Psychotherapie verstanden als Intervention am Informationsverarbeitungsprozess


Masterarbeit, 2014

140 Seiten, Note: 2.0 (gut)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

TEIL I: PSYCHOLOGIE ALS GRUNDLAGENDISZIPLIN

1 Das Paradigma Selbstorganisierender Systeme

2 Der Informationsverarbeitungsprozess
2.1 Der Prozess der Aufnahme sensorischer Reize
2.2 Der Prozess der Verarbeitung von sensorischen Reizen/Information
2.2.1 Die Architektur des Gehirns
2.2.2 Die handlungsleitenden Motive des Menschen
2.2.3 Die Generierung von Konsistenz, Kohärenz und Bedeutung
Das Prinzip der Bestätigung
Das Prinzip der Abwehrmechanismen
Das Prinzip der Kontrollillusion
Das Prinzip der Überaktivität
Das Prinzip der kognitiven Dissonanz
Das Prinzip der Kontextabhängigkeit
Das Prinzip der Ganzheitlichkeit
Das Prinzip der Komplexitätsreduktion
Das Prinzip der Ordnungstendenz
2.2.4 Die Rolle des Gedächtnisses
2.3 Der Prozess des Informationsaustauschs

3 Der Faktor Mitwelt
3.1 Die Person-Umwelt-Interaktion
3.1.1 Physikalische Einflussfaktoren
3.1.2 Ökologische Einflussfaktoren
3.1.3 Soziale Einflussfaktoren
3.1.4 Medizinische Einflussfaktoren
3.1.5 Sozio-kulturelle Einflussfaktoren
3.1.6 Sozio-ökonomische Einflussfaktoren
3.1.7 Sozio-politische Einflüsse
3.2 Das Problem reduktionistischer Theorien

4 Personzentrierte Systemtheorie
4.1 Personale und systemische Aspekte
4.2 Das Menschenbild

TEIL II: PSYCHOTHERAPIE ALS ANWENDUNGSWISSENSCHAFT

5 Der psychotherapeutische Auftrag

6 Psychotherapeutisches Potential
6.1 Verstehen-Lernen: Bewusstmachen von Unbewusstem
6.1.1 Achtsamkeit
6.1.2 Achtsamkeit in der Psychotherapie
6.2 Differenzierungs-Lernen: Reframing
6.3 Kontraindikation psychotherapeutischer Intervention
6.3.1 Sind Klienten dem therapeutischen Prozess gewachsen?
6.3.2 Die Selbstverantwortung des Klienten

7 Voraussetzungen für psychotherapeutische Wirksamkeit: Passung

8 Leitlinien für psychotherapeutische Tätigkeit
8.1 Die Gestaltung aus inneren Kräften
8.2 Die Nicht-Beliebigkeit der Form
8.3 Die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitszeiten
8.4 Die Nicht-Beliebigkeit der Arbeitsgeschwindigkeit
8.5 Die Duldung von Umwegen
8.6 Die Wechselseitigkeit des Geschehens
8.7 Konklusion der Leitlinien

9 Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2-1: Wahrnehmungsfilter

Abbildung 2-2: Das Stroop-Experiment

Abbildung 2-3: Prinzip der Kontextabhängigkeit

Abbildung 2-4: Schriftzug mit unterschiedlichen Bedeutungen

Abbildung 2-5: Prinzip der Ganzheitlichkeit am Beispiel Stern und Viereck

Abbildung 2-6: Bildliche Darstellung eines Attraktors

Abbildung 2-7: Serielle Reproduktion eines komplexen Punktemusters

Abbildung 2-8: 6 verschiedene resulierende Bilder einer seriellen Reproduktion

Abbildung 2-9: Männergesicht und kniende Frau

Abbildung 2-10: Aus zufälliger Handlung entsteht eine Gewohnheit

Abbildung 2-11: Bistabile Konfiguration: Hase oder Ente

Abbildung 2-12: Hase und Wolf: antizipatorische Funktion von Attraktoren

Abbildung 2-13: Zirkuläre Struktur zwischen Mensch und Mitwelt

Abbildung 3-1: Asch-Experiment: Beispiel sozialer Einflüsse

Abbildung 3-2: Kulturelle Unterschiede im Denken

Abbildung 4-1: Bordeaux-Brief frankiert mit blauer und roter Mauritius

Abbildung 4-2: Mehrdeutigkeit sensorischer Reize

Abbildung 4-3: Menschenbild einer Personzentrierten Systemtheorie

Abbildung 5-1: Dialektisches Quadrat: Die Lebenskunst im Spannungsfeld

Abbildung 5-2: Dimensionen der Aufmerksamkeit

Abbildung 6-1: Johari-Fenster

Abbildung 6-2: Zweideutiges Bild: Mannskopf mit Bart oder Frau mit Hut

Abbildung 7-1: Reizmuster mit mehreren Deutungsmöglichkeiten

Abbildung 7-2: Allgemeines Modell von Psychotherapie

Abbildung 8-1: Stabiler und instabiler Systemzustand

Abbildung 8-2: unterschiedliche Ursache-Wirkungs-Relationen

Abbildung 8-3: Darstellung eines selbstorganisierenden Systemzustands

KURZBESCHREIBUNG

Titel: Psychotherapie verstanden als Intervention am Informationsverarbeitungsprozess

Verfasser: Patrick Lenherr

Für die Behandlung psychischer Störungen liefert die Personzentrierte Systemtheorie durch ihren interdisziplinären Ansatz hilfreiche Erkenntnisse. Im Fokus steht dabei der Prozess der affektlogischen Informationsverarbeitung, der bestimmten Prinzipien folgt (Bedeutungsgene-rierung, Komplexitätsreduktion und Ordnungstendenz) und dabei sehr stark mit sog. Sinn-Attraktoren im Gedächtnis zusammenhängt. In diesen gestalterischen Aspekten der Informa-tionsverarbeitung liegt das gesamte psychotherapeutische Potential verborgen.

Im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur und unter dem Blickfeld der strukturellen Kop-pelung zwischen dem Individuum und seiner Umwelt entsteht ein überzeugendes Menschen-bild, aus dem selbstorganisierende, also nicht-deterministische Gesetzmässigkeiten hervor-gehen und dessen Berücksichtigung eine vertrauensvolle Therapiebeziehung begünstigt.

Die Psychotherapie soll Menschen helfen, neue Wege im Erleben und Verhalten zu finden. Die optimale Passung zwischen den Therapiefaktoren Therapeut-Patient-Behandlungsmo-dell-Störung trägt dazu bei, konstruktive Interventionen im Bereich Verstehen-Lernen (Be-wusstmachen unbewusster Prozesse) und Differenzierungs-Lernen (Reframing) einzuleiten, um Veränderungen in der Wahrnehmung und damit verbunden eine Veränderung im Erleben und Verhalten zu ermöglichen.

Schlüsselwörter: Personzentrierte Systemtheorie, Menschenbild, Informationsverarbeitungs-prozess, Selbstorganisation, Interventionen

ABSTRACT

Title: Psychotherapy seen as an intervention at the process of information processing

Author: Patrick Lenherr

The person-centred system-theory provides helpful insights for the treatment of mental disor-ders, which are usually closely linked to the manner of information processing. The focus is put on the process of information processing, which follows specific principles (creation of meaning, reduction of complexity and order tendency) and thereby strongly correlates with so-called schemata in the brain. The entire psychotherapeutic potential can be found in these creative aspects of information processing.

Regarding the nature-nurture debate and considering the structural link between the indivi-dual and its environment a convincing anthropology emerges, in which originate self-organi-sed, that is non-determined regularities and whose taking into account favours a confiding therapeutic relationship.

Psychotherapy should inspire people to find new ways in experiencing and behavior. The ideal fit between therapeutic factors therapist-patient-model of treatment-interference sup-ports the initiation of constructive interventions in the field of learning to understand (to bring to mind unconscious processes) and reframing to enable changes in perception and cones-quently changes in experiencing and behavior.

Key words: person-centred system-theory, anthropology emerges, process of information processing, self-organization, interventions

Danksagung

Ich möchte mich bei meinem Betreuer Prof. Jürgen Kriz für seine inspirierenden Texte, wohlwollende Kritik und fachliche Begutachtung ganz herzlich bedanken.

Ein grosser Dank geht auch an die Universität Krems und all jene Personen, welche diesen tollen Lehrgang überhaupt erst möglich gemacht haben.

Einleitung

Psychotherapie ist ein ausgesprochen komplexer Handlungsprozess, der sich das Ziel setzt, „handlungsorientierte Strategien zur Beeinflussung von Erleben und Ver-halten“ zu entwickeln, welche dazu dienen, „psychisch bedingte oder mitbedingte Krankheiten oder Verarbeitungsstörungen [...] zu beseitigen oder zu mildern“ (Senf & Broda 2012, S. 2f.) bzw. vorzubeugen. Diese schwierige Aufgabe verlangt nach einem „Konzept der psychotherapeutischen Grundorientierung“, das in der Lage ist, „bei allen Problemen, Krankheiten und Störungen und bei allen Persönlichkeitstypen von Patienten gleich wirksam zu sein.“ (ebd., S. 3f.). Die starren, schulorientierten Sichtweisen erfüllen diesen Anspruch nicht. Es braucht stattdessen ein integratives Theoriekonzept mit übergeordneten, d.h. schulübergreifenden theoretischen Hinter-grundannahmen, um den beschriebenen Anforderungen gerecht zu werden.

Ein solches psychotherapeutisches Konzept ist ohne grundlagenwissenschaftliche Erkenntnisse der Psychologie schwer denkbar. Erst die genaue psychologische Er-kundung des Erlebens und Verhaltens macht es möglich, therapeutische Verände-rungsprozesse einzuleiten. In jede psychotherapeutische Tätigkeit fliesst demnach allgemeinpsychologisches Wissen ein, das die Basis für Strategien der Veränderung ausmacht. Auf diese Weise können überzeugende Antworten auf die zwei zentralen Fragen der Psychotherapie gegeben werden:

- Wie kommt menschliches Erleben und Verhalten zustande? (= Psychologie als Grundlagendisziplin)
- Wie und unter welchen Umständen erfolgen Anpassungs- und Veränderungspro-zesse bzw. wie können diese eingeleitet werden? (= Psychotherapie als Anwen-dungswissenschaft)

Es wird sich zeigen, dass unter Berücksichtigung allgemeinpsychologischer Theorien viele verschiedene Möglichkeiten und Ansatzpunkte für eine Veränderung bestehen. Dadurch wird klar, dass „zur Indikation psychotherapeutischer Massnahmen die Aus-gangslage und die Zielvorgaben der Patienten relevant sind und nicht ideologisch eingefärbte Überzeugungen, die systematisch einzelne Forschungsergebnisse aus-blenden.“ (Kämmerer 2012, S. 78). Anstelle eines Denkens und Handelns unter dog-matischen Gesichtspunkten treten allgemeine Leitlinien, welche ein professionelles sowie verantwortungsvolles Arbeiten ermöglichen und zur Erfüllung des psychothera-peutischen Auftrags beitragen.

