Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Die Entwicklung des Streitstandes vor den Holzschutzmittelprozessen
1. Das Contergan-Verfahren
a) Entscheidung des LG Aachen
b) Kritik Armin Kaufmanns
c) Grundlagen der Kausalitätsfeststellung
2. Das Lederspray-Verfahren (Erdal-Fall)
a) Entscheidung des LG Mainz
b) Revision vor dem BGH, „irgendwie-Beweis“ der Kausalität
c) Kritik am Ausschlußverfahren des BGH
II. Die Holzschutzmittelprozesse
1. Die besondere Problematik der Holzschutzmittelprozesse
2. Die Thesen des BGH und ihre Kritik
a) generelle Kausalität-konkreter Kausalitätsnachweis
aa) Kritik am Begriff der generellen Kausalität
bb) Lehre Engischs von der gesetzmäßigen Bedingung
cc) Notwendigkeit der Kenntnis der genauen Dosis-Wirkungs-Relation ?
dd) materielle Verortung der generellen Kausalität
ee) Einordnung der generellen Kausalität als prozessuale Problematik
ff) Konsequenzen der Verortung
b) Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung
aa) hinreichende Tatsachengrundlage
bb) Entscheidung bei nicht allgemeingültigem Erfahrungswissen
e) Das Ausschlußverfahren
aa) substanzielle Änderung des Kausalitätsbegriffs
bb) von der Kausalität zur Plausibilität
d) Wahrscheinlichkeitsurteile
3. Annäherung des strafrechtlichen an den zivilrechtlichen Kausalitätsnachweis?
a) Anscheinsbeweis - evidente Kausalität
b) Fälle strafrechtlicher Produkthaftung
4. weitere rechtssoziologische Aspekte
a) Verständnislosigkeit zwischen Juristen und Naturwissenschaftlern
b) Auswirkungen des Verfahrens auf die Beschuldigten
c) Das „Amalgam-Verfahren“
d) Medizinstatistik
III. Resümee: Der Mensch in der Risikogesellschaft
Thesen des BGH zum Holzschutzmittel-Revisionsurteil
Literaturverzeichnis
I. Die Entwicklung des Streitstandes vor den Holzschutzmittelprozessen
1. Das Contergan-Verfahren
a) Entscheidung des LG Aachen
Im Conterganfall war ein Hauptproblem des Verfahrens die Frage nach der Kausalität der Einnahme des thalidomidhaltigen Schlafmittels Contergan durch Schwangere für schwere Nervenschäden und Mißbildungen Neugeborener. Obwohl die als Sachverständigen gehörten Naturwissenschaftler in der Frage der generellen Eignung des Medikaments, das sog. Wiedemann- oder Dysmeliesyndrom hervorzurufen, zu diametral entgegengesetzen Ergebnissen gekommen waren und sich insbesondere ein Chemie-Nobelpreisträger gegen die Begründbarkeit eines Nachweises ausgesprochen hatte, bejahte das mit der Sache beschäftigte LG Aachen den Verursachungszusammenhang, indem es auf den Unterschied eines „Nachweises im Rechtssinne“ zu einem „naturwissenschaftlichen Nachweis“ abstellte.
Unter dem Nachweis im Rechtssinne sei nämlich keineswegs der sogenannte naturwissenschaftliche Nachweis zu verstehen, der eine mathematische, jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewißheit, also absolut sicheres Wissen (vgl. BGH in: VRS 39, 103ff.) vorraussetze, sondern der für die strafrechtliche Beurteilung allein maßgebliche Beweis sei schon erbracht, wenn das Gericht von den zu beweisenden Tatsachen nach dem Inbegriff der Hauptverhandlung voll überzeugt sei.[1]
b) Kritik Armin Kaufmanns
Die Entscheidung des LG Aachen ist in der Literatur zT scharf angegriffen worden. Insbesondere Armin Kaufmann wandte sich gegen die prozessuale Verortung des Kausalitätproblems durch das Gericht, indem er die These aufstellte, das Tatbestandsmerkmal der „Verursachung“ integriere die Vielzahl der Kausalgesetze in die Rechtsnorm selbst, die Kausalgesetze seien damit Teil des Obersatzes, unter den der Sachverhalt zu subsumieren sei; hieraus ergebe sich, daß das Kausalgesetz der Verfügbarkeit durch subjektive Überzeugungsbildung entzogen sei.[2]
Die Existenz des Kausalgesetzes müsse „objektiv gewiß“ sein, sonst könne darunter nicht subsumiert werden; Kausalgesetze könnten demnach nur angewendet werden, wennn sie wissenschaftlich gesichert sind, was dann der Fall sei, wenn sie in den maßgeblichen Fachkreisen allgemeine Anerkennung gefunden hätten, gerade dies sei, wie man an den Sachverständigengutachten sehe, hier nicht gegeben.[3]
c) Grundlagen der Kausalitätsfeststellung
Grundlage für die Feststellung der Ursächlichkeit der Thalidomideinnahme für die Schädigungen durch das LG Aachen war vor allem die enge zeitliche und örtliche Übereinstimmung zwischen der Dauer der Vermarktung des Medikaments und dem epidemischen Auftreten des Wiedemannsyndroms: obwohl diese enge Korrelation, die statistische Häufigkeit für sich gesehen keinen absoluten Beweiswert habe, sei ein Zusammenhang zu bejahen, da noch weitere Gesichtspunkte, wie zB die Neuartigkeit des Syndroms, der zeitliche Bezug zwischen Einnahme und den Phasen der Embryonalentwicklung, in denen nach der experimentellen Entwicklungsphysiologie Schäden zu erwarten seien und vergleichbare Mißbildungen in Tierversuchen hinzugekommen seien.
