Die Annahme, dass Frauen und Männer nicht nur grundsätzlich verschieden seien, sondern auch unterschiedliche Begabungen in Bezug auf und einen verschiedenen Umgang mit Sprache hätten, scheint in der populärwissenschaftlichen Diskussion nicht nur als Faktum akzeptiert zu werden. Nachdem sich die emanzipatorische Bewegung der 60er und 70er Jahre um die Gleichbehandlung der Geschlechter bemühte, finden sich auf den Bestsellerlisten in den letzten Jahren auch zunehmend wieder Bücher wie „Du kannst mich einfach nicht verstehen“, in dem männliche und weibliche
Kommunikation beschrieben werden soll, „Männer sind anders. Frauen
auch.“, „Vom ersten Tag an anders – das weibliche und das männliche
Gehirn“ oder „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“.
Dass Männer und Frauen unterschiedliche Kommunikationsstile anwenden, wurde von der soziologisch-feministischen Forschung und Literatur thematisiert. Hier wurde jedoch meist davon ausgegangen, dass diese Differenzen ihre Begründung in der Sozialisation fänden5. Im Gegensatz dazu wird in oben genannten Büchern eine biologische Begründung angeboten.
Ich möchte in dieser Arbeit der Frage nachgehen, ob es
geschlechtsspezifische Unterschiede bereits im Erstspracherwerb gibt und wenn ja, in welchem Ausmaß. Obwohl sich das Thema also auf einen Aspekt des Spracherwerbs bezieht ist es nicht der Spracherwerb selbst, der themengebend sein soll. Daher möchte ich im ersten Abschnitt einen knappen Überblick über die Kindersprachforschung, die Phasen des Erstspracherwerbs und die Theorien über diesen geben, um das theoretische „Fundament“ der Arbeit zu legen. Ich werde mich bemühen, den Überblick kurz zu halten und die Theorien und
Erkenntnisse in ihren Grundzügen, nicht aber Details zu beschreiben.
Im Hauptteil meiner Arbeit werde ich dann empirische Forschungsliteratur zum Einfluss des Geschlechts auf den Spracherwerb erläutern. Ich möchte dabei ebenso auf statistische Messdaten wie auch auf einzelne Aspekte des Erwerbs eingehen. Da offensichtlich bei mehr Jungen als Mädchen Sprachstörungen diagnostiziert werden, werde ich dies in einem eigenen
Abschnitt thematisieren.
Anschließend möchte ich verschiedene Ansätze beleuchten, die versuchen, Erklärungen für die bestehenden geschlechtsspezifischen Differenzen bereitzustellen. Neben den biologischen Modellen sollen hier auch sozialisationstheoretische Aspekte und das Konzept Gender Raum erhalten.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Der Erstspracherwerb
- Die Kindersprachforschung
- Schwierigkeiten und Probleme der Forschung
- Phasen des Erstspracherwerbs
- Theorien
- Der Behaviorismus
- Der Nativismus
- Der Interaktionismus
- Der Instruktionalismus
- Der Kognitivismus
- Geschlechtsspezifische Unterschiede im Erstspracherwerb
- Der „normale“ Erstspracherwerb
- Geschlechtsunterschiede bei standardisierten Sprachtests?
- Stichproben
- Unterschiede bei den Mittelwerten
- Effektgrößen bei den Mittelwerten
- Variabilität
- Gekoppelte Effekte von Unterschieden bei Mittelwerten und Varianz
- Geschlechtsunterschiede bei der Sprachkompetenz
- Die Definition von „Sprachkompetenz“
- Beschränkungen und Beiträge der Literatur zur Sprachkompetenz
- Lesen und Schreiben
- Einzelaspekte des normalen Spracherwerbs
- Beginn und Tempo
- Der Worterwerb
- Lexikon und Semantik
- Morphologie und Syntax
- Sprachverwendung
- Phonologie, Phonetik und Intonation
- Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse
- Zusammenfassung der Empirie und ihre Bedeutung für die Sprachstörungen
- Diskussion der Ergebnisse
- Geschlechtsunterschiede bei standardisierten Sprachtests?
- Geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Sprachstörungen
- Darlegung und Bewertung von Geschlechtsunterschieden in Bezug auf Sprachstörungen
- Studien zu primären und spezifischen Sprachstörungen
- Geschlechtsspezifische Prävalenz in der publizierten Forschung zu SES und SLD
- Geschlechtsspezifische Prävalenz in Familien-Studien
- Zusammenfassung
- Darlegung und Bewertung von Geschlechtsunterschieden in Bezug auf Sprachstörungen
- Erklärungsansätze
- Biologische Ansätze
- Die Geschlechtsentwicklung
- Normaler Spracherwerb/ Normale Entwicklung
- Soziobiologische Erklärungen
- Fazit
- Sprachstörungen
- Anfälligkeit/ Verletzlichkeit
- Lateralisation
- Maturation
- Kortikale Anomalien
- Genetische Einflussfaktoren
- Zusammenfassung
- Andere Theorieansätze
- Lerntheorien: Bekräftigung und Imitation
- Kognitionspsychologische Ansätze
- Sozialisationstheorien
- Gender
- Begriffsklärungen
- Gender-Theorien
- Biologismus/ Naturalismus
- Marxismus und materialistischer Feminismus
- Postmoderne Dekonstruktionen: Ethnomethodologie und Diskurstheorie
- Gender Bias
- Referral Bias
- Hinweise auf Bias aus den Kommunikationswissenschaften und Sprachstörungen
- Hinweise aus anderen Disziplinen: Die Rolle von Verhalten und Aufmerksamkeit
- Die Rolle der Erwartungen/ Annahmen über Geschlechtsunterschiede bei den sprachlichen Fähigkeiten
- Zusammenfassung
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die Frage, ob es bereits im Erstspracherwerb geschlechtsspezifische Unterschiede gibt und wenn ja, in welchem Ausmaß. Die Analyse konzentriert sich dabei auf die empirische Forschungsliteratur zum Einfluss des Geschlechts auf den Spracherwerb. Es werden sowohl statistische Messdaten als auch einzelne Aspekte des Spracherwerbs betrachtet.
- Untersuchung von Geschlechtsunterschieden im Erstspracherwerb
- Analyse empirischer Forschungsdaten zum Einfluss des Geschlechts auf den Spracherwerb
- Betrachtung von statistischen Messdaten und einzelnen Aspekten des Spracherwerbs
- Erörterung von Erklärungen für die beobachteten Unterschiede, einschließlich biologischer, sozialisationstheoretischer und Gender-spezifischer Ansätze
- Analyse von Gender-Bias in Forschung und Praxis
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, die die Relevanz des Themas und die Zielsetzung der Arbeit darstellt. Anschließend wird ein Überblick über den Erstspracherwerb gegeben, einschließlich der Kindersprachforschung, Phasen des Spracherwerbs und verschiedener Theorien. Im Hauptteil werden empirische Forschungsdaten zum Einfluss des Geschlechts auf den Spracherwerb präsentiert, wobei sowohl statistische Daten als auch einzelne Aspekte des Spracherwerbs berücksichtigt werden.
Ein weiterer Abschnitt widmet sich der Analyse von Geschlechtsunterschieden bei Sprachstörungen. Es werden verschiedene Erklärungsansätze für die beobachteten Unterschiede beleuchtet, darunter biologische Modelle, Sozialisationstheorien und das Konzept Gender. Der Abschnitt „Gender Bias“ untersucht schließlich die Auswirkungen von Gender-Bias in der Forschung und dem Umgang mit Sprachstörungen.
Schlüsselwörter
Erstspracherwerb, Geschlechtsspezifische Unterschiede, Sprachkompetenz, Sprachstörungen, Biologische Ansätze, Sozialisationstheorien, Gender, Gender Bias.
- Biologische Ansätze
- Der „normale“ Erstspracherwerb
- Arbeit zitieren
- Heike Mittmann (Autor:in), 2004, Geschlechtsspezifische Unterschiede im Erstspracherwerb, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38053