Teil I: Psychologie als Grundlagendisziplin

Wie kommt menschliches Erleben und Verhalten zustande?

1 Das Paradigma Selbstorganisierender Systeme

Um „handlungsorientierte Strategien zur Beeinflussung von Erleben und Verhalten“ (Senf & Broda 2012, S. 2) zu entwickeln, ist ein tiefes und breites Verständnis vom Menschen erforderlich. Mit dieser Thematik haben sich sowohl die Psychologie als auch die Psychotherapie seit jeher auseinandergesetzt (vgl. Kriz 2007), wobei die Vielfalt der Lösungsansätze verdeutlicht, wie komplex der Untersuchungsgegenstand Mensch ist. Die unterschiedlichen Ansätze sind v.a. auf die dahinterliegenden Para-digmen zurückzuführen. Jedes Paradigma legt einen bestimmten Standpunkt und damit verbunden eine spezifische Sichtweise fest. Dies gleicht der berühmten Para-bel von den Blinden, die einen Elefanten abtasten und je nach Tastgegenstand (Bein, Zahn, Ohr, usw.) zu ganz verschiedenen Befunden gelangen. Die erste Hürde einer Grundlagentheorie besteht also darin, ein Paradigma zu schaffen, das einen übergeordneten Standpunkt erlaubt. Die Idee vom Menschen als selbstorganisieren-dem System[1] (vgl. Haken & Schiepek 2006; Schiepek 2006; Kriz 2004, 2008) scheint diese Anforderung zu erfüllen.

In Bezug auf selbstorganisierende Systeme kann man von einer Beziehung zwischen einem Organismus und seiner Umwelt[2] sprechen. Diese Beziehung ist wesentlich durch Wechselwirkungen gekennzeichnet. Der Mensch will und muss sich in der Welt zurechtfinden. Wir erkunden, entdecken und gestalten die Welt. Wir verändern die Welt, die Welt verändert uns. Menschliche Entwicklung ist im Wesentlichen auf diesen Austausch zurückzuführen.

Experimente mit sensorischer Deprivation (Hebb 1973) zeigen die Bedeutung der Person-Umwelt-Interaktion aus psychologischer Sicht. Werden einem Menschen über längere Zeit die sensorischen Reize (optische, akustische, gustatorische, taktile Wahrnehmung) entzogen, indem man sie absoluter Dunkelheit und Einsamkeit aus-setzt, führt dies zu Wahrnehmungsstörungen in Form von Halluzinationen bis hin zu schweren Psychosen und Panikattacken. Die Untersuchungen von Donald Hebb zeigten, dass das menschliche Gehirn auf eine ständige Reizzufuhr angewiesen ist, um zu funktionieren, ansonsten kommt es zu degenerativen Prozessen.

Wenn man das menschliche Erleben und Verhalten als ein Zusammenspiel zwischen dem Individuum und seiner Umwelt betrachtet, ist es hilfreich, die Vorstellung eines Informationsaustausches zu verwenden, wie eine Analogie von Watzlawick et al. (1969) zeigt: Wenn man beim Gehen gegen einen Stein tritt, wird Energie vom Fuss auf den Stein übertragen und der Stein wird dadurch ins Rollen gebracht. Schliess-lich bleibt er an einer Stelle liegen, die durch die übertragene Energiemenge, die Form und das Gewicht des Steins, die aktuellen Windverhältnisse usw. vollkommen determiniert ist. Wenn man im Gegensatz dazu einen Hund tritt, könnte dieser auf-heulen und zubeissen. In diesem Fall wäre die Beziehung zwischen dem Tritt und dem Biss eine grundlegend andere, denn zweifelsohne würde sich der Hund der Energie seines eigenen Körperhaushalts und nicht der des Tritts bedienen. Hier wird demnach nicht mehr Energie, sondern Information übertragen. Mit anderen Worten, „der Tritt wäre eine Verhaltensform, die dem Hund etwas mitteilt, und der Hund reagiert darauf mit einer entsprechenden anderen Verhaltensform.“ (ebd., S. 30). Diese Begriffsverschiebung von „Energie“, wie sie in der klassischen Psychoanalyse verwendet wurde, hin zu „Information“, wie sie in der Synergetik[3] verwendet wird, führt dazu, dass der Prozess der Informationsverarbeitung fundamental aufgewertet wird. Das Gehirn wird dabei als Informationsverarbeitungsorgan betrachtet. Unter diesem Gesichtspunkt geht die Psychologie davon aus, „dass die Verhaltensäusse-rungen und das Erleben Resultate dieser Informationsverarbeitung sind.“ (Bösel 2006, S. 9).

Für die Psychologie als die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten eröffnet dieser Ansatz viele neue Erklärungsansätze. Wie fruchtbar dieses Paradigma der Informa-tionsverarbeitung ist, kann anhand einer Geschichte, die von Karl Popper anlässlich eines Vortrages[4] wiedergegeben wurde, dargelegt werden: Der Perserkönig Darius wollte den griechischen Bewohnern seines Landes eine Lektion erteilen. Bei den Griechen war es Brauch, ihre Toten zu verbrennen. Der König rief die in seinem Lande lebenden Griechen zu sich, und fragte sie, um welche Geldsumme sie bereit wären, die Leichen ihrer Väter zu essen. Sie antworteten, dass nichts auf der Welt sie dazu bringen könnte. Darauf rief der König die Kaladzier zu sich, die tatsächlich die Leichen ihrer Väter assen und fragte sie in Anwesenheit der Griechen, die einen Übersetzer zur Verfügung hatten, bei welcher Geldsumme sie bereit waren, die Kör-per ihrer verstorbenen Väter zu verbrennen. Sie schrien laut auf und flehten Darius an, eine solche Abscheulichkeit nicht einmal auszusprechen.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie menschliches Erleben und Verhalten als ein Infor-mationsverarbeitungsprozess verstanden werden kann:

1. Der Mensch nimmt externe (z.B. tote Mitmenschen) und interne (z.B. Ekel- und Angstgefühle, Gefühle des Entsetzens und der Abscheu) Informationen wahr.

2. Externe und interne Informationen werden selbstorganisiert verarbeitet und sind in einem zirkulären Ursache-Wirkungs-Verhältnis miteinander verbunden. Externe In-formationen (z.B. tote Mitmenschen) lösen interne Informationen in Form von Ge-fühlen (z.B. Trauer, Todesangst), Gedanken (z.B. in Form der Fragen: Warum gerade er/sie? Was passiert nach dem Tod? usw.) und Intentionen (z.B. die Ab-sicht, die Toten zu begraben) aus. Genauso denkbar ist allerdings, dass interne Informationen (z.B. ein Hungergefühl) Auswirkungen auf die Betrachtungsweise externer Informationen (tote Mitmenschen) haben können. Die toten Mitmenschen werden dann nicht mehr als Verstorbene, denen die letzte Ruhe zugestanden wird, sondern als potenzielle Nahrungsquelle betrachtet. Dieses auf den ersten Blick makabre Gedankenspiel geht auf eine wahre Gegebenheit zurück und wird im Tatsachenroman Alive: The story of the Andes Survivors von Piers Paul Read beschrieben. Das Buch schildert den Überlebenskampf eines Rugby-Teams aus Uruguay, das auf dem Weg zu einem Spiel in Chile über den Anden abgestürzt war. 72 Tage vergingen, bis einige Überlebende gerettet werden konnten. Um nicht zu verhungern, entschieden sie sich, die Überreste ihrer toten Kameraden zu essen. Traditionsgemäss würden Uruguayaner ihre toten Mitmenschen wie die Griechen begraben oder verbrennen. Besondere Umstände können aber dazu führen, dass sich bestimmte Verhaltensweisen schlagartig ändern.

3. Informationen werden auf selbstorganisierte Art und Weise verarbeitet und führen zu einem bestimmten Erleben und Verhalten. In den beiden Geschichten lösen un-terschiedliche Arten der Informationsverarbeitung unterschiedliche Verhaltenswei-sen aus (die Toten verbrennen vs. die Toten essen). Es besteht also ein Kausal-zusammenhang zwischen der Art und Weise der Informationsverarbeitung und dem Erleben und Verhalten.

Menschliches Erleben und Verhalten ist stark davon abhängig, was der Mensch an internen und externen Informationen erlebt und wie er diese selbstorganisiert verar-beitet. Im folgenden Kapitel sollen die Prinzipien dieses Verarbeitungsprozesses ge-nauer erläutert werden.

2 Der Informationsverarbeitungsprozess

Menschen sind – unabhängig davon, ob sie „gesund“ oder „krank“ sind, sich in einem privaten, beruflichen oder psychotherapeutischen Setting befinden – in erster Linie handelnde Wesen: Sie interagieren permanent mit ihrer unmittelbaren Umwelt. Zu diesem Zweck werden externe und interne Informationen wahrgenommen und verar-beitet, wobei es sehr faszinierend ist zu beobachten, wie unterschiedlich Menschen auf ein und dieselbe Situation reagieren. Dieses Phänomen finden wir ständig und überall: In einem Fussballspiel kommt es zu einem umstrittenen Zweikampf im Straf-raum. Für den Stürmer ist es ganz klar Penalty, für den Verteidiger eindeutig kein Penalty. In der Politik wird über Massnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise debattiert. Die eine Partei ist der Meinung, nur eine Auflösung des Euro kann die Wende herbeiführen. Für die andere Partei würde das den Untergang überhaupt erst besiegeln. Zwei Kinder streiten miteinander und jedes behauptet, dass das andere mit dem Streit angefangen hat. Eine Person hat panische Angst vor Spinnen, welche von einem Hobbyzüchter als Haustiere gehalten werden. Die Beispiele lassen sich endlos fortführen. Die Frage, die zurückbleibt, ist stets dieselbe: Wie können zwei Beteiligte dieselbe Situation so völlig unterschiedlich verstehen?

Unterschiedliche Wahrnehmungen lassen sich jedoch nicht nur zwischen zwei Per-sonen feststellen. Auch eine einzelne Person nimmt ähnliche Situationen z.T. ganz unterschiedlich wahr. Beispielsweise wird eine stattliche Ansammlung von Menschen im Bahnhof als Gedränge und in einer Disco als Atmosphäre erlebt.

