Durch Fremdhilfe zur Selbsthilfe. Die Bedeutung von Beziehungsarbeit zur Selbstbefähigung für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung

Steirische sozialpsychiatrische Leisungsangebote


Bachelorarbeit, 2016

64 Seiten, Note: 1,2


Leseprobe


PROBLEMAUFRISS UND ZIELSTELLUNG

1. DEFINITION DER ZIELGRUPPE
1.1. Psychische Gesundheit
1.1.1. Gesundheitsförderung
1.2. Psychische Störung
1.2.1. Merkmale psychischer Störung
1.2.2. Subjektives Störungserleben
1.3. Chronizität von psychischen Erkran kungen
1.4. Klassifikation psychischer Störungen
1.4.1. ICD-10 (International Classification of Diseseas) der WHO
1.5. Auszüge psychischer Störungen
1.5.1. Affektive Störungen (F30-F39)
1.5.2. Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40 - F48)

2. SOZIALPSYCHIATRISCHE STEIRISCHE VERSORGUNG
2.1. Nichtprofessionelle Angebote
2.1.1. Selbsthilfe- und Angehörigengruppen
2.1. Stationäre Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds
2.1.1. Vollstationäre Behandlung
2.1.2. Tageskliniken
2.2. Ambulante Vorfeldeinrichtungen der allgemeinen Gesundheits- und Sozialversorgung
2.3. Ambulante Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds
2.3.1. Sozialpsychiatrische Dienste
2.3.2. Niedergelassene PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen
2.4. Komplementäre bzw. rehabilitative Einrichtungen des psychiatrischen Kernfelds
2.4.1. Bereich Wohnen
2.4.2. Bereich Arbeit
2.4.3. Bereich Beschäftigung

3. GEMEINWESENORIENTIERUNG
3.1. Verständnis von Gemeinwesenorientierung
3.2. Ziele der Gemeinwesenorientierung
3.3. Förderung nicht-professioneller Angebote

4. SELBSTHILFEKONZEPTE
4.1. Salutogenese
4.1.1. Förderung des Kohärenzgefühls
4.2. Recovery
4.2.1. Recovery Prozess nach Ralph und Corrigan
4.3. Empowerment

5. BEZIEHUNGSARBEIT ALS WERKZEUG ZUR SELBSTHILFE
5.1. Prozesshaftigkeit
5.2. Kommunikation
5.2.1. Kommunikationsmodell nach Schulz von Thun
5.2.2. Kommunikationshürden im Betreuungskontext
5.3. Person des Helfers
5.3.1. Konzept der Schlüsselqualifikation nach L. Reetz

6. FÖRDERUNG VON SELBSTHILFE (RECOVERY) IM BEZIEHUNGS- UND VERSORGUNGSSETTING
6.1. Recovery in der Beziehungsarbeit
6.1.1. Studie über helfende Beziehungen in psychiatrischen Einrichtung
6.2. Umorientierung der professionellen Hilfsangebote
6.3. Recovery im Versorgungssetting

7. FAZIT

8. LITERATURVERZEICHNIS

9. INTERNETQUELLEN

10. ABBILDUNGSVERZEICHNIS

Abstract

Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zählen zu einer sozialen Randgruppe unserer leistungsstarken Gesellschaft. Betroffene Personen, wie auch deren Angehörige, leiden nicht nur unter psychischen Symptomen und Störungen an sich, sondern insbesondere an deren Auswirkungen und Folgen in Bezug auf resultierende Einschränkungen in Lebensbereichen wie Wohnen, Arbeit, Beschäftigung, Freizeit und Pflege sozialer Kontakte.

Im Hauptaugenmerk dieser Bachelorarbeit liegt die Frage, wie es möglich ist, trotz psychischer Einschränkungen ein erfülltes Leben führen zu können und welche Rolle Betreuungspersonen - ganz nach dem Motto „mittels Fremdhilfe zur Selbsthilfe“ - zur Selbstbefähigung von psychisch beeinträchtigten Personen einnehmen.

