschaft dar, die damit auch das Kriterium für die Ergebnisse setzt: Wenn es darum geht, was Priorität hat, ist diese Priorität an der Botschaft Jesu Christi zu orientieren. Damit sind jeglicher Zweckrationalismus und das Schielen auf reine Effizienzsteigerung von vornherein aus diesem Prozess ausgeschlossen. Gefordert wird vielmehr ein aktives Gestalten von Kirche in ihrer jeweiligen Situation, und dies darf und muss natürlich auch mit den Mitteln von Effektivität und Effizienz geschehen. Im Fall der Prioritätendiskussion wird in diesem Rahmen die Frage danach in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt, was „wirklich wichtig“ ist, wenn es um Kirche und ihren Selbstvollzug in der Welt geht. Damit ist auch der Rahmen für die Möglichkeit der Identitätswahrung von Kirche gegeben: Wenn sie sich in jedem Fall an Botschaft und Auftrag Christi messen lassen kann, verweist sie dadurch auch immer auf die Instanz, die ihre Identität gewährleistet. Diese kann sie nicht selber herstellen, sondern sie ist ihr geschenkt und aufgegeben.

Nun ist die Erkenntnis der Notwendigkeit, darüber diskutieren zu müssen, was wichtig ist, auch in Kirchenkreisen nicht neu. Für diese Frage werden nicht selten im kirchlichen Kontext in letzter Zeit Anleihen bei der Betriebswirtschaftslehre gemacht.[47] Auch die Tatsache, dass diese Diskussion durch den externen Anstoß des drohenden Geldmangels angeregt oder doch zumindest veranlasst wird, ist nicht neu.[48] Neu ist in diesem Zusammenhang vielmehr der Modus der Diskussion in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Weder wird den Kirchenökonomen aufgrund ihrer Finanzgewalt implizite Entscheidungsgewalt über inhaltliche Veränderung zugestanden[49] noch beschränkt sich der Diskurs auf interne Fachgespräche von Theologinnen und Theologen allein. Des Weiteren wird die Möglichkeit, eine externe Beratungsfirma für Prozessgestaltung und –begleitung heranzuziehen, ausgeschlossen. Die Idee des Prozesses besteht vielmehr darin, im Rahmen einer Konsultation und des konstruktiven Dialogs zwischen Bischöflichem Ordinariat (BO), den Räten der Diözese (Priesterrat und Diözesanrat) und vor allem den Kirchengemeinden und Verbänden vor Ort gemeinsam die Prioritäten der Pastoral in der Diözese festzulegen.

Diese enge Zusammenarbeit von BO und den Räten, die sich nicht auf die Beschäftigung mit Einzelfragen beschränkt, sondern das „strategische Ganze“ in den Blick nimmt, kann durchaus als Novum bezeichnet werden. Im kollegialen Miteinander übernimmt das Ordinariat mit dem entsprechenden Fachpersonal die Aufgabe, Einzelfragen zu klären und Realisierungsmodelle zu entwerfen, wohingegen die Räte als Anwälte des Gesamtprozesses dafür verantwortlich sind, dass die Frage nach der Pastoral als der leitenden Perspektive im Mittelpunkt der Überlegungen stehen bleibt.

[...]


[1] Vgl. Pastorale Prioritätendiskussion der Diözese Rottenburg Stuttgart. Arbeitshilfe für die Konsultation von April bis Juli 2003, 2; im Folgenden zitiert als: Arbeitshilfe. Vgl. Anlage 2.

[2] Diese Aufgabe wird vor allem durch die Dokumentation der Konsultation im Abschlussbericht zum Prozessverlauf von Dr. Klaus Kießling und Jochen Sautermeister geleistet, die das Bischöfliche Ordinariat herausgegeben hat und auf die ich an dieser Stelle zum besseren Verständnis des Prozessablaufs verweise.

[3] Dabei handelt es sich hauptsächlich um Präsentationen zur Zusammenfassung von Zwischenergebnissen bei diversen Sitzungen des Diözesanrats. Teilweise beziehe ich mich auch auf Äußerungen des Bischofs, der Diözesanräte und Prozessbegleiter. Die Konsultationsvorlage, das heißt die erste Textversion von dem späteren Ergebnispapier „Zeichen setzen in der Zeit“, die Stellungnahmen von vier Professoren dazu sowie das Ergebnispapier selber lege ich den Belegexemplaren für die Gutachter und die Fakultät bei (vgl. Anhang).