Die Beispiele zeigen eindrücklich, dass Informationen nicht bloss aufgenommen, sondern im Hirn (unterschiedlich) verarbeitet werden. Die Wahrnehmung stellt offen-bar keinen passiven, sondern einen aktiven kognitiven Prozess dar und setzt sich aus den folgenden drei Schritten zusammen:

1. Schritt: Prozess der Aufnahme sensorischer Reize
2. Schritt: Prozess der Verarbeitung von sensorischen Reizen/Information
3. Schritt: Prozess des Informationsaustauschs bzw. Weitergabe sensorischer Reize

Informationen werden als Reize aufgenommen, intern zur Information verarbeitet und weitergeleitet, d.h. wiederum als sensorischer Reiz mit der Umwelt ausgetauscht. Diese kognitiven Prozesse erlauben es dem Menschen, sich in seiner Umwelt zu orientieren, sich mit ihr auszutauschen bzw. sich in ihr zurecht zu finden. Auf diese Weise kann der Alltag bewältigt bzw. das gesellschaftliche Zusammenleben ermög-licht werden.

2.1 Der Prozess der Aufnahme sensorischer Reize

Die Welt bietet eine ungeheure Vielfalt an physikalischen Reizen, von denen der Mensch niemals alle wahrnehmen kann. Die Wahrnehmungsmöglichkeiten sind zu-erst einmal biologisch, d.h. durch die Sinnesorgane begrenzt. Das menschliche Ge-hirn nimmt über das Nervensystem mittels Rezeptoren nur ganz bestimmte Reize in Form von elektrochemischen Signalen auf. Reize, die sich nicht mit den Sinnesor-ganen erfassen lassen (wie beispielsweise infrarote Strahlung) oder die nicht eine bestimmte Intensität aufweisen (Schallwellen z.B. nur im Bereich von 20 Hz bis 20 kHz), können nicht wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmungsbegrenzungen sind sehr artspezifisch.

Neben der begrenzten Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane existiert ein weiterer Ein-grenzungsfaktor im Wahrnehmungsprozess: die beschränkte Verarbeitungskapazität des Gehirns. Der Mensch kann nur eine kleine Menge der auf ihn einströmenden Reize bewusst wahrnehmen (Kapazität von 7 plusminus 2 Sinn-Einheiten). Die Auf-merksamkeit bzw. das Bewusstsein kann mit einer Taschenlampe verglichen wer-den. Aufgrund der Enge des Bewusstseins kann die Aufmerksamkeit jeweils nur auf einen Inhalt gerichtet werden, der grösste Teil der einströmenden sensorischen Rei-ze wird darum mehr oder weniger effektiv ausgeblendet. Wenn wir beispielsweise ein Gespräch führen, filtern wir die Umgebung weg, damit wir uns möglichst ungestört auf die Worte des Gesprächspartners konzentrieren können (sog. Cocktailparty-Phä-nomen). Dies führt dazu, dass wir sehr oft auffällige Informationen oder Veränderun-gen in unserer Umgebung gar nicht wahrnehmen. Ersteres wird als „Unaufmerksam-keitsblindheit“, letzteres als „Veränderungsblindheit“ bezeichnet. Diese Phänomene wurden mit Experimenten sehr eindrücklich demonstriert. Simons & Chabris (1999) konnten aufzeigen, wie unsere Aufmerksamkeit das, was wir wahrnehmen, filtert, ohne dass wir uns dieses Filters bewusst sind. Sie haben Versuchspersonen ein Video gezeigt, in dem zwei Basketballteams durcheinander laufen und die Spieler innerhalb ihres Teams einander einen Ball zuspielen. Die Aufgabe der Versuchsper-sonen bestand darin, die Anzahl Pässe eines der beiden Teams zu zählen. Während dieser Zeit verändert sich im Hintergrund die Farbe des Vorhangs und es läuft eine als Gorilla verkleidete Person quer durch das Bild. Beide an sich auffälligen Ereignis-se werden von mehr als der Hälfte der Versuchspersonen gar nicht wahrgenommen, weil sie so sehr mit dem Zählen der Pässe beschäftigt waren. Diese selektive Blind-heit kann auf die beschränkte Aufnahmekapazität des Kurzzeitgedächtnisses zurück-geführt werden. Diese „blinden Flecken“ sind im Alltagsleben sehr stark verbreitet, aber eben auch lebensdienlich, weil sie den Menschen vor einer Überflutung bzw. Überforderung durch Reize schützen. Wie viele Informationen im Wahrnehmungs-prozess verloren gehen, zeigt folgende Abbildung:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-1: Wahrnehmungsfilter: Aufnahmefähigkeit und bewusste Verarbeitung (Willems 2003, S. 11)

Die Darstellung zeigt eine enorme Diskrepanz zwischen der Menge an eintretenden Reizen und der im Gegensatz dazu sehr geringen Verarbeitungskapazität des Ge-hirns. „’Viele unbewusst aufgenommene Reize sind generell zu kurz oder zu schwach, als dass sie unsere Grosshirnrinde in einer für das bewusste Erleben not-wendigen Weise aktivieren, oder sie werden durch subkortikale Filterprozesse vom Bewusstsein ausgeschlossen’ (Roth 2004, S. 63). Wahrnehmung ist demzufolge ein Prozess der Filterung. Ähnliches haben wir schon im vorigen Kapitel diskutiert. Die notwendige Reduktion der Komplexität lässt eben nur manches ins Bewusstsein. An-deres wird gespeichert und taucht dann an anderer Stelle wieder auf, um den be-wussten Teil zu ergänzen oder mit ihm zu interferieren (Bienenstein & Rother, 2009).

Würde der Mensch alles registrieren, was um ihn herum vorgeht, wäre er komplett überfordert, was die Bedeutung des Selektionsprozesses unterstreicht. Eindrückliche Fallbeispiele hierzu werden von Luria (1995) und Sacks (1988) beschrieben. Auf-grund der eingeschränkten Verarbeitungskapazität kann das menschliche Gehirn nicht viele Reize gleichzeitig verarbeiten. Es ist stattdessen gezwungen zu filtern. Wie wichtig dieser Filtermechanismus ist, lässt sich am klinischen Bild der Aufmerk-samkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)[5] zeigen. Die partielle Wahrneh-mungsblindheit kann demnach auch als Schutz vor zu grosser Ablenkung angese-hen werden und hilft uns, in einer zunehmend unübersichtlicher werdenden Welt zu funktionieren.

Insgesamt kann man festhalten, dass aufgrund der Filtermechanismen (begrenzte Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane bzw. Verarbeitungskapazität) nur eine kleine Teilmenge der sensorischen Reize bis ins Bewusstsein durchdringt. Ein grosser Teil der gesamten Informationsmenge bleibt unbewusst, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Reize keine Wirkungen erzielen.

2.2 Der Prozess der Verarbeitung von sensorischen Reizen/Information

Die Wahrnehmung erfolgt zwar immer über die Sinnesorgane, sie kann jedoch nicht auf Sinnesleistungen reduziert werden, denn für die Filterung sind kognitive Prozes-se erforderlich, die eine Selektion ermöglichen. Zu diesem Zweck ist die datenge-steuerte, d.h. durch Sinnesorgane in Gang gesetzte Aufnahme sensorischer Reize (der sog. Bottom-up-Prozess) mit konzept- oder strategiegeleiteten Prozessen (dem sog. Top-down-Prozess) gekoppelt.

2.2.1 Die Architektur des Gehirns

Diese Verbindung von sensorischen Reizen mit kognitiven Prozessen kann mit ana-tomischen Fakten belegt werden (vgl. Schiepek 2006): Das menschliche Gehirn be-steht aus ca. 100 Milliarden Nervenzellen. Dabei wird unterschieden zwischen einge-henden, d.h. afferenten Nervenzellen (= Bahnen von peripher nach zentral) sowie solchen Nervenzellen, die mit der systeminternen Reizverarbeitung befasst sind. Schätzungen zufolge steht der Anteil von Afferenz: innere Verarbeitung bei ca. 1 : 100'000. Dies bedeutet, dass eine externe Erregung zusammen mit 100'000 internen Erregungen verarbeitet wird. Daraus lässt sich schliessen, dass die Verarbeitung ex-terner Reize geringfügig ist im Vergleich zu den internen Prozessen. Zwischen den systeminternen Nervenzellen bzw. netzwerkartigen Zellverbänden bestehen hoch-komplexe Feedbackmechanismen mit erregenden und hemmenden Effekten. Auf-grund seiner hochgradigen Binnenverdrahtung – es bestehen bis zu 10'000 synapti-sche Verbindungen eines Neurons zu anderen Neuronen, insgesamt ca. 100 bis 500 Billionen Synapsen – beschäftigt sich das Gehirn sozusagen wesentlich mit sich selbst. Es „ist eine Vielzahl von kommunikativen Schleifen zwischen den Einheiten und Teilstrukturen des Gehirns angelegt, welche efferente und afferente, aktivieren-de und inhibierende, proaktive und reagierende, Bottom-up- und Top-down-Verbin-dungen ermöglichen.“ (Haken & Schiepek 2006, S. 59). Aus dem Bottom-up/Top-down-Konzept, das sich allein aus der Architektur des Gehirns ergibt, leitet sich schliesslich die Feststellung ab, „dass ein Wahrnehmen ohne ein gleichzeitiges Erin-nern und gefühlsmässiges Bewerten, oder ein Erinnern ohne ein gefühlsmässiges Bewerten und Wahrnehmen, oder ein Gefühl ohne einen Erinnerungsbezug und eine wahrnehmungsmässige Repräsentation, nicht möglich ist.“ (Fahrenberg 2004, S. 177).

