Vergeltung und Heldentum in "Kudrun". Das Motiv der Rache und eine Analyse des Heldenstatus


Hausarbeit (Hauptseminar), 2017

31 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Rache und Versöhnung im Mittelalter

3. Das Rachemotiv in Kudrun
3.1 Die Ursache der Rache der Normannen
3.2 Wie Hartmuot Kûdrûnen mit gewalte nam
3.3 Blutrache und Rückeroberung Kudruns
3.4 Kudruns Versöhnungsstrategie

4. Heroik in Kudrun
4.1 Kudrun, eine Heldin?

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Vergeltung für vergangenes Leid, Rache zur Wiederherstellung der Ehre. Dies sind die Schlagworte, die den Epos Kudrun passend beschreiben können. Während es aus heutiger Sicht unvorstellbar wäre, sich für erlittene Schande in diesem Maße zu revanchieren, war das Mittel der Blutrache die gängige Vorgehensweise für Vergeltung im Mittelalter. Doch Kudrun hat, im Gegensatz zum Nibelungenlied, das entscheidende Merkmal, dass dem exorbitanten Wüten nicht die Auslöschung einer ganzen Sippe folgt, sondern viel mehr die Vereinigung der Gefolgschaften von Täter und Opfer. Davon handelt auch die vorliegende Seminararbeit.

Alles in allem ist diese Ausarbeitung in zwei Teile getrennt. Zum einen soll sich im ersten Teil näher mit dem Motiv der Rache auseinandergesetzt werden. Hierzu wird zunächst die Legitimation der Rache bzw. Selbstjustiz im Mittelalter knapp erläutert, bevor ein genauerer Bezug auf das Epos folgt. Die Analyse des Motivs bezüglich der Primärliteratur orientiert sich dabei chronologisch an den Geschehnissen der Erzählung. Dabei erfolgt eine Erarbeitung vom Ursprung des Konflikts bis hin zur Versöhnungsstrategie, welche die verfeindeten Sippen zusammenbringt.

Der zweite Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit der in Kudrun dargestellten Form von Heroik. Dafür werden verschiedene Beispiele betrachtet und analysiert, bevor sich der Frage gewidmet wird, ob Kudrun selbst als eine Heldin zu sehen ist, man vielleicht von Heldinnen-Epik sprechen kann?

2. Rache und Versöhnung im Mittelalter

Einer der zentralen Aspekte in Kudrun stellt das Motiv der Rache dar, die hier mit dem Begriff der Selbstjustiz gleichgesetzt werden kann. Dabei ist letztere nach heutiger Definition die „gesetzlich nicht zulässige Vergeltung für erlittenes Unrecht, die ein Betroffener bzw. eine Betroffene selbst übt.“[1] Während sie nach gegenwärtiger Ansicht ein Verstoß gegen die herrschende Rechtsordnung darstellt, war sie im Mittelalter ein akzeptiertes Mittel, um erlittenen Schaden zu rächen und wiedergutzumachen.[2] Da sich der Mensch im Mittelalter eher als Teil eines Sippenverbandes sah, war die Rache meistens nicht die Aktion eines Einzelnen, sondern vielmehr die einer Gruppe, was auch in Kudrun zu sehen ist. Als Ludwig Hetel erschlägt[3], fügt er somit nicht nur dessen Frau Hilde, sondern der ganzen Hegelingensippe Unrecht zu. Dies hat zur Folge, dass die Sippe, der das Unrecht angetan wurde, zu dessen Vergeltung berechtigt, sogar verpflichtet war.[4]

Eine spezielle Form der Rache im Mittelalter stellt die sogenannte Blutrache dar, die als „eine mehr oder weniger ritualisierte fehdeartige Serie von Mordtaten, welche die Mitglieder zweier verfeindeter Gruppen (Großfamilien, Hofgemeinschaften, Dörfer, Stämme o.ä.) einander abwechselnd zufügen“[5], verstanden wird. Ist ein Mord an einem anderen Menschen geschehen und somit die Blutschuld durch den Mörder begangen, so ist die Gemeinschaft des Ermordeten zur Blutrache am Mörder und dessen näheren Verwandten berechtigt. In Kudrun liegt daher die Blutschuld bei Ludwig, die Legitimation zur Blutrache bei der Hegelingensippe.