[4] Vgl. unter anderem H. Haag, Nur wer sich ändert. Herbert Haag plädiert in dieser Monographie für die Aufstellung einer Verfassung der Kirche und tut dies mit dem Verweis auf die Zeitlosigkeit der jesuanischen Botschaft, die sich in je neu gegebenen Umständen kontextualisieren muss, um verwirklicht zu werden. In dieser Veränderung sieht H. Haag die Treue zum Evangelium gegeben.

[5] Laut dem Artikel von H. Heinz in der Herder Korrespondenz „Gut beraten? Synodale Prozesse in deutschen Diözesen“ ist dieser Ausspruch im Rahmen eines Diözesanforums der Erzdiözese Freiburg gefallen. Vgl. H. Heinz, Gut beraten?, 304.

[6] B.J. Hilberath, B. Nitsche (Hgg.), Ist Kirche planbar?, 10.

[7] Vgl. M. Hochschild, Schwelle, 21f. Hochschild verweist hier beispielhaft auf Krisensituationen des Christentums im Zeitalter der Aufklärung. Solche Verweise ließen sich in die Vergangenheit fortsetzen: Die Geschichte des Christentums beginnt nicht erst mit seiner Krise in der Mitte des 20. Jahrhunderts! Es sei an dieser Stelle an das Ringen der ersten Jahrhunderte erinnert oder an das Zeitalter der Reformation. Auch hier hat sich die Kirche Krisensituationen konstruktiv stellen müssen!

[8] Vgl. LG 1.

[9] Vgl. M. Hochschild, Schwelle, 16-30.

[10] Vgl. M. Hochschild, Schwelle, 21.

[11] M. Hochschild, Schwelle, 23. Dabei versäumt er nicht eine kritische Betrachtung der Implikationen dieser Gestalt von Kirche.

[12] M. Hochschild, Schwelle, 25.

[13] M. Hochschild, Schwelle, 29.

[14] J. Hochstaffl, Konzeption, 318.

[15] Vgl. J. Hochstaffl, Konzeption, 319ff.

[16] O. Fuchs, Identität, 43.

[17] LG 8 mit besonderem Verweis auf das berühmte „substitit“.

[18] GS 1.

[19] Vgl. O. Fuchs, Nachholbedarf, 96.

[20] Vgl. O. Fuchs, Nachholbedarf.

[21] Ich verweise an dieser Stelle auf die beiden Publikationen von H.-U. Dallmann, Systemtheorie, und M. Woiwode, Heillose Religion?, sowie auf H. Haslinger, Diakonie, 214-242. Es geht mir im Folgenden nicht um eine Präferenz des systemischen Denkens im Anschluss an Luhmann gegenüber der Kommunikationstheorie von Jürgen Habermas. Ich will lediglich mögliche interdisziplinäre Verbindungspunkte zum Thema Veränderung aufzeigen.

[22] Vgl. H. Haslinger, Handeln, 192.

[23] O. Fuchs, Nachholbedarf, 92.

[24] N. Luhmann, Funktion der Religion, 13.

[25] H. Haslinger, Handeln, 192.

[26] N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, zitiert nach: O. Fuchs, Nachholbedarf, 93.

[27] Ich bin mir dessen bewusst, dass es sich hier um eine sehr vereinfachende Darstellung der intersystemischen Wechselbeziehungen handelt. Ich bin jedoch der Meinung, dass diese Vereinfachung zum besseren Verständnis der „Brauchbarkeit“ systemtheoretischer Überlegungen dienlich ist.

[28] O. Fuchs, Nachholbedarf, 104.

[29] Vgl. M. Schüßler, Prophetie.

[30] M. Schüßler, Prophetie, 47.

[31] Vgl. O. Fuchs, Nachholbedarf, 104.

[32] Vgl. O. Fuchs, Nachholbedarf, 95.

[33] Vgl. Publikationen wie zum Beispiel B. J. Hilberath, B. Nitsche (Hgg.), Ist Kirche planbar?, welche nur ein Beispiel für das weite Feld der Annäherung an Methoden und Theorien der Organisationsentwicklung und Betriebswirtschaftslehre darstellt.

[34] Z. Cavigelli-Enderlin, Glaubwürdigkeit, 127. Cavigelli-Enderlin versucht in dieser Monographie eine Synthese von betriebswirtschaftlich grundgelegten Methoden des Managements (vor allem im Bereich der sogenannten Non-Profit-Organisations) und der kirchlichen Realität. Für unseren Zusammenhang verweise ich besonders auf sein 5. Kapitel: Von der Vision zur Strategie, Glaubwürdigkeit, 118-156.

[35] Z. Cavigelli-Enderlin, Glaubwürdigkeit, 127f.