Aus dieser anatomischen Konstellation ergeben sich drei Konsequenzen:

1. Der Wahrnehmungsprozess stellt eine hochkomplexe Konstruktionsleistung aus Bottom-up- und Top-down-Prozessen dar. Aus der Architektur des Gehirns lassen sich eindeutig Top-down-Einflüsse auf die Informationsverarbeitung nachweisen. Eine visuelle Empfindung ist nie allein die Wahrnehmung eines Objekts (Bottom-up), sondern sie ist immer subjektiv angereichert (Top-down) und basiert daher nur teilweise auf den externen Reizen. Die Verknüpfung von Bottom-up- und Top-down-Prozessen führt dazu, dass sensorische Reize immer mit Bedeutung ange-reichert werden. Beispielsweise wird ein Football-Spiel von den Fans zweier Mannschaften ganz unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt, wie Hastorf & Cantril (1954) aufgezeigt haben. Die Forscher haben Studenten Spielszenen eines Spiels zwischen den stark rivalisierenden Teams der Princeton-Universität und dem Dartmouth-College gezeigt. Dabei stellte sich heraus, dass die Studen-ten so unterschiedlich auf das vorgeführte Spiel reagierten, als hätten sie ver-schiedene Spiele gesehen. Die Princeton-Studenten sahen ständig Fouls, Ge-walttätigkeiten und Unsportlichkeiten von Seiten der Dartmouth-Spieler. Sie ver-traten gleichzeitig die Meinung, dass die Princeton-Spieler demgegenüber eher wenig körperbetont spielten und wenn überhaupt, dann reagierten sie nur in Form von Selbstverteidigung auf die harte Gangart des Gegners. Die Dartmouth-Stu-denten hingegen schätzten beide Teams als aggressiv ein, bewerteten aber die Unsportlichkeit und Aggressivität ihres Teams lediglich als nachvollziehbare Ant-wort auf die brutale Gangart des Gegners. Das Football-Experiment verdeutlicht, wie stark Top-down-Prozesse im Wahrnehmungsprozess involviert sind. Beide Fangruppen sahen dasselbe Ereignis. Aufgrund der unterschiedlichen Bedeutung reagierten sie jedoch sehr unterschiedlich darauf. Im Wahrnehmungsprozess spielt die Bedeutungsgenerierung eine zentrale Rolle und ist für sehr unterschied-liche Erlebens- und Verhaltensformen verantwortlich.

2. Man kann aufgrund der hochgradigen Binnenverdrahtung Wahrnehmung, Kogni-tionen, Emotionen und Verhalten nicht mehr trennen. All diese Aspekte sind un-trennbar miteinander verbunden: „Es gibt kein Denken, welches nicht die emotio-nale Lage eines Individuums verändert und wiederum von dieser beeinflusst wird.“ (Dörner 1979, S. 7). Von dieser Überlegung geht auch Luc Ciompi (1982, 1997) mit seinem Konzept der „Affektlogik“ aus. Der Terminus „Affektlogik“ be-sagt, „dass die ‚Logik’ und die ‚Affekte’ eng miteinander verbunden sind und [...] voneinander losgelöst gar nicht vorkommen.“ (Ciompi 1982, S. 47). Affektive und kognitive Komponenten verbinden sich mit dem dazugehörigen Erleben und Ver-halten zu funktionell integrierten „Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern“ (vgl. Ciompi 1997).

3. Das hochkomplexe Netzwerk kann zu beträchtlichen Störungen in der Wahrneh-mung führen. Strik & Dirks (2011) haben hierzu Untersuchungen zu Störungen des Ich-Bewusstseins durchgeführt. Es gibt Schizophreniekranke, die ihre eige-nen Gedanken als fremde Stimmen hören. Dieses Stimmenhören ist auf eine Aktivierung des akustischen Kortex zurückzuführen. Normalerweise wird diese Hirnregion nur bei Reizung durch äussere Laute aktiv, nicht aber beim Nachden-ken, also beim inneren Reden. Aufgrund einer veränderten Aktivität des Gehirns kann es nun geschehen, dass bei Schizophreniekranken beim Denken zusätzlich eine Aktivierung der Hörrinde erfolgt, was dem Denken die täuschende Qualität eines wirklichen Hörens verleiht. Als Folge davon „schreiben Schizophreniekran-ke anderen Personen oder der Umwelt Äusserungen zu, die sie selber tätigen. Die Grenze zwischen ihnen selbst und anderen ist in solchen Fällen brüchig, so-dass es nicht überrascht, dass auch ihre Selbstidentität häufig in Frage gestellt ist.“ (Hell 2007, S. 371). Ein weiteres eindrückliches Beispiel für eine neurolo-gisch bedingte Wahrnehmungsstörung, die im Zusammenhang steht mit der Stö-rungsanfälligkeit der hochkomplexen Binnenverdrahtung, stellt das sog. Charles Bonet Phänomen dar (vgl. Kömpf 1998). Man hat festgestellt, dass wenn der Bottom-up-Prozess – der auch eine Art Reality-Check Funktion ausübt – defekt ist, manche Leute beginnen, Dinge zu sehen, die es gar nicht gibt. D.h. alles, was sich diese Leute einbilden, wird als wahr angenommen, weil der Top-down-Prozess aktiv ist, die Kontrolle des Bottom-up-Prozesses hingegen fehlt.

Solche Wahrnehmungsverzerrungen lassen sich aber nicht nur in der Psychiatrie, sondern ebenso im gewöhnlichen Alltag finden. Sehr intensive Wünsche, Erwar-tungen oder Ziele können als Top-down-Reize zu regelrechten Verzerrungen der Wahrnehmung führen. Eine vorgestellte Welt ist derart präsent, dass reale Gege-benheiten verzerrt, verdreht oder ausgeblendet werden, um die Scheinwelt zu be-wahren. Die Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse kann sogar bis in die körperli-che Ebene hineinwirken. Es kommt ziemlich häufig vor, dass wir am Vorabend vor wichtigen Ereignissen (z.B. eine Hochzeit, eine wegweisende Prüfung, ein grosser Wettkampf usw.) sehr nervös und angespannt sind. Es ist jedem klar, dass diese körperlichen Symptome mit der rein mentalen Vorstellung zusammen-hängen und in keinster Weise auf eine physikalische Ursache zurückzuführen sind. Gerade dieses Beispiel macht deutlich, dass Top-down-Prozesse auch im „normalen“ Alltag gegenüber den Bottom-up-Prozessen deutlich Überhand erlan-gen können.

Viele klinische Störungsbilder zeigen, dass Verstehens-, Bewusstseins- und Handlungsprozesse auf physiologischen Grundlagen beruhen. Ist die Funktions-fähigkeit des Gehirns beeinträchtigt, treten zwangsläufig psychische Veränderun-gen bzw. Störungen auf. An dieser Stelle befindet sich i.d.R. die Schnittstelle zwi-schen Psychotherapie und Psychiatrie. Die mit neurologischen Ursachen einher-gehenden Verhaltensveränderungen, wie sie beispielsweise im Fall von Phineas Gage beschrieben wurden (vgl. Bösel 2006), sollten nicht mehr weiter als „gei-steskrank“ abqualifiziert werden, sondern verdienen einen weitaus respektvolle-ren Umgang. Der Terminus „Störung“ scheint in einem solchen Zusammenhang angepasster zu sein.

Der kognitive Top-down-Prozess beinhaltet alle mentalen Vorgänge, die etwas mit (Wieder-)Erkennen, Interpretation und Deutung zu tun haben, also Gedanken, Ein-stellungen, Überzeugungen, Wünsche, Absichten, Emotionen, Gedächtnis, Lernen sowie Kreativität und ist verantwortlich dafür, dass der Mensch sich keineswegs neu-tral oder passiv gegenüber hereinströmenden Reizen verhält. Dies bringt mit sich, dass Menschen ein und dasselbe Geschehen sehr unterschiedlich wahrnehmen.

2.2.2 Die handlungsleitenden Motive des Menschen

Die Verarbeitung sensorischer Daten erfolgt über bewusste und unbewusste Top-down-Prozesse. Insgesamt werden jene Reize weiter verarbeitet und zu „Informa-tion“ transformiert, welche für ein Individuum aktuell von Bedeutung sind. Als „bedeu-tungsvoll“ können auch Gefahren (z.B. ein lauter Knall) oder unbekannte, d.h. irritie-rende Reize klassifiziert werden. Generell handlungsleitend sind psychophysische Motive, die mit Aufgaben und Zielen verbunden sind. Grawe & Caspar (2012) haben schwerpunktmässig vier Grundbedürfnisse evaluiert, die im Wahrnehmungsprozess besonders relevant sind, nämlich

- das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle,
- das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung,
- das Bindungsbedürfnis und
- das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz.

Diese „Bedürfnisse [...] bestimmen den grössten Teil der zielgeleiteten psychischen Aktivität“, wobei „das oberste Prinzip des psychischen Funktionierens [...] das Stre-ben nach Konsistenz“ (ebd., S. 41) ist. Es ist allen anderen Bedürfnissen übergeord-net: „Konsistenz der gleichzeitig ablaufenden psychischen Prozesse ist mehr als ein Bedürfnis, es ist ein unverzichtbares Systemerfordernis.“ (ebd., S. 41). Konsistenzbil-dung macht das Leben grundsätzlich planbarer, prognostizierbarer und damit siche-rer.

Aufgaben, Ziele und Motive werden somit immer in einen sinnvollen Kontext gestellt. Der Einfluss der Motivation auf den Prozess der Informationsaufnahme und -verar-beitung kann am Beispiel Hunger aufgezeigt werden: Ein Mensch, der hungrig ist, neigt eher dazu, einen mehrdeutigen Stimulus als Nahrung wahrzunehmen. So wird z.B. plötzlich der Mond als ein Käselaib wahrgenommen. Dieser Einfluss der Motiva-tion auf die Wahrnehmung zeigt, dass der Wahrnehmende nicht nur das, was er hört und sieht, in ökonomische Erfahrungseinheiten strukturiert, sondern auch das, was er hört und sieht, korrigiert und zensiert, indem er selektiv seine Wahrnehmung mit seinen inneren Bedürfnissen abstimmt.

Wenn die Wahrnehmungen einer Person nicht mit ihren Erwartungen und Bereit-schaften bzw. Bedürfnissen übereinstimmen, ist die Konsistenz psychischer Prozes-se gefährdet. Grawe & Caspar sprechen von externer und interner Inkonsistenz: „Ex-terne Inkonsistenz ist identisch mit Nicht-Befriedigung der Bedürfnisse, interne Inkon-sistenz behindert durch die Konflikthaftigkeit die Befriedigung der Bedürfnisse.“ (ebd., S. 41). Gerade diese Konflikthaftigkeit zwischen verschiedenen Bedürfnissen stellt im Alltag eine ungemein grosse Herausforderung dar. Im Privaten befriedigt einerseits eine Ehe das Bedürfnis nach Bindung und Treue, andererseits widerspricht es dem Bedürfnis nach Freiheit und eventueller Polygamie.[6] Im Beruf ringt man mit einem attraktiven Jobangebot, der mit einem langen Arbeitsweg und vielen Auslandaufent-halten verbunden ist, was das Familienleben stark beeinträchtigt. Die Psychosyn-these (vgl. Assagioli 2004) mit ihrem Konzept der Teilpersönlichkeiten befasst sich sehr stark mit diesen Schwierigkeiten.