Zur Beendigung des Kreislaufs der Blutrache stand den Beteiligten ein anderes Mittel der Selbstjustiz zur Verfügung. Die Versöhnung, die „endgültige und dauerhafte Beilegung, Versöhnung und Wiedergutmachung eines Streits bzw. einer Strafleistung“[6], konnte jedoch nur erfolgen, wenn der Täter eine ausgleichende Sühne vollbrachte, die zuvor aber von beiden Parteien akzeptiert werden musste. Die Versöhnung forderte daher meistens einen Vermittler, welcher Täter und Opfer zusammenbrachte.[7]

3. Das Rachemotiv in Kudrun

Wie bereits im vorherigen Abschnitt angedeutet, findet sich auch in Kudrun das Motiv der Rache. „So löst der Wunsch nach der Königstochter den elementaren Ablauf des Konflikts von Konfrontation, Domination und Attribution aus, bei dem der Brautvater [...] getötet wird.“[8] Ursache des Konflikts ist somit die Zurückweisung Hartmuts, der sich dadurch in seiner Ehre verletzt sieht und deshalb nach Absprache mit seinen Eltern den Plan verfolgt, „ daz si Kûdrûnen wol dannen möhte bringen.“[9] Als Ludwig auf der Flucht zudem noch Hetel erschlägt, ist die Ehre der Hegelingen endgültig beschädigt und die Blutschuld vollbracht. Dies führt zur Blutrache der Gefolgsleute Hetels, wenn auch erst dreizehn Jahre später, durch welche auch Kudrun befreit wird. Die Beendigung dieses Kreislaufs von Rache und Gegenrache wird letztendlich durch Kudruns Versöhnungsstrategie erreicht, mithilfe derer sie einem zukünftigen Vergeltungsakt vorbeugt. Die nachfolgenden Kapitel werden sich chronologisch mit den einzelnen Konfliktsituationen befassen und sie vor allem auf das Motiv der Rache und der Versöhnung näher untersuchen.

3.1 Die Ursache der Rache der Normannen

Betrachtet man den Konflikt um Kudrun genauer, so wird dessen Ursache schnell ersichtlich. Dieser liegt nämlich in der Werbung um die Königstochter.

Das in der Kudrun mehrfach literarisierte Handlungsschema der gefährlichen Brautwerbung mit seinen Bausteinen und Regeln zeigt anhand des Generationenkonflikts zwischen Werber und Brautvater, wie die anarchischen Impulse von Gewalt und Begierde im Bezug auf die Stabilisierung von Herrschaft funktionalisiert werden können.[10]

Während die Ablehnung Herwigs zu einem Kampf zwischen Werber und Brautvater führt, in dem Herwig seine Tugend und Ehrbarkeit unter Beweis stellt, zieht sich der gekränkte Hartmut in sein Heimatland zurück und schmiedet gemeinsam mit seinen Eltern einen Racheplan. Vor allem der alten Gerlint ist es sehr wichtig, „ wie si daz rechen möhte, daz Hetele sîn kint / versagete smâhelîche ir sune Hartmuoten. / si wunschte, da si hâhen sollten beide Waten und Fruoten.“[11] Wenngleich Hartmut „ was wol gewahsen, schoene unde balt, / milte unde küene[12], ist er Hetel und Hilde nicht gut genug, um ihre Tochter zur Frau zu nehmen. Sie empfinden sein Werben als Verletzung der ständischen Ordnung.[13] Hetel reagiert verärgert:

Dô sprach der künic Hetele: ´ez was iu niht ze guot daz iuch her hât gesendet der künic Hartmuot. des müezet ir engelten, guote bote hêre. der gedinge Hartmuotes müet mich und froun Hilden vil sêre.´[14]

Hilde jedoch erläutert näher, wieso Hartmut ungeeignet sei:

Dô sprach diu frouwe Hilde: ´wie laege si im bî?

ez lêch mîn vater Hagene hundert unde drî

sînem vater bürge dâ ze Garadîne.

diu lêhen naemen übele von Ludewîges hende die mâge

mîne.´[15]