Hieraus ergebe sich, daß die Thalidomideinnahme neben weiteren Faktoren, wie zB der Konstitution der Schwangeren, zumindest mitursächlich gewesen sei.[4]
Gegen diese Argumentation wurde eingewandt, daß auch eine statistische Korrelation von höchster Signifikanz keinen Schluß auf ein Kausalgesetz gestatte; es sei zwar möglich, daß dieser statistische Zusammenhang auf ein Kausalnexus zurückzuführen sei, es sei aber genausogut möglich, daß die statistische Abhängigkeit sich anders erkläre oder einstweilen unklar bleibe. Die Enge der Korrelation, die Höhe der Signifikanz also, dürfe nicht als Grad der Wahrscheinlichkeit der Kausaldeutung mißverstanden werden, sie indiziere lediglich die Gesichertheit eines statistischen Zusammenhangs.[5]
Demgegenüber wird von rechtssoziologischer Seite klargestellt, daß ein hoher Korrelationskoeffizient als die statistische Maßzahl für die Stärke des Zusammenhangs (der Korrelation) zwischen den Variablen ein Indiz für einen Kausalzusammenhang darstelle; die Korrelation sage trotz Indizes nur noch nichts Endgültiges über die Kausalität.[6]
2. Das Lederspray-Verfahren (Erdal-Fall)
a) Entscheidung des LG Mainz
Im Ledersprayverfahren war vor dem Tatgericht bis zuletzt ein Zusammenhang der aufgetretenen Erkrankungen (Lungenödeme) mit einem konkret bestimmbaren Inhaltsstoff des Produkts naturwissenschaftlich nicht belegbar; Trotzdem folgte die Kammer des LG Mainz bei der Beweiswürdigung den Ausführungen einiger Gutachter, die aufgrund von Indizien einen medizinisch ausreichend belegbaren Verursachungszusammenhang annahmen.[7] Gestützt wurde diese Annahme wieder auf eine enge Korrelation zwischen dem Auftreten der Beschwerde und dem Gebrauch des Ledersprays, auf eine signifikante Übereinstimmung im Krankheits- und Heilungsverlauf, sowie darauf, daß vergleichbare Lungenschädigungen in Tierversuchen festgestellt wurden.[8]
b) Revision vor dem BGH, „irgendwie-Beweis“ der Kausalität
Der BGH hat in der Revision konstatiert, daß es zur Bejahung eines Ursachenzusammenhangs ausreiche, wenn festgestellt würde, daß die „Ursache der Vorfälle“ nur in etwaigen toxikologischen Wirkungsmechanismen einzelner Rohstoffe allein oder zumindest in der Kombination mit anderen Rohstoffen liegen „könnte und mitgelegen hat;“ auf die Ermittlung des dafür verantwortlichen Inhaltsstoffes, die naturwissenschaftlich exakte Identifizierung der schädigenden Substanz oder einer Kombination von Substanzen käme es dagegen in vorliegendem Fall nicht an.