Das Konsistenzbedürfnis des Menschen findet man auch im salutogenetischen Kon-zept von Aaron Antonovsky (1997). Seine ganzheitlich orientierten Überlegungen zur Salutogenese entwickelte er vor dem Hintergrund, dass sich relativ viele ehemalige KZ-Insassen trotz vieler Qualen subjektiv wie auch objektiv in einem verhältnismäs-sig guten Gesundheitszustand befanden. Im Unterschied zum klassischen Vorgehen der Medizin fragte er nach den Faktoren, die dafür gesorgt haben, dass Menschen trotz widriger Umstände nicht erkranken, sondern gesund bleiben. Das Salutogene-se-Modell beinhaltet neben Stressfaktoren auch Schutzfaktoren, was einen Paradig-mawechsel in der Medizin darstellt. Einen zentralen Schutzfaktor bildet der „Sinn für Kohärenz“. Dabei geht es v.a. darum, ein Grundgefühl des Vertrauens in die Beein-flussbarkeit und den sinnvollen Zusammenhang des eigenen Lebens zu entwickeln. Antonovsky (1997) unterscheidet drei sich beeinflussende Komponenten:

- Verstehbarkeit: Damit ist gemeint, dass im Verlaufe des Lebens eintretende Bela-stungen strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind.
- Bewältigbarkeit: Damit ist gemeint, dass man über Möglichkeiten verfügt, die zur Verfügung stehenden Ressourcen im Hinblick auf die sich stellenden Anforderun-gen zu beurteilen.
- Sinnhaftigkeit: Damit ist gemeint, dass diese Belastungen Herausforderungen dar-stellen, die es wert sind, etwas zu investieren und sich zu engagieren.

Der Kohärenzsinn stellt ein positives Selbstbild der Handlungsfähigkeit und der Be-wältigbarkeit von externen und internen Lebensbedingungen dar, verbunden mit dem Bestreben, dem Leben einen subjektiven Sinn zu geben. Sind diese Bedingungen erfüllt, ergibt sich ein Gefühl der Konsistenz.

Wie wichtig Kohärenz bzw. Konsistenz für den Menschen ist, zeigt sich daran, dass es kaum etwas gibt, „das für den Menschen beängstigender ist, als wenn die Struk-turen seiner Lebenswelt sich auflösen – wenn jedwede Ordnung zusammenbricht und er sich dem Unvorherseh- und Unvorhersagbaren ausgeliefert erleben muss.“ (Kriz 1999, S. 133). Wenn der Mensch bestimmte Situationen oder Sachverhalte nicht kontrollieren und beeinflussen kann, neigt er zu einer Haltung, die in der Psy-chologie als „erlernte Hilflosigkeit“ (vgl. Seligman 1979) bekannt ist. Der Kontroll- und Kohärenzverlust kann zu Angst, Depressionen und schliesslich zu Resignation füh-ren.

Wie sehr der Mensch sprichwörtlich bis zum letzten Atemzug um Kohärenz bzw. Sinn ringt, hat Viktor Frankl sehr treffend formuliert: „Ob er es will oder nicht, ob er es wahr hat oder nicht – der Mensch glaubt an einen Sinn, solange er atmet. Noch der Selbstmörder glaubt an einen Sinn, wenn auch nicht des Weiterlebens, so doch des Sterbens. Glaubt er wirklich an keinen Sinn mehr – er könnte eigentlich keinen Finger mehr rühren und schon darum nicht zum Selbstmord schreiten.“ (Frankl 1972, S. 118). Der Suizid stellt sozusagen den verzweifelten Versuch dar, dem ganzen Chaos, Unsinn und Kontrollverlust eine (allerletzte und endgültige) Wendung zu geben.

Die Aufrechterhaltung bzw. Wiedergewinnung von Konsistenz ist das Motiv des menschlichen Erlebens und Verhaltens schlechthin und lässt sich auch in verschie-dener Weise in fast jeder Theorie wieder finden (psychodynamisch in Konfliktbewälti-gungsstrategien, gestalttherapeutisch in der Selbstaktualisierung, logotherapeutisch in der Sinnfindung, usw.). Inkonsistenz bildet demgegenüber generell den Nährbo-den für die Entwicklung psychischer Störungen wie Angst- und Zwangsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen usw.

2.2.3 Die Generierung von Konsistenz, Kohärenz und Bedeutung

Die Konsistenzbildung bzw. -sicherung im Wahrnehmungsprozess erfolgt über meh-rere Prinzipien:

- das Prinzip der Bestätigung
- das Prinzip der Abwehrmechanismen
- das Prinzip der Kontrollillusion
- das Prinzip der Überaktivität
- das Prinzip der Auflösung kognitiver Dissonanzen
- das Prinzip der Kontextabhängigkeit
- das Prinzip der Ganzheitlichkeit
- das Prinzip der Komplexitätsreduktion
- das Prinzip der Ordnungstendenz

Aufgrund dieser Prinzipien ist der Einfluss von Top-down-Prozessen auf sensorische Reize allgegenwärtig.[7] Die Wahrnehmung erhält dadurch einen gestalterischen Aspekt.

Wie stark die Konsistenzbildung in der Wahrnehmung ist, lässt sich mit dem Stroop-Experiment aufzeigen. In der Regel werden Reize auf routinemässige, eben konsi-stenzbildende Art und Weise verarbeitet. Sobald aber Interferenzen zwischen zwei gleichzeitig wahrgenommenen Reizen bestehen, ist das sehr verwirrend. Im Experi-ment müssen gedruckte Farbworte gelesen werden, d.h. die Probanden werden auf-gefordert, die Farbe und nicht die Wörter selbst vorzulesen. Wenn die Druckfarbe nicht mit der gelesenen Farbbezeichnung übereinstimmt, wird es schwierig, sich auf die Benennung der Druckfarben zu konzentrieren. Beim Benennen der inkongruen-ten Druckfarben (das Wort „blau“ ist z.B. rot gedruckt) zeigt sich die Inkongruenz, was dazu führt, dass die Benennung langsamer erfolgt, als wenn die Druckfarben bei neutralen Zeichen genannt werden muss (beispielsweise, wenn das Wort „Stuhl“ rot geschrieben wäre).

Das Stroop-Experiment ist ein sehr schönes Beispiel für Verarbeitungskonflikte bzw. Interferenzen, „die dadurch entstehen, dass sich gewohnheitsmässig entstehende und absichteninduzierte Aktivierungen im exekutiven Prozess wechselseitig hem-men.“ (Bösel 2006, S. 68).

Informationen können generell kongruent und inkongruent sein. Kongruent sind In-formationen, wenn sie in sich stimmig sind, wenn also alle Reize und Signale auf allen Ebenen kompatibel sind. Inkongruente Informationen können entstehen, wenn z.B. sprachliche und nichtsprachliche Signale widersprüchlich sind, wenn also je-mand, der mit dicken Kleidern zugedeckt ist, sich über die Hitze beklagt. Solche Gegebenheiten sind für uns verwirrend und wir versuchen entsprechend mit allen möglichen Mitteln, sie aufzuheben und ein Gefühl von Konsistenz zu erzeugen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-2: Das Stroop-Experiment (Ansorge & Leder 2011, S. 74)

Das Prinzip der Bestätigung

Das Stroop-Experiment hat aufgezeigt, wie verwirrend Inkonsistenz ist, weshalb wir ständig versuchen, Konsistenz zu bilden und v.a. aufrecht zu erhalten. Die Konsis-tenzsicherung erfolgt über das Prinzip der Bestätigung. Das heisst, wir haben „die Tendenz, neue Informationen so zu interpretieren, dass sie mit unseren bestehenden Theorien und Überzeugungen kompatibel sind.“ (Dobelli 2011, S. 29). Dies führt da-zu, dass Informationen, die im Widerspruch stehen zu unseren Ansichten, ignoriert bzw. ausgefiltert werden, wobei folgender Grundsatz gilt: Je schwammiger eine Theorie oder Überzeugung ist (z.B. das Schulsystem ist gut), desto einfacher wird es, Argumente zu finden, die diese Annahme bestätigen. Definitiv problematisch wird es dann, wenn diese allgemein formulierten Theorien mit unsinnigen Beweisführun-gen bestätigt werden. So existiert z.B. in gewissen psychoanalytischen Kreisen die Hypothese, dass in ihrer Kindheit zu früh entwöhnte männliche Erwachsene sich eher zu Frauen mit grossen Brüsten hingezogen fühlen. Bei einer Untersuchung stellte sich jedoch heraus, dass die Gruppe der als zu früh entwöhnt etikettierten Erwachsenen hochsignifikant häufiger Frauen mit kleinen Brüsten als attraktiv/sym-pathisch bezeichneten als die Kontrollgruppe. Anstatt die Hypothese zu verwerfen, wurde sie nach den Gesetzen der „psychoanalytischen Beweisführungsakrobatik“ (vgl. Schleeger 1992) bestätigt: Gerade die Tatsache, dass die Versuchsgruppe Frauen mit kleinen Brüsten besonders häufig wählte, belege „in Wirklichkeit“ ihre These, denn der Wunsch nach grossen Brüsten sei bei den zu früh entwöhnten Männern so gross, dass er als nicht erlaubt erlebt wird und in das Gegenteil verkehrt. Dank der Filterung von Kritik oder einer fragwürdigen Interpretation gegenteiliger Tatsachen können bestehende Auffassungen problemlos erhalten bleiben.

Diese Bestätigungstendenz in der Wahrnehmung ist ein sehr allgemein verbreitetes Phänomen. Oft werden gegenteilige Sachverhalte als „Spezialfälle“ oder „unvorher-gesehene Schwierigkeiten“ abgetan. Dies ist ein Zeichen dafür, dass man blind ist für falsifizierende Informationen (sog. Disconfirming Evidence). Diese Problematik greift Karl Poppers (2005) erkenntnistheoretische Theorie des kritischen Rationalismus auf. Er plädiert aus guten Gründen für die Methode des Falsifikationsprinzips, weil die Verifikation die blinden Flecken eher fördert als verhindert. Typisch hierfür sind all die Interessenvereinigungen und Communities von Gleichgesinnten, die eine Theorie bis hin zum Dogma zementieren, anstatt offen zu bleiben für kritische Einwände und neue Ideen.

Wir haben es nicht gerne, wenn unsere Überzeugungen ins Wanken geraten. Dies ist oft mit Unsicherheits- und Unlustgefühlen verbunden, weshalb wir immer wieder auf der Suche nach Bestätigungen für unsere Ansichten sind. Gegenteilige Eviden-zen lassen sich zwar i.d.R. finden, aber wir hören und sehen sie nicht – weil wir das gar nicht wollen.