Hartmuts gesellschaftlicher Stand ist nicht ausreichend für Kudrun, da das Land seines Vaters selbst nur ein Lehen Hagens ist. „Im Falle einer Eheschließung zwischen ihrer Tochter und einem Mitglied der ehemaligen Vasallenfamilie würden Hildes mâgen dann aus dessen Hand erneut mit Kudruns Erbländern belehnt werden.“[16] Somit wird also „eine Erwartungshaltung an die Werber-Rolle eingeführt [...], welche besagt, dass die herrschaftliche Macht des Werbers dem Ansehen und dem Adelsstatus der Braut mindestens gleichgestellt sein muss.“[17] Dennoch hält Hartmut weitere Male um Kudruns Hand an, was jedoch sowohl Kudrun, als auch Hilde wiederholt zurückweisen. Stattdessen betonen beide erneut die ständische Unterlegenheit der Normannen, wobei Hartmut weder diese anerkennen noch von der Werbung um die Königstochter ablassen will. Da er selbst erkennt, dass es zu keiner erfolgreichen Werbung kommen wird, beschließt er die List, Kudrun zu rauben.

3.2 Wie Hartmuot Kûdrûnen mit gewalte nam

Hartmuts Reaktion auf seine Abweisung ist in Hinblick[18] auf die nähere Zukunft der Hegelingen fatal. Seine Gefolgsleute und er wurden durch die Familie Hetels gekränkt, vor allem Gerlint dürstet es nach Rache. Zurück am Hofe berät er sich deshalb mit seinen Eltern. In dieser Unterhaltung wird klar, dass die verschiedenen Familienmitglieder unterschiedliche Ziele verfolgen wollen. Sie sind sich nicht darüber im Klaren, auf welche Art und Weise ihre Rache vonstattengehen soll. Seine Mutter Gerlint verlangt den Tod einiger Anhänger der Hegelingen, da „ si wunschte, daz sie hâhen sollten beide Waten und Fruoten.“[19] Diesem Wunsch beugt sich der Sohn jedoch nicht und beschließt, die schöne Kudrun zu entführen. Dies will er allerdings tun, „ ê Hetele wider koeme mit den sînen hin ze Hegelingen[20], damit der Plan überhaupt funktionieren kann und sie sich nicht direkt der Streitmacht Hetels stellen müssen. Denn klar ist, dass das Handeln Hartmuts nicht nur als naiver Raub abgetan werden kann, sondern durchaus ein politisches Handeln darstellt, welches die Hegelingen in Ansehen und vor allem Ehre verletzt, was die Gefolgsleute um Hetel nicht akzeptieren werden.[21]

Am Hofe der Hegelingen angekommen, versucht Hartmut nochmals um Kudruns Hand anzuhalten, wobei dies eher einer Erpressung ähnelt, da er seine Krieger bereits bei sich hat. Letztendlich lehnen Kudrun und auch ihre Mutter Hilde abermals aufgrund des zu niedrigen Stands Hartmuts ab, worauf er mit seinen Kriegern am Hofe einmarschiert und Kudrun mit Gewalt mit sich nimmt. Auch erläutert er ihr die Gründe für seine Tat: „ maget edele, ich versmâhte iu ie. / mir und mînen friunden sollte ouch nu versmâhen, / daz wir hie niemen viengen. wir soltens alle slahen unde hâhen.[22] Er „stellt also Gewalt gegen Recht, will erzwingen, was ihm freiwillig nicht gewährt und nie und nimmer gewährt werden wird.“[23] Auch wenn seine Männer das Land ausrauben, kommen seine Worte eher einer Drohung gleich, da er „ brâhte die gîsel mit im ûf den sant.“[24]

Auf der Flucht landen sie auf dem Wülpensand, wo es zum Verfolgerkampf zwischen den Normannen und den Hegelingen kommt. „Statt der Versöhnung mit dem Brautvater findet sich hier die Variante Tod des Brautvaters, womit der Schlacht auf dem Wülpensand ´heroischere´ Züge zukommen.“[25] Dies hat zur Folge, dass neben der Rache für den Raub Kudruns zusätzlich eine Blutschuld seitens der Normannen entsteht, was eine Blutrache von diesem Zeitpunkt an unabdingbar macht. Doch bevor Ortwin zur Tat schreiten kann, da er „ sînen vater wollte rechen[26], zeigen die Normanen abermals unehrenhaftes Verhalten, indem sie sich zur feigen Flucht in der Dunkelheit entscheiden. Auch wenn sie die Schlacht verlassen und Kudrun rauben können, gehen sie aus dieser nicht als Sieger hervor und können ihre standesbezogene Ebenbürtigkeit mit den Hegelingen nicht beweisen.[27]