Sei also in rechtsfehlerfreier Weise festgestellt worden, daß die - wenn auch nicht näher aufzuklärende - inhaltliche Beschaffenheit des Produkts schadensursächlich war, so sei zum Nachweis des Ursachenzusammenhangs nicht noch weiter erforderlich, daß festgestellt werde, warum diese Beschaffenheit schadensursächlich werden konnte. Notwendig sei dann nur, daß alle anderen in Betracht kommenden Schadensursachen aufgrund einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung ausgeschlossen werden könnten.[9]
Dem Urteil des BGH zustimmend wurde argumentiert, beim schlichten Erfolgsdelikt, so auch bei den hier in Betracht kommenden §§ 223, 230 StGB genüge es, daß der tatbestandsmäßig vorausgesetzte Erfolg durch das Verhalten irgendwie verursacht wurde; ob bestimmte Kausalgesetze existierten, sei keine Rechts- sondern eine Tatfrage und damit bedeutsam für die Beweiswürdingung.[10]
c) Kritik am Ausschlußverfahren des BGH
Demgegenüber wird bestritten, daß ein Gericht die von § 261 StPO geforderte volle Überzeugung vom Bestehen des Verursachungszusammenhangs gewinnen könne, obwohl ein naturwissenschaftlicher Nachweis des Wirkmechanismus nicht positiv geführt sei.[11]
Eine genaue Kenntnis der Kette zwischen Schadensfaktor und Schaden sei kausalitätsdogmatisch nämlich nur dann belanglos, wenn ausgeschlossen werden könne, daß ein anderes als das - aus vielen möglichen Schadensfaktoren kombinierte - Produkt den Schaden verursacht habe.[12] Diese Prämisse des BGH sei aber in Wirklichkeit nur eine umgeformte conditio-Formel und damit trivial: Wenn nämlich das LG nach Auffassung des BGH rechtsfehlerfrei festgestellt habe, daß „alle anderen in Betracht kommenden Schadensursachen“ auszuschließen seien, dann habe es in Wahrheit die Anwendung des Sprays hinweggedacht und festgestellt, daß der Erfolg dann entfallen wäre, weil „andere in Betracht kommende Schadensursachen ausgeschlossen werden können.“[13]
Statt dessen müßten zur Beantwortung der Frage, ob andere Ursachen in Betracht kommen, zwei Voraussetzungen erfüllt sein: erstens müßten diejenigen Umstände, die Lungenödeme hervorrufen könnten, umfassend und abschließend bekannt sein und zweitens müßte festgestellt werden, daß keiner dieser anderen Umstände im konkreten Fall vorlag, schon diese erste Prämisse liege hier aber nicht vor.[14]
Statt dessen habe der BGH es schon als hinreichenden Indizienbeweis angesehen, daß die Lungenödeme bei den einzelnen Verbrauchern im zeitlichen Zusammenhang mit der Benutzung des Ledersprays auftraten und sich für ihr Auftreten keine andere Kausalerklärungen finden ließen. Wenn aber schon die indirekt zu beweisende Ursächlichkeit von Bestandteilen des Sprays unbekannt geblieben sei, so könnten andere Ursachen der nur vereinzelt auftretenden Lungenschäden nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden.[15]
II. Die Holzschutzmittelprozesse
1. Die besondere Problematik der Holzschutzmittelprozesse
Das Urteil des BGH vom 2.8.1995 (2 StR 221/ 94, LG Frankfurt/ aM), der vorläufige Endpunkt einer Reihe von Straf- und Zivilprozessen zu Holzschutzmitteln, die Mitte der 50er Jahre begannen und deren hier besprochenes letztinstanzliches Urteil 1984 mit Ermittlungen gegen verschiedene Hersteller von Holzschutzmitteln begann herrscht im Verhältnis zu den anderen leading cases der strafrechtlichen Produkthaftung (wenigstens auf den ersten Blick) eine umgekehrte Konstellation: Die inkriminierten Hauptwirkstoffe Lindan und PCP sind im Bereich größerer Dosen nachgewiesenermaßen toxisch, doch stehen die gesundheitlichen Schäden, die in ihren Symptomen inhomogen sind und ein „nahezu vollständiges Verzeichnis aller beim Menschen überhaupt vorkommenden pathologischen oder auch nur unerwünschten Zustände“ umfassen nicht in zeitlicher Nähe zum Verstreichen oder Versprühen der Mittel durch den Anwender, sondern ergeben sich vielmehr aufgrund teilweise langjähriger Exposition.
[...]
[1] LG Aachen in: JZ 1971, 507, 510f.
[2] Kaufmann in: JZ 1971, 569, 574f.
[3] aaO
[4] Wohlers in: JuS 1995, 1019, 1020
[5] Kaufmann aaO S.575
[6] Rehbinder S.75f.
[7] Hassemer S. 32
[8] Wohlers in: JuS 1995, 1019, 1021
[9] BGH in: NJW 1990, 566, 567
[10] Kuhlen in: NStZ 1990, 566, 567
[11] Wohlers in: JuS 1995, 1019, 1021
[12] Hassemer S. 33
[13] Samson in: StV 1991, 182, 183
[14] aaO
[15] Puppe in: JR 1992, 30, 31