Dass unser Denken mehr dem Verifikations- als dem Falsifikationsgrundsatz folgt, zeigt folgendes Experiment. Nachdem Studenten die Zahlenreihe 2-4-6 präsentiert wurde, sollten sie die dahinter liegende Regel herausfinden. Die Studenten konnten hierfür dem Versuchsleiter eine Zahl angeben, worauf dieser mit „Passt auf die Re-gel“ bzw. „Passt nicht auf die Regel“ antwortete. Sie durften so viele Zahlen nennen, wie sie wollten. Die Zahlenreihe verleitete die Studenten zu der Regel n+2. Entspre-chend ihrer Vermutung fragten sie die Zahlen „8“, dann „10“ usw. ab. Da der Ver-suchsleiter immer mit „Passt auf die Regel“ antwortete, sahen sie ihre These bestä-tigt und sie präsentierten ihre Lösung, die jedoch falsch war. Hätten die Studenten die Methode der Falsifikation angewendet, wären sie eher auf die richtige Lösung gekommen. Sie hätten bewusst auch andere Zahlen nennen sollen wie z.B. 0, -4. Auf die Zahl 10 hätten sie statt der 12 z.B. bewusst die 20 nennen sollen. Dann wären sie viel eher auf die richtige Regel gestossen, die lautete: Die nächste Zahl muss höher sein als die vorherige (n2 > n1). Das Experiment zeigt, dass wir vermehrt nach widersprechenden Beobachtungen Ausschau halten sollten – gerade wenn es um Theoriebildungen geht! Franklin D. Roosevelt soll einmal gesagt haben: „Menschen sind nicht Gefangene ihres Schicksals, sondern nur Gefangene ihrer Gedanken.“

Das Prinzip der Abwehrmechanismen

Gegen Inkonsistenz wird mit allen möglichen psychologischen Mitteln angekämpft, wie das Beispiel des Säufers in de Saint-Exuperys Der kleine Prinz aufzeigt:

„‚Warum trinkst du?’, fragte der kleine Prinz.

‚Um zu vergessen’, antwortete der Säufer.

‚Um was zu vergessen?’, erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte.

‚Um zu vergessen, dass ich mich schäme’, gestand der Säufer und senkte den Kopf.

‚Weshalb schämst du dich?’, fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen.

‚Weil ich saufe!’, endete der Säufer und verschloss sich endgültig in sein Schweigen.“ (de Saint-Exupery 2005, S. 46).

Stavros Mentzos (1984) hat im Zusammenhang mit dem Konsistenzbedürfnis auf die Bedeutung der Abwehrmechanismen hingewiesen, die darauf abzielen, „unlustvolle Gefühle, Affekte, Wahrnehmungen etc. vom Bewusstsein fernzuhalten“. Diese Ab-wehrmechanismen sind zu verstehen als „unbewusst ablaufende Vorgänge, die zwar primär [...] Schutz- und Bewältigungsaufgaben darstellen, die jedoch [...] letztlich dys-funktional werden“, weil sie zunächst eine Entlastung herbeiführen, letztendlich je-doch Probleme nur pseudolösen bzw. eine „ bewusste Erledigung des Konfliktes ver-hindern.“ (ebd., S. 60f.).

Mentzos (1984) weist im Übrigen darauf hin, dass eine Abgrenzungslinie zwischen normalen Bewältigungs- und pathologischen Abwehrmechanismen nicht scharf gezo-gen werden kann. Diese Anmerkung unterstreicht die grundlegende und elementare Bedeutung der Konsistenz, die Irvin Yalom wie folgt ausgedrückt hat: „Wir benötigen den Trost einer absoluten Wahrheit, weil wir das Elend einer rein zufälligen Existenz nicht ertragen können. [...] Beherrscht von einem angeborenen, nach Lösung stre-benden, gestaltsuchenden Bedürfnis, wie wir es nun einmal haben, klammern wir uns hartnäckig an den Glauben, dass irgendeine Erklärung möglich ist. Es macht die Dinge erträglich, es verleiht uns ein Gefühl von Kontrolle.“ (Yalom 2002, S. 188).

Das Prinzip der Kontrollillusion

Der Mensch ist zu einem grossen Teil zufälligen Kräften ausgesetzt, über die er nicht wirklich bestimmen kann. Diese Unsicherheiten und Unabwägbarkeiten des Lebens versucht der Mensch mittels sog. „Kontrollillusionen“ (vgl. Dobelli 2011) oder Theo-rien zu bändigen, sodass er im Allgemeinen daran glaubt, am Steuer zu sitzen und die Kontrolle über aktuelle und zukünftige Ereignisse zu haben. Nichts belegt diese sog. Kontrollillusion besser als die Geschichte vom klatschenden Mann:

Ein Mann klatschte ständig in die Hände. Wenn er nach dem Grund für dieses merkwürdige Verhalten gefragt wird, erklärt er jeweils bereitwillig:

„Um die Elefanten zu vertreiben!“

Die Leute reagieren jeweils sehr verwirrt: „Elefanten? Aber hier gibt es doch gar keine Elefanten!“

Darauf antwortet der klatschende Mann jeweils triumphierend: „Na also! Sehen Sie!“

Die Überzeugung der Kontrolle erwächst aus dem aktiven Versuch, verwirrende und sogar traumatische Ereignisse in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen. Selbst bei unlösbaren Fragen glauben wir an Theorien. Für viele Menschen stellt z.B. die Gottesvorstellung das tragende Element schlechthin im Leben dar, obschon niemand die Existenz Gottes beweisen kann (was wiederum nicht bedeutet, dass es Gott nicht gibt).

Rolf Dobelli (2011) beschreibt die Kontrollillusion als „die Tendenz zu glauben, dass wir etwas kontrollieren oder beeinflussen können, über das wir objektiv keine Macht haben.“ (ebd., S. 66). Der Alltag ist voll davon. Beispielsweise werfen i.d.R. die Leute im Casino den Würfel besonders schwungvoll, wenn sie eine hohe Zahl brauchen und möglichst sanft, wenn sie eine tiefe Zahl benötigen. Typisch sind auch Fussbe-wegungen von Fussballtrainern an der Seitenlinie, die so tun, als ob sie ins Spiel eingreifen könnten. In den chronisch verstopften Strassen von Manhatten gibt es an den Kreuzungen Fussgängerstreifen mit einem Ampelknopf ohne Funktion. Die Fussgänger glauben nun, dass sie einen Einfluss auf die Signalsteuerung hätten und ertragen so nachweislich die Warterei besser. Als weitere Beispiele können der Aber-glaube und Rituale herbeigeführt werden. Der Mensch will die Welt kontrollieren und nach seinen Wünschen und Vorstellungen beeinflussen können. Religiöse Leute ver-schicken zu diesem Zweck gute Gedanken als Schwingungen, Energie oder Karma.

Geringschätzen darf man die Kontrollillusion aber auf gar keinen Fall, wie Placebo-Effekte zeigen. Die Placeboforschung kennt genügend Beispiele die aufzeigen, dass Überzeugungen und Erwartungen sogar das körperliche Wohlbefinden beeinflussen. Auch die Psychotherapieforschung kennt die heilende Kraft des Placebos und führt sie sogar als einen der vier grossen Therapiewirkfaktoren auf (vgl. Hubble et al. 2001). Psychohygienisch erfüllt die Kontrollillusion eine sehr wichtige Funktion.

Das Prinzip der Überaktivität

Eng verbunden mit der Kontrollillusion ist das Prinzip der „Überaktivität“ (vgl. Dobelli 2011). Mit Aktionismus wollen wir die Kontrolle über eine Situation gewinnen. Men-schen werden aktiv, selbst wenn es gar nichts nützt. Als Beispiel kann hier der Arzt-besuch herangezogen werden. Wenn ein Arzt mit einem ungefährlichen oder unkla-ren Krankheitsbild konfrontiert ist, steht er vor der Wahl, einzugreifen oder nicht. Er kann ein Röntgenbild anfertigen, eine Blutentnahme vornehmen, ein Medikament verschreiben oder abwarten. Grundsätzlich empfiehlt es sich, irgendetwas zu tun, und zwar nicht einmal aus wirtschaftlichen, sondern v.a. aus psychologischen Grün-den. Für den Patienten ist es wichtig zu wissen, dass etwas gegen sein Unwohlsein getan wird. Dies lässt ihn glauben, dass es ihm bald wieder besser geht – was i.d.R. auch der Fall sein wird. In machtlosen Situationen ist der Gedanke, „dass man es wenigstens versucht hat“, oft sehr wichtig. Es ist ein psychologisches Ankämpfen gegen das Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit.

Das Prinzip der kognitiven Dissonanz

Die Toleranz für Inkonsistenz ist sehr gering und es werden immer wieder Prozesse in Gang gesetzt, um die Konsistenz wieder herzustellen. Dieses Prinzip ist in der Psychologie als „kognitive Dissonanz“ bekannt. Diese Theorie besagt, dass Men-schen eine kognitive Widerspruchsfreiheit anstreben. Widersprüche zwischen ver-schiedenen Einstellungen, Überzeugungen, Werthaltungen usw. rufen eine intrapsy-chische Spannung hervor. Beispielsweise kann man nicht gleichzeitig rauchen und von sich behaupten, dass man einen gesunden Lebensstil pflegt. Solche kognitive Dissonanzen werden von der betreffenden Person zu reduzieren versucht. Dies kann über verschiedene Wege geschehen:

a) die Kognitionen selbst oder deren Wichtigkeit werden geändert (z.B. sagt sich ein Raucher, dass nicht alle Menschen wegen des Rauchens Krebs bekommen)
b) neue Kognitionen werden gebildet, welche den Widerspruch auflösen (z.B. sagt sich der Raucher, dass Rauchen auch entspannt)

Eine weitere – psychotherapeutisch relevante – Massnahme besteht typischerweise darin, die Informationssuche zur Bewältigung dieser intrapsychischen Spannung ver-stärkt auf zusammenstimmende Informationen zu richten. Beispielsweise kann eine Person mit ausgesprochener Höhenangst darauf verweisen, dass ein Sturz von einem Dach, ja selbst Treppenstürze tödlich enden können.

Die Konsistenzsicherung im Wahrnehmungsprozess kann aber auch über Verdrän-gungsmechanismen herbeigeführt werden. Den Beleg dazu liefert Siegfried Macho. Er zeigt anhand von Experimenten auf, dass „kausale Zsammenhänge, die nicht un-seren kausalen Theorien entsprechen, oft einfach ignoriert werden“ und dass „anstel-le der wahren Zusammenhänge theoriekonforme Scheinursachen eingeführt wer-den.“ (Macho 2005, S. 49). Der Gefahr von Kausalillusionen sind v.a. Wissenschaft-ler ausgesetzt. Gerade sie wären aber kraft ihrer Profession dazu verpflichtet, solche Fehler zu vermeiden.