3.3 Blutrache und Rückeroberung Kudruns

Wie im vorherigen Abschnitt erwähnt, ist der Grund der Rache der Hegelingen bereits durch den Raub Kudruns gegeben. Er stellt nicht nur die Entführung einer Frau, sondern auch ein bewusst unrechtes politisches Handeln seitens der Normannen dar.[28] Grundsätzlich kann hier der erste Gegenschlag Hetels auf dem Wülpensand als Racheakt gesehen werden, jedoch kommt ihm mehr oder weniger eher die Funktion eines Versuchs nahe, die bevorstehende Entehrung im letzten Moment zu verhindern. Der Kampf ist nicht geplant und seine Männer sind bereits durch den Feldzug gegen Siegfried geschwächt.[29] Hetel, der in der Schlacht stirbt, ist das Opfer dieses unüberlegten Versuchs. Dennoch ist sein Tod der entscheidende Aspekt für die Rache der Hegelingen, da sich die Normannen damit selbst eine Blutschuld aufladen und die Vergeltung für den Raub Kudruns nun in eine Blutrache an Ludwig und seinen Verwandten mündet. Auch wenn der kühne Ortwin „ sînen vater wollte rechen[30], gelingt ihm dies nicht, da die Normannen mithilfe einer feigen Flucht in der Nacht mit den Schiffen entkommen.

Die Hegelingen stehen nun vor einer noch größeren Niederlage. Kudrun ist entführt, Hetel ermordet und mit ihm auch eine Vielzahl an Kämpfern, was ihnen unmöglich macht, sich baldigst zu rächen. Aufgrund des Tods des Königs der Hegelingen, ist es nun die Pflicht der Königin Hilde, sich an den Feinden zu rächen. Hier muss erwähnt werden, dass es Frauen nicht gestattet war, als Täter einer Rache zu fungieren. Daher hat Hilde bereits schon alles in ihrer Macht Stehende getan, nachdem sie in den dreizehn folgenden Jahren ihrer Gefolgschaft zu alter Stärke verhilft und sie für den Kampf gegen die Normannen vorbereitet.

Auch die neue Kriegergeneration will sich rächen, „ die biderbe weisen wollten ir schaden niht vertragen.“[31] Dies führt dazu, dass sie mit ihrem Rachefeldzug den Normannen verheerenderen Schaden und Gewalt zufügen, als dies umgekehrt der Fall war.[32] Zudem ist „der Rachefeldzug [...] deutlich nach heldenepischem Muster gebaut, eine heimliche Rückentführung, zu der es sogar eine günstige Gelegenheit gibt, wird explizit zurückgewiesen, da die Ehre des gesamten Herrschaftsverbandes auf dem Spiel steht.“[33] Deshalb stürzen sich die Hegelingen mit all ihren Truppen in den Kampf gegen die Normannen. Dabei kommt es zum Kampf zwischen Ludwig, dem Mörder Hetels, und Herwig, dem zukünftigen Mann Kudruns:

Der Kûdrûnen friedel under helme über rant

erreichte Ludewîgen mit ellenthafter hant.

er wundet in sô sêre, daz er niht mohte gestrîten.

dâ von muoste Ludewîc des grimmen tôdes dâ vor im

erbîten.

Er sluog im ander stunde einen vesten swanc,

daz des küniges houbet von der ahsel spranc.[34]

Dabei tötet er Ludwig und gleicht somit den Tod Hetels aus. Interessant ist an dieser Stelle auch, dass es nicht der nächste männliche Nachkomme des Ermordeten, sondern der zukünftige Mann der Tochter ist, der die Blutschuld begleicht.