[36] Vgl. zur Koinonia als Grundvollzug kirchlicher Praxis Kapitel 9: Kirche und ihre Grundvollzüge.

[37] O. Fuchs, Identität, 43.

[38] Vgl. O. Fuchs, „Not macht erfinderisch“, 239f. Ottmar Fuchs berichtet hier von den Protestreaktionen der pastoralen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer bayerischen Diözese gegen die Umorganisation in der Diözesanverwaltung, die eine Trennung der Finanzen von der Pastoral zur Folge hätte.

[39] K. Gabriel, Stellungnahmen, 6. Zu den Stellungnahmen von Frau Professor U. Nothelle-Wildfeuer sowie den Professoren K. Gabriel, W. Fürst und O. Fuchs vgl. Anlage 3.

[40] B.J. Hilberath, Corporate Identity, 93-100, hier: 98.

[41] Zeichen setzen in der Zeit. Pastorale Prioritäten der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 2; im Folgenden zitiert als: Zeichen setzen in der Zeit. Vgl. Anlage 5.

[42] LG 8.

[43] H. Küng, Kirche, 400.

[44] Vgl. ebd.

[45] „Wir können und müssen zunächst ohne unmittelbare Berücksichtigung der Finanz- Personal- und Zeitbudgets, die wir brauchen, die Pastoralen Prioritäten erarbeiten, die von der Zeit, der gesellschaftlichen und kulturellen Situation erforderlich sind. Erst danach müssen und können wir die Finanzierungsfrage stellen!! Die bis zum Haushalt 2005 / 2006 zu erbringenden Einsparungen müssen auf eine andere Weise als über die Prioritäten bzw. Posterioritäten erbracht werden.“ (Rede von Bischof Dr. Gebhard Fürst vor dem Diözesanrat am 21. Februar 2003, in: Arbeitshilfe, 8.). Auch im Text der Vorlage zur Konsultation ist dieser Aspekt nochmals betont: „Außerdem wird [...] deutlich, dass es im derzeitigen Stadium des Diskussionsprozesses noch nicht um die Zuordnung von finanziellen Ressourcen zu den Handlungsfeldern gehen kann. Auch für die Prioritätendiskussion gilt der Grundsatz: Die Ausgaben folgen den Aufgaben. Zuerst sind die pastoralen Ziele festzulegen, dann erst geht es darum, wie diese Ziele erreicht werden können, wer dies tun soll, welche Prozesse und Maßnahmen dafür notwendig sind und welche Finanzen dafür gebraucht werden.“ (in: Arbeitshilfe, 12)

[46] AKO steht für „Arbeitsgemeinschaft katholischer Organisationen und Verbände“ der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die im Diözesanrat mit Sitz und Stimme vertreten ist.

[47] Vgl. etwa die Analogie zwischen der Strategie des Konzerns Daimler-Chrysler und der Kirche in Bezug auf die Konzentration auf das jeweilige „Kerngeschäft“ in B.J. Hilberath, B. Nitsche (Hgg.), Ist Kirche planbar?, 11. H. Haag geht mit seinem Plädoyer für eine neue Verfassung der Kirche (in: Nur wer sich ändert) einen ähnlichen Weg. In der Notwendigkeit einer neuen Verfassung sieht er die Möglichkeit, aus dieser heraus verschiedene Problemfelder angehen zu können. Dies entspricht einer Konzentration auf das Wesentliche auf struktureller Ebene, auf dessen Grundlage andere Fragen als zweitrangig im Sinn von sekundär zu betrachten sind.

[48] Vgl. hierzu die derzeit weit verbreitete Praxis, sich aufgrund knapper werdender Kirchensteuermittel an die Umstrukturierung von Kirche auf allen Ebenen zu wagen. Das prominenteste Beispiel dürfte derzeit das Erzbistum Berlin sein.

[49] Vgl. O. Fuchs, „Not macht erfinderisch“, 239.

Ende der Leseprobe aus 107 Seiten

Details

Titel
Es muss was passieren, aber es darf sich nichts ändern. Eine theologische Beurteilung der Pastoralen Prioritäten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen  (Kath.-Theologische Fakultät Tübingen, LS für Prakt. Theologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
107
Katalognummer
V37931
ISBN (eBook)
9783638371407
Dateigröße
824 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eine, Beurteilung, Pastoralen, Prioritäten, Diözese, Rottenburg-Stuttgart
Arbeit zitieren
Theresia Klein (Autor:in), 2005, Es muss was passieren, aber es darf sich nichts ändern. Eine theologische Beurteilung der Pastoralen Prioritäten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37931

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