Kognitive Dissonanzen werden auch schlicht über Filtermechanismen hinsichtlich des persönlichen Vorteils aufgelöst. Ein abergläubiger Mensch wird jedenfalls kaum einen 13. Monatsgehalt ablehnen, weil für ihn die Zahl 13 Unglück bringt. Wir schu-stern uns eben die Konsistenz auf sehr eigennützige Art und Weise zusammen.

Das Prinzip der Kontextabhängigkeit

Der Einfluss des Kontexts auf die Wahrnehmung kann an einem einfachen Beispiel illustriert werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-3: Prinzip der Kontextabhängigkeit am Beispiel zweier gleich grosser Kreise (Walter 1985)

Die beiden mittleren, farbigen Kreise der beiden Figuren sind in Tat und Wahrheit gleich gross. Der linke, rote Kreis erscheint aufgrund der grösseren umliegenden Kreise jedoch kleiner als der rechte, blaue Kreis, der von kleinen Kreisen umgeben ist. Diese Demonstration zeigt, dass sensorische Reize immer im Kontext wahrge-nommen werden. Als weiteres Beispiel der Kontextabhängigkeit der Wahrnehmung kann das Trinken von Orangensaft herangezogen werden. Der Geschmack von Orangensaft ist nach dem Zähneputzen spürbar anders als nach dem Trinken von Wasser.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Wahrnehmung wurde lange so betrachtet, „als ob die einzige Information, die ein Mustererkennungssystem zur Verfügung hat, in dem physikalischen Stimulus bestün-de, den es zu erkennen gilt.“ (Anderson 2007, S. 77). Heute wissen wir, dass diese Theorie so nicht stimmt. Ein selbstorganisierrendes System verarbeitet sensorische Reize aufgrund seiner „Systemgeschichte“[8] (vgl. Schiepek 2006) und seines „aktuel-len Systemzustands“ (vgl. Stadler et al. 2008). Damit hängt die Generierung von Be-deutung weniger vom Objekt, als vielmehr vom Subjekt ab. Diese Revidierung kann durch ein einfaches Beispiel erhärtet werden. Man betrachte hierfür folgenden Schriftzug:

Abbildung 2-4: Schriftzug mit unterschiedlichen Bedeutungen (Anderson 2007, S. 77)

Der Schriftzug wird als „DAS OHR“ wahrgenommen, obwohl das „H“ und das „A“ völlig identisch sind. Ein und dieselbe Konfiguration wird in einem bestimmten Kontext unterschiedlich gedeutet.

Je nach Abrufkontext können unterschiedliche Informationen in die aktuelle Wahr-nehmung eingehen. Die subjekt- und kontextabhängige Generierung von Bedeutung kann auch anhand einer lapidaren Feststellung wie „Es regnet“ aufgezeigt werden. Für den Landwirt, der seit Wochen auf Regen wartet, bedeutet sie etwas ganz ande-res als für den Touristen, der eine Stadtrundfahrt geplant hat oder für den Pöstler, der die Zeitungen austragen muss. Die Theorie, dass eine Information allein im sen-sorischen Reiz enthalten ist, kann mit dem Beispiel des obigen Schriftzuges sowie der Bedeutung des Regens eindeutig widerlegt werden. Geistige Akte prägen die Wahrnehmung wesentlich mit, was als Top-down-Prozess bezeichnet wird. Die Ge-staltpsychologie hat diesbezüglich einiges an überzeugenden Forschungsergebnis-sen vorzuweisen und in ihre Theorie integriert.

Die Kontextabhängigkeit ist in der Psychologie auch als Framing-Effekt (dt. Rahmen-effekt) bekannt (vgl. Dobelli 2011). Gemeint ist damit die Tatsache, dass wir auf eine bestimmte Sachlage ganz unterschiedlich reagieren, je nachdem, wie sich die Situa-tion präsentiert. Das Bonmot „C’est le ton qui fait la musique“ beschriebt das Fra-ming sehr treffend und kann an einem Beispiel von Schulz von Thun (1989) verdeut-licht werden: Obschon zwei Bemerkungen wie „Du, die Ampel ist grün“ und „Fahr endlich los!“ inhaltlich dasselbe bedeuten, reagiert man sehr unterschiedlich darauf.

Ein weiteres Beispiel des Framing-Effekts stammt aus der Psychiatrie. Bei der Entscheidung einer stationären Aufnahme sind neben der Störung selbst bzw. ihrem Ausprägungsgrad offenbar noch weitere Rahmenbedingungen bedeutsam. Holmes und Solomon (1981) berichten über eine Studie, nach der die Anzahl der Leerbetten wesentlich über die Aufnahme eines Patienten entscheidet. Mendel & Rapport (1969) konnten aufzeigen, dass weniger das Störungsbild als Aufnahmekriterium in einer psychiatrischen Klinik diente, sondern vielmehr der Zeitpunkt, zu welchem ein Patient vorsprach. So verdoppelte sich die Wahrscheinlichkeit einer Aufnahme nach 17 Uhr und an den Wochenenden, was in der Studie darauf zurückgeführt wurde, dass die stationsführenden Ärzte ausser Dienst waren und stationsfremde Ärzte zur Aufnahme von Patienten neigten, die sie selbst nicht betreuen mussten.

Das Prinzip der Ganzheitlichkeit

Ein weiteres Prinzip, das zur Konsistenzbildung beiträgt, ist die Ganzheitlichkeit. Es besagt, dass unvollständige Muster vervollständigt werden. Dies kann anhand fol-gender Darstellung erläutert werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-5: Prinzip der Ganzheitlichkeit am Beispiel Stern und Viereck

Sensorische Reize werden mit Hilfe des gestaltpsychologischen Prinzips der Ganz-heitlichkeit identifiziert, wobei eine relativ grosse Toleranz gegenüber Abweichungen besteht. Im linken Bild erkennt der Betrachter einen Stern und im rechten Bild ein Viereck, obwohl diese geometrischen Figuren gar nicht real existieren. Sie werden nur aufgrund des Kontextes und der bestehenden Muster (dem Betrachter sind die geometrischen Figuren „Stern“ und „Viereck“ bekannt) als solche „erkannt“.

Bunzeck et al. (2005) konnten belegen, dass das Gehirn nach dem Prinzip der Ganzheitlichkeit ständig und automatisch assoziiert. Sie führten Versuchspersonen ein Video von einem Wasserfall ohne Ton vor. Dieser visuelle Reiz ist im Normalfall mit einer akustischen Information gekoppelt. Es zeigte sich, dass bei den Probanden, obwohl sie nur visuelle Reize wahrnahmen, automatisch auch der Hörkortex aktiviert war. Das Interessante dabei ist, dass das Gehirn die Hirnaktivierung und die damit verbundenen Wahrnehmungsinhalte selbständig erzeugen kann. Mit Hilfe neurowis-senschaftlicher Verfahren kann damit belegt werden, dass Phänomene wie Sinnes-täuschungen, Illusionen, Halluzinationen und Schizophrenieerkrankungen mit neuro-nalen Erregungen verbunden sind. Demzufolge sollten diese „abnormalen“ Beispiele menschlicher Wahrnehmung nicht mehr als Hirngespinste oder Einbildungen, son-dern „als Produkt der neuronalen Erregung bestimmter Hirngebiete“ (Jäncke 2007, S. 127) interpretiert werden.

Das Prinzip der Komplexitätsreduktion

Aufgrund der begrenzten Wahrnehmungskapazität des Gehirns (siehe Wahrneh-mungsfilter) sind wir auf Heuristiken wie z.B. Einstellungen, Vorurteile, Erwartungen usw. angewiesen. Hier ist v.a. auch der energieökonomische Gedanke wesentlich. Eine Richtlinie des Gehirns besteht darin, Informationen möglichst schnell und mit möglichst geringem Aufwand zu ordnen. Denkfehler werden dadurch „nicht nur als dysfunktionale oder pathologische Mechanismen identifiziert“, sondern sie lassen sich auch „als vereinfachende ökonomische Strategien zur raschen Orientierung in komplexen Situationen“ (Bienenstein & Rother 2009, S. 90) beschreiben. Sogenann-te „Wirklichkeitskonstrukte“ (vgl. Siebert 2008) erfüllen kognitiv eine äusserst wichti-ge, psychohygienische Funktion: „Konstrukte reduzieren Komplexität und erleichtern eine Orientierung in unübersichtlichen und ungewissen Lebenswelten.“ (ebd., S. 34).

Im Alltag lässt sich die Komplexitätsreduktion immer wieder beobachten. Beim Kauf eines bestehenden Hauses z.B. konzentrieren wir uns v.a. am Kaufpreis, beim Kauf eines Autos auf den Kilometerstand, aber nicht auf den Zustand des Motors, der Bremsen, des Interieurs. Das ist nur natürlich, denn wir können nie restlos alle Aspekte betrachten.

Eine Komplexreduktion stellt auf eine ökonomische Art und Weise Ordnung her. Dies ist mit ein Grund, weshalb wir tendenziell in „einfachen Ursache-Wirkungs-Zusam-menhängen denken, die der Komplexität der Wirklichkeit nicht gerecht werden.“ (Oehler et al. 2009, S. 161). V.a. Dietrich Dörner (2007) hat diese spezifisch mensch-liche Denkweise auf sehr eindrückliche Art und Weise beschrieben und mit vielen Ex-perimenten belegen können. Evolutionsbedingt ist das menschliche Gehirn in erster Linie darauf programmiert, das Überleben zu sichern. Dies bedingt oft schnelle Ent-scheidungen und Handlungen, was zu vielen Vereinfachungen und Fehlern im Den-ken führt. Dies nimmt das Individuum aber auf Kosten des Überlebens bzw. eines Gefühls von Sicherheit und Kontrolle gerne in Kauf. Auf der Ebene des Entscheidens und Handelns gibt es offensichtlich gute Gründe, die eine „höhere Wichtigkeit haben als die exakte Wahrnehmung der Umwelt.“ (Bienenstein & Rother 2009, S. 88). In diesem Zusammenhang weist Bösel (2006) darauf hin, dass die Vorstellung und Erwartungen an die Hirnfunktionen von (zu) hohen Moralvorstellungen begleitet sind. Viele Leute stellen sich unter einer „guten“ Wahrnehmung eine möglichst getreue Ab-bildung der Welt vor. Dies ist jedoch weder möglich noch nötig. Aus neuropsychologi-scher Sicht stehen kognitive Prozesse in erster Linie im Dienste der Handlungsfähig-keit, d.h. sie helfen mit, das Überleben zu sichern, indem sie Ordnung bzw. Sinn stif-ten und dienen nicht der Erkenntnis einer objektiven Wahrheit oder Realität. Das Gehirn hat sich evolutionsbiologisch in direkter Abhängigkeit zu den Lebensanforde-rungen entwickelt. Dabei hat sich, wie Precht (2007) anmerkt, das Erkenntnisvermö-gen offensichtlich als passend bewährt. Angesichts dieser Überlegungen bezüglich der Erkenntnisfähigkeit entpuppt sich die Fehlerfreiheit als ein Ideal, das nicht unter allen Umständen erstrebenswert ist. Wie gewinnbringend die Komplexitätsreduktion ist, lässt sich an Flow-Erlebnisse (vgl. Csikszentmihayi 2005) aufzeigen. In diesem Fliess-Zustand fällt alles einfach und von selbst, was mit einem sehr guten Gefühl verbunden ist.