Der Sohn des Brautvaters ist genealogisch gesehen der erste, dem die Ausführung der Rache zusteht. Im Gange der Handlung ist es dann der Beste der drei Werber, der im vierzehn Jahre später stattfindenden Rückentführungskampf den Mörder des Brautvaters tötet und dadurch seinen Anspruch auf die Schönste bekräftigt und zugleich seinen Platz in der Familie des Ermordeten stärkt.[35]

Doch selbst der Tod des Normannenkönigs sorgt nicht für ein Ende der Kämpfe. Vor allem Wate, der in einen regelrechten Blutrausch verfällt, setzt es sich zum Ziel, die ganze Generation des Gegners auszulöschen: „ dô sluoc man dar inne man unde wîp. / der kindel in den wiegen verlôs dâ manigez sînen lîp.“[36] Dies ist nicht nur in den Augen seiner Gegner, sondern auch nach Meinungs Irolts gottlos und brutal: „ jâ hânt iu den tiuvel diu jungen kint getân. / si hânt an unsern mâgen deheiner slahte schulde. / durch die gotes êre sô lât die armen weisen haben hulde.“[37] Wate kann die Einwände seines Verbündeten allerdings nicht verstehen. Für ihn wäre es ein massiv naiver Fehler. Er betrachtet das ganze Vorhaben sehr nüchtern und sieht in jedem Kind einen späteren Feind, der sich an ihnen rächen könnte. „ sollten die erwahsen, / sô wollte ich in niht mêre getrouwen danne einem wilden Sahsen.“[38] Zudem war es Wate selbst, der seiner Herrin in der Vergangenheit riet: „ noch nâch disen tagen, / sô uns die liute erwahsent hie in disem lande, / sô tuo wir Ludewîge unde Hartmuote ouch alsam ande.“[39] Er will also nur verhindern, dass die Hegelingen eine Vergeltung seitens der Hinterbliebenen des Gegners zu fürchten haben, und sieht sich deshalb in seinem Handeln legitimiert.

Als Wate kurz davor steht auch Hartmut zu töten, greift Kudrun in das Geschehen ein. Da sie es selbst nicht verhindern kann, bittet sie ihren Mann Herwig den Tod Hartmuts abzuwenden. Dieser erkennt auch sofort die Superiorität Kudruns an und kommt ihrem Wunsch nach Schonung Hartmuts bedingungslos nach[40], auch wenn er dies wiederum nur durch Gewalt erreichen kann. Jedoch kommt der entscheidende Impuls für dieses Handeln nicht von Kudruns eigenen Überlegungen. Es ist Ortrun, welche die Königstochter um Schonung ihres Bruders und ihrer selbst anfleht. Einerseits sind die beiden Frauen einander wohlgetan. Ortrun ist von Beginn an die einzige der Normannen, die Kudrun freundlich gegenübersteht, was schon bei ihrer Ankunft zu sehen ist: „ mit weinenden ougen die maget vil ellende, / die kuste des wirtes tohter. dô nam si Ortrûn bî ir wîzen hende.“[41] Andererseits bedient sich Ortrun bei ihrer Bitte geschickter Argumentation und einer rhetorischen Unterordnungsstrategie[42]:

Si sprach: ´lâ dich erbarmen, edelez fürsten kint,

sô vil mîner mâge, die hie erstorben sint,

und gedenke wie dir waere, dô man sluoc den vater

dînen.

edele küniginne, nu hân ich hiute vloren hie den mînen[43]

Sie nennt Kudrun bewusst „ edele küniginne[44], da sie ihren hohen Rang betonen und sich ihr unterordnen will. Zudem appelliert sie an Kudrun, dass sich diese in sie hineinversetzen und „ erbarmen[45] zeigen soll. So schafft Ortrun es letztendlich auch, Kudrun von der Schonung zu überzeugen.

Wate, dessen Wüten durch die Begnadigung Hartmuts nur noch mehr bestärkt wird, möchte nun die Königin der Normannen mitsamt all ihrer Damen hinrichten. Ortrun, die bereits zuvor Schonung bei Kudrun erreicht hat, darf sich mitsamt all ihrer Frauen hinter die Königstochter stellen. Der drohenden Gefahr gegenüberstehend fleht auch die böse Gerlint Kudrun an, von ihr beschützt zu werden und bietet sich ihr als „ eigen[46] an. Die Tochter Hildes antwortet ihr daraufhin: „ ir wârt mir ungenaedic; des müeste ich iu von herzen sîn erbolgen.“[47] Zudem war es Gerlint, die den Auftrag zum Mord an Kudrun kurz zuvor gegeben hatte. Dennoch lässt Kudrun zu, dass sich Gerlint zu ihren Jungfrauen stellt und versucht sie somit zu schützen. Eigentlich wäre dies der ideale Moment für Kudrun gewesen, sich für alle Erniedrigungen zu rächen, die ihr angetan wurden. Diese Möglichkeit schlägt Kudrun aber aus, womit nahe liegt, dass sie ihren Rachegedanken bezüglich Gerlint aufgegeben hat bzw. sie sich zumindest nicht an ihrem Tod schuldig machen will. Denn auf die Aussage Wates: „ gebt mir her ze tal / Gêrlint mit ir friunden[48], sagt Kudrun nur: „ der ist deheiniu hie.“[49] Wate, wie schon zuvor bei Hartmut, versteht den Schutz Gerlints nicht und droht Kudrun damit, all ihre Frauen umzubringen, sofern er die Königin der Normannen nicht ausgeliefert bekommt. Wate „überschreitet [...] die Grenzen seiner Kompetenz“[50]. Er ist so vom Rachegedanken getrieben, dass er sich als Vasall über den Willen seiner Herrin hinwegsetzt, obwohl diese ernsthaft bereit ist, die Normannenkönigin vor ihm zu schützen.[51] Letztendlich hilft dies alles nicht, da eine von der Angst getriebene Jungfrau Kudruns Wate ein Zeichen gibt, dieser dadurch Gerlint erkennt und „ er sluoc der küniginne ab daz houbet.“[52]

Insgesamt stehen Kudrun und Wate für unterschiedliche Formen der Rache und können als ihr jeweiliges Gegenstück betrachtet werden. Während Wate in einen Rausch exorbitanten Tötens verfällt, ist Kudrun sogar bereit die Person zu verschonen, von der sie jahrelang gequält sowie erniedrigt wurde und welche sie am Ende sogar umbringen lassen wollte. Kudrun steht somit für die „Überwindung des absoluten Rachegeistes und die Hinwendung zu einem modernen Verständnis von Rache und der Möglichkeit der Versöhnung.“[53] Durch Kudruns Verhalten wird letztendlich der Grundbaustein zur Beendigung des Kreislaufs der Rache und Gegenrache gelegt, wodurch Versöhnung erreicht werden kann.

3.4 Kudruns Versöhnungsstrategie

Eine besondere Stellung im Epos kommt der XXX. Aventiure zu. Sie steht in starkem Kontrast zur vorangegangenen Handlung. Während zuvor von Rache und Vergeltung die Rede war, steht nun die Versöhnung aller miteinander im Streit liegenden Familien im Vordergrund. Dies geschieht jedoch auch nicht zuletzt dadurch, dass einem erneuten Racheakt vorgebeugt werden soll. Zudem muss beachtet werden, dass Wates Blutrausch überhaupt erst die Voraussetzung für solch eine Versöhnung schafft.

Im Mittelpunkt dieser Versöhnungsstrategie steht Kudrun, die sich sehr um die Verschonung und Eheschließung diverser Personen bemüht. Dennoch ist es nicht die eben erwähnte Königstochter, die den ersten Schritt in Richtung Versöhnung unternimmt. Vielmehr ist es ihr Bruder Ortwin, der die Feinde vor dem sicheren Tod bewahrt. Wate, der wie im vorherigen Abschnitt bereits erläutert in eine Art Blutrausch verfällt, schlägt vor, Hartmut und seine Männer zu töten, was Ortwin jedoch abweist:

´ Waz hulfe, ob ir si alle´, sprach her Ortwîn,

´hie ze tôde slüeget in dem lande sîn?

Hartmuot und sîn gesinde die suln baz gedingen.

ich will si lobelîche ze lande mîner muoter Hilden

bringen.´[54]

Der Königssohn steht hier klar der Meinung Wates gegenüber. Er legt dadurch den Grundbaustein einer für alle Seiten akzeptablen Versöhnung. Ortwin tut dies nicht aufgrund von Erbarmen, im Gegensatz zu Wate aber sieht er keinen tieferen Sinn in der Ermordung der Männer, vor allem nicht aus politischer Sicht. Er verfolgt eher das Ziel der Herrschaftserweiterung und des Erhalts seiner Sippe.[55] „Damit vertritt er die für die ´Kudrun´ so typische pragmatische Haltung und nicht etwa das christliche Ethos der erbermde oder eine programmatische Abkehr von der Sippenrache.“[56]