Das Prinzip der Ordnungstendenz

Um die Vielfalt der Aussen- und Innenreize zu einer sinnvollen Welt zu gestalten, ist der Mensch im psychischen Geschehen (also in der Wahrnehmung ebenso wie im Denken, Fühlen und Handeln) gewissermassen ständig „auf der Suche nach einem stabilen Ordnungszustand“ (Stadler et al. 2008, S. 72. Diese sog. „Ordnungstendenz“ (vgl. Metz-Göckel 2008) wird über das Prinzip der Musterbildung und -erkennung hergestellt. Dadurch wird die Komplexität so reduziert, dass sie erkennbar, erklärbar und kontrollierbar erscheint. Ein typisches Beispiel für ein ordnungstendenzielles Verhalten im Alltag sind Rituale. Immer wiederkehrende, auf dieselbe Art und Weise durchgeführte Tätigkeiten verleihen ein Gefühl von Ordnung und Sicherheit.

Diese Tendenz zu stabilen Ordnungszuständen wurde von Gestalttheoretikern als „Prägnanztendenz“ bezeichnet (vgl. Köhler 1930; Rausch 1982). Haken & Schiepek (2006) verweisen darauf, dass die Prägnanztendenz, der Trend zur Komplexitätsre-duktion und zur Bedeutungsgenerierung mit fast naturgesetzlicher Sicherheit auftritt, wobei bei all diesen Phänomenen sog. „Attraktoren“ (ebd.) eine herausragende Rolle zukommt. Attraktoren können ohne Übertreibung als die wichtigsten Bausteine der Psyche angesehen werden, weshalb sie von vielen Autoren aufgegriffen werden, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Begriffen. Die Rede ist von „Schemata“[9], „Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern“[10], „Kognitions-Emotions-Verhaltens-Mus-tern“[11], „neuronalen Attraktoren“[12], „subjektive Strukturen“[13], „Werte-“ bzw. „Motiva-tionsmustern“[14], „Charakterstruktur“[15] usw. Kriz (1999) hat in diesem Zusammenhang das zentrale Kon-zept des „Sinn-Attraktors“ eingeführt, weil Attraktoren neben ihrer ordnungsbildenden Funktion auch für die Bedeutungsgenerierung verantwortlich sind. Attraktoren erfül-len damit gewissermassen auch die Funktion von Deutungsmustern. Darunter wer-den im Gedächtnis abgelagerte bzw. verankerte Sinn-Schemata verstanden, sodass den wahrgenommenen Inhalten eine Bedeutung beigemessen werden kann. Erleb-nisse werden so immer im Rahmen bereits vorgeformter Sinnzusammenhänge wahr-genommen und gedeutet. Das Konzept des Sinn-Attraktors zeigt auf, „wie der für un-sere Lebenswelt bedeutsame Raum aus einer schillernden Vielfalt unfassbar polyse-mantischer (Er-)Lebensmomente sich auf eher monosemantische Sinnkerne zusam-menzieht.“ (Kriz 2010b, S. 139). Attraktoren ermöglichen „typische Strukturen“ (vgl. Kriz 2010a), die sich in Form von

- Weltbildern, Zeichensystemen, gesellschaftlichen Regeln, Institutionen (auf der kul-turellen und gesellschaftlichen Ebene),
- Familienregeln, Kommunikationsmustern, Erziehungsgewohnheiten (auf der inter-personellen Ebene),
- Erregungskonstellationen und Bahnungen (auf der neuronalen Ebene),
- belief-systems, persönlichen Erklärungsprinzipien bzw. Sinnzuschreibungen, Attri-butionen, Plänen, Selbstbildern (auf der Bewusstseinsebene),
- Konstruktionen von biografischen bzw. künftigen Ereignissequenzen und -zusam-menhängen (auf der Gedächtnisebene),
- Erkennen von Gegenständen, Bewegungen oder Distanzen, Handlungs- und Ver-haltensmustern (auf der Wahrnehmungsebene) zeigt.

All diese Strukturen führen dazu, dass die unfassbare Komplexität der Welt fassbar gemacht wird.

Wir wollen uns im Folgenden mit dem Begriff „Attraktor“ begnügen. In sämtlichen Konzepten werden Attraktoren als offene, aber gleichzeitig ordnungsgebende Aspek-te dargestellt. Ein Attraktor ist nichts anderes als ein stabiler Zustand, auf den sich eine Dynamik hinbewegt. Bildlich gesprochen handelt es sich um einen Anziehungs-punkt in einer Landschaft, ähnlich einem Tiefpunkt in einer Ebene, in den eine Kugel fällt und dort gefangen bleibt:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2-6: Bildliche Darstellung eines Attraktors: Punkte B und C (Kriz 2008, S. 66)

Das Konzept des Attraktors erklärt „die komplexitätsreduzierende Musterbildung einerseits und die Mustererkennung im Sinne von Komplettierungsdynamiken ande-rerseits“ (Kriz 1999, S. 150).

Das Prinzip der Musterbildung entspricht der „Tendenz, Ordnung zu (er)finden.“ (Kriz 2004, S. 37). Dies führt dazu, dass irgendwann aus Zufallsprodukten irgendetwas Geordnetes erscheint. Diese Ordnungstendenz kann anhand einer seriellen Repro-duktion eines komplexen Punktemusters demonstriert werden. Die Abbildung 2-7 zeigt die Reproduktion eines ursprünglich chaotischen Bildes nach dem Prinzip der „stillen Post“: Das Bild links oben wurde einer ersten Person 5 Sekunden lang ge-zeigt. Daraufhin musste sie das Bild aus dem Gedächtnis nachzeichnen. Dieses neue Bild wurde nun einer zweiten Person gezeigt, welche nach 5-sekündiger Be-trachtung ebenfalls das gesehene Bild nachzeichnen sollte. Dieser Vorgang wurde insgesamt 19 mal wiederholt.

[...]


[1] selbstorganisiert bedeutet, dass der Organismus zwar geordnet, aber nicht nach einem festgeschrie-benen Reiz-Reaktions-Muster handelt

[2] Die Umwelt beinhaltet neben den ökologischen auch alle sozialen, ökonomischen und kulturellen Aspekte, sodass man auch von einer Mitwelt reden könnte.

[3] Synergetik = die Lehre von selbstorganisierenden Systemen mit Rückkopplungsmechanismen

[4] Der Mythos vom Unhintergehbaren, 27. Juli 1982, siehe auch Popper (1987)

[5] gemäss den international anerkannten Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV handelt es sich um eine psychische Störung, die sich u.a. durch Beeinträchtigungen im Bereich der Aufmerksamkeit äussert. Es werden u.a. neurologische Ursachen für die Erklärung der Krankheit aufgeführt: Eine Unterversorgung der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin führt zu einer gestörten Informations-weiterleitung zwischen den Nervenzellen, wodurch Reize nur schlecht und unzureichend gefiltert werden. Dadurch entsteht eine dauerhafte Reizüberflutung im Gehirn, aus der ein unaufmerksames, impulsives und hyperaktives Verhalten hervorgeht.

[6] dieser innere Konflikt wurde im Film Die Brücken am Fluss (1995) meisterhaft inszeniert

[7] eine detaillierte Zusammenfassung der grundlegenden kognitiven Operationen liefert Dörner (1979)

[8] Das Gehirn operiert auf der Grundlage früherer Erfahrungen.

[9] vgl. Neisser 1979, Anderson 2007, Goldstein 2002, Haken & Schiepek 2006, Kriz 1997, Senf & Broda 2012, Metz-Göckel 2008

[10] vgl. Ciompi 1997

[11] vgl. Schiepek 2006

[12] vgl. Grawe & Caspar 2012

[13] vgl. Vollmer 2003

[14] vgl. Köth 2008

[15] Fromm (1947, GA II, S. 42) definiert Charakter „als die (relativ) gleichbleibende Form, in die die menschliche Energie im Prozeß der Assimilierung und Sozialisation kanalisiert wird. Diese Kanalisierung der psychischen Energie hat eine wichtige biologische Funktion. Da das Handeln des Menschen nicht durch angeborene instinktive Verhaltensmuster determiniert wird, wäre das Leben gefährdet, wenn der Mensch bei jeder Handlung und bei jedem Schritt von neuem eine freie Entscheidung fällen müßte.“ (Unter Assimilierung versteht Fromm, vgl. ebd., S. 41, die Aneignung von Dingen, unter Sozialisation die Bezugnahme zu Menschen.)

Ende der Leseprobe aus 140 Seiten

Details

Titel
Psychotherapie verstanden als Intervention am Informationsverarbeitungsprozess
Hochschule
Donau-Universität Krems - Universität für Weiterbildung  (Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit)
Veranstaltung
Masterarbeit
Note
2.0 (gut)
Autor
Jahr
2014
Seiten
140
Katalognummer
V383641
ISBN (eBook)
9783668594685
ISBN (Buch)
9783668594692
Dateigröße
1350 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Psychotherapie soll Menschen helfen, neue Wege im Erleben und Verhalten zu finden. Die optimale Passung zwischen den Therapiefaktoren Therapeut-Patient-Behandlungsmo- dell-Störung trägt dazu bei, konstruktive Interventionen im Bereich Verstehen-Lernen (Bewusstmachen unbewusster Prozesse) und Differenzierungs-Lernen (Reframing) einzuleiten, um Veränderungen in der Wahrnehmung und damit verbunden eine Veränderung im Erleben und Verhalten zu ermöglichen.
Schlagworte
Informationsverarbeitung Personzentrierte Systemtheorie Selbstorganisation Wahrnehmungspsychologie, Reframing Gedächtnis
Arbeit zitieren
Master of Science Patrick Lenherr (Autor:in), 2014, Psychotherapie verstanden als Intervention am Informationsverarbeitungsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383641

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