Kudrun hingegen versucht in ihrer Argumentation das Vergangene auf die Schuld Einzelner zu reduzieren. So will sie erreichen, dass auch ihre Mutter Hilde der treuen Ortrun, welche Kudrun zuvor schon vor Wate schützen konnte, verzeiht und sie sogar küsst: „ nu küsset, liebiu frouwe, diese maget hêre. / in mînen ellende bôt si mir manigen dienest und êre.“[57] Hildes Tochter betont abermals, dass Ortrun immer an ihrer Seite stand und ihr friedlich gesinnt ist. Auch wenn Kudrun nochmals die Unschuld Ortruns unterstreicht, weigert sich Hilde dennoch, die Tochter ihres Feindes zu küssen. Kudrun, die nun keine Argumente mehr für eine Verschonung Ortruns vor Hilde vorzubringen hat, agiert daraufhin auf die gleiche Art und Weise, wie sie es schon in der Konfrontation mit Wate getan hat: Sie fleht ihre Mutter weinend an. Diese gibt beim Anblick Kudruns nach und „ dô kuste diu schoene Hilde daz Ludewîgs kint. / si gruozte ouch mêr der frouwen durch Kûdrûnen sint.“[58] Dabei küsst Hilde Ortrun nicht, da sie plötzlich eingesehen hat, dass Ludwigs Tochter, auch wenn sie der Sippe der Normannen angehört, unschuldig ist. Ihr einziger Beweggrund ist Kudruns Weinen. Auch wenn diese durch ihre Tränen ihr Ziel erreicht, könnte man ihr trotzdem eine Art Hilflosigkeit unterstellen. Vielmehr handelt es sich dabei um die Inszenierung politischen Handelns. Durch die Tränen wird die enorme Bedeutsamkeit der Bitte für alle verdeutlicht.[59] Letztendlich ist durch den Kuss Hildes die Versöhnung rechtlich legitimiert.[60]

[...]


[1] http://www.duden.de/rechtschreibung/Selbstjustiz, Stand: 21.08.2017.

[2] Vgl. Fehr, Hans: Das Recht in der Dichtung, in: Kunst und Recht 2 (1931), S. 112.

[3] Vgl. Kudrun, hrsg. von Uta Störmer-Caysa, Stuttgart 2010, Str. 880.

[4] Vgl. Brandt, Marten: Gesellschaftsthematik und ihre Darstellung im Nibelungenlied und seinen hochmittelalterlichen Adaptionen, in: Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur 1643 (1997), S. 171.

[5] Cordes, Albrecht: Blutrache, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von Albrecht Cordes, Heiner Lück und Dieter Werkmüller. Berlin 2008, Sp. 623.

[6] Lange, Gunda: Nibelungische Intertextualität. Generationsbeziehungen und genealogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters. Berlin 2009, S. 103.

[7] Vgl. Koch, Jennifer: Rache und Versöhnung im Nibelungenlied und in der Kudrun. Eine vergleichende Studie. Erfurt 2010, S. 11.

[8] Wenzel, Franziska: Die Geschichte des gefährlichen Brautvaters. Ein strukturalistisch-anthropologisches Experiment zur Kudrun, in: Euphorion 99 (2005), S. 395-421, hier S. 396.

[9] Kudrun, Str. 736, V. 3.

[10] Wenzel (2005), S. 399.

[11] Kudrun, Str. 737, V. 2-4.

[12] Ebd., Str. 623, V. 2 und 3.

[13] Vgl. Grenzler, Thomas: Erotisierte Poetik – Politische Erotik? Die politisch-ständische Begründung der Ehe-Minne in Wolframs "Willehalm", im Nibelungenlied und in der "Kudrun", in: Göppinger Arbeiten zur Germanistik 552 (1992), S. 500.

[14] Kudrun, Str. 608.

[15] Kudrun, Str. 610.

[16] Schmitt, Kerstin: Poetik der Montage. Figurenkonzeption und Intertextualität in der „Kudrun“, in: Philologische Studien und Quellen (2002), S. 136.

[17] Knaeble, Susanne: Im Zustand der Liminalität – die Braut als Zentrum narrativer Verhandlungen von Gewalt, Sippenbindung und Herrschaft in der Kudrun, in: Genus und generatio. Rollenerwartungen und Rollenerfüllungen im Spannungsfeld der Geschlechter und Generationen im Mittelalter 6, hrsg. von Hartwin Brandt. Bamberg 2011, S. 302.

[18] Kudrun, XV. Aventiure.

[19] Ebd., Str. 737, V. 4.

[20] Ebd., Str. 736, V. 4.

[21] Vgl. Ehrismann, Otfrid: Ehre und Mut, Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. Unter Mitarbeit von Albrecht Classen, Winder McConnell, Ernst Dick, Klaus Düwel, Waltraud Fritsch-Rößler, Martina Gemeling, George Gillespie, Hubert Heinen, Wernfried Hofmeister und Antje Holzhauer. München 1995, S. 155.

[22] Kudrun, Str. 796, V. 2 – 4.

[23] Hoffmann, Werner: Kudrun. Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, in: Germanistische Abhandlungen 17 (1967), S. 109.

[24] Kudrun, Str. 804, V. 1.

[25] Schmitt: Poetik der Montage, S. 141.

[26] Kudrun, Str. 885, V. 1.

[27] Vgl. Koch 2010, S. 41f.

[28] Vgl. Ehrismann 1995, S. 155.

[29] Vgl. Kudrun, Str. 699 – 724.

[30] Ebd., Str. 885, V. 1.

[31] Ebd., Str. 1116, V. 2.

[32] Vgl. Nolte, Theodor: Das Kudrunepos – ein Frauenroman? In: Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 38 (1985), S. 59.

[33] Schmitt: Poetik der Montage, S. 142.

[34] Kudrun, Str. 1445f.

[35] Wenzel 2005, S. 400.

[36] Kudrun, Str. 1501, V. 3f.

[37] Ebd., Str. 1502, V. 2ff.

[38] Kudrun, Str. 1503, V. 3f.

[39] Ebd., Str. 928, V. 2ff.

[40] Hier bietet sich der Begriff ´ frouwen dienst ´ an.

[41] Kudrun, Str. 977, V. 3f.

[42] Vgl. Schmitt: Poetik der Montage, S. 249.

[43] Kudrun, Str. 1479.

[44] Ebd., Str. 1479, V. 4.

[45] Ebd., Str. 1479, V. 1.

[46] Ebd., Str. 1516, V. 2.

[47] Ebd., Str. 1517, V. 4.

[48] Ebd., Str. 1519, V. 2f.

[49] Ebd, Str. 1520, V. 1.

[50] Koch 2010, S. 45.

[51] Vgl. Schmitt, Kerstin: Alte Kämpen – junge Ritter. Heroische Männlichkeitsentwürfe in der ´Kudrun´, in: 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Mittelhochdeutsche Heldendichtung ausserhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ortnit, Waltharius, Wolfdietriche), hrsg. von: Klaus Zatloukal. Wien 2003, S. 211.

[52] Kudrun, Str. 1523, V. 4.

[53] Koch 2010, S. 47.

[54] Kudrun, Str. 1559.

[55] Vgl. Schmitt, Kerstin: Kriemhild und Kudrun: zur intertextuellen Beziehung von ´Nibelungenlied´ und ´Kudrun´, in: 800 Jahre Nibelungenlied. Rückblick – Einblick – Ausblick. 6. Pöchlarner Heldengespräch, hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2002, S. 177.

[56] Schmitt: Poetik der Montage, S. 251.

[57] Kudrun, Str. 1579, V. 3f.

[58] Ebd., Str. 1584, V. 1f.

[59] Vgl. Schmitt: Poetik der Montage, S. 228.

[60] Vgl. Lange 2009, S. 94.

Ende der Leseprobe aus 31 Seiten

Details

Titel
Vergeltung und Heldentum in "Kudrun". Das Motiv der Rache und eine Analyse des Heldenstatus
Hochschule
Universität Mannheim
Note
1,3
Autor
Jahr
2017
Seiten
31
Katalognummer
V383560
ISBN (eBook)
9783668590533
ISBN (Buch)
9783668590540
Dateigröße
553 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heldentum, Vergeltung, Mittelalter, Rache, Kudrun, Held, Heldenstatus, Analyse, Hauptseminar, Motiv der Rache, kämpen, heroisch, Männlichkeitsentwurf
Arbeit zitieren
Marcel Brand (Autor:in), 2017, Vergeltung und Heldentum in "Kudrun". Das Motiv der Rache und eine Analyse des Heldenstatus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383560

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