Im Zuge dessen wird die Frage erarbeitet, was unter psychischen Beeinträchtigungen - insbesondere mit einem chronischen Krankheitsverlauf - verstanden wird und in welcher Form sich diese ausdrücken können. Weiters soll auch geklärt werden, was unter Sozialpsychiatrie verstanden wird und welche sozialpsychiatrischen Leistungsangebote in der Steiermark zur Verfügung stehen, um einerseits psychische Erkrankungen zu behandeln, aber auch gemeindenahe gesellschaftliche Integration trotz spezifischer Einschränkungen zu ermöglichen.

In diesem Zusammenhang sollen bezüglich gesellschaftlicher Integration auch Selbshilfekonzepte wie Recovery, Empowerment, Salutogenese sowie Gemeinwesenarbeit als wesentliche Leistungsdimension sozialpsychiatrischer Arbeit vorgestellt werden.

Schlussendlich wird im letzten großen Teil meiner Bachelorarbeit die Methodik der intensiven Beziehungsarbeit zwischen Klientinnen/Klienten und betreuenden Personen veranschaulicht werden, um Selbsthilfe überhaupt erst zu ermöglichen.

People with mental impairment belong to a socially marginalised group of our highly performing society. Affected persons, as well as their relatives aren’t only suffering from mental symptoms and disorders, but especially from the impact and consequences concerning resulting problems in spheres of life like living, working, activity, recreation and social interactions.

The main focus of this bachelor’s thesis lies on the question, how it is possible to live a fulfilled life despite mental restrictions and what role a caregiver plays, true to the motto „via outside help to self-help", in the self-enablement of psychologically impaired people. In the course of the main topics, I am going to explore the question what is meant by psychological impairments, especially with a chronic course, and how they can express.

Furthermore, it is intended to clarify the definition of social psychiatry and which social- psychiatric options are available in Styria. On the one hand I am going to express how it is possible to treat mental illnesses. On the other hand I explore the question how to allow community-based social integration despite psychological restrictions.

Eventually, regarding social integration, self-help concepts such as recovery, empowerment, salutogenesis and community orientation as a significant performance marker in social-psychiatric work will be discussed and explained.

The last part of this bachelor’s thesis tries to emphasize the importance of relationship work between clients and garegivers.

Problemaufriss und Zielstellung

Im Seminar „Organisation und Management in pädagogischen Handlungsfeldern“ lernten wir als Studierende Verbindungen in Hinblick auf Organisationen und Institutionen, das eigene Verhalten sowie einzelne Theorien und Modelle der Erziehungs- und Bildungswissenschaften reflexiv herzustellen.

Durch meine praktischen Erfahrungen in zwei sozialpsychiatrischen Einrichtungen erschien es mir persönlich als großes Anliegen, mich in dieser Abschlussarbeit mit gewissen Spannungsfeldern reflexiv auseinanderzusetzen.

Aufgrund von Einschränkungen der Kognition, Emotion und Motivation leiden psychisch erkrankte Personen nicht nur unter entsprechenden Symptomen und Störungen, sondern auch unter den Folgen, die sich in ihrem Umfeld ergeben (vgl. Sauter 2011, S. 86).

Vor allem die soziale Umgebung, also die zwischenmenschlichen Interaktionen, können durch psychische Erkrankungen derart beeinflusst werden, dass sich im Betreuungskontext der Beziehungsaufbau als besonders schwierig erweist. Im Zusammenhang mit jenen Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung bin auch ich an meine Grenzen gestoßen und versuche nun, mit dieser Abschlussarbeit der Frage nachzugehen, wie eine erfolgreiche Beziehungsarbeit mit psychisch beeinträchtigten Menschen aussehen soll und wie dadurch die Selbstbefähigung der betroffenen Personen gestärkt werden kann.

Bevor aber dieser Frage nachgegangen werden kann, habe ich mich im ersten großen Kapitel mit der Definition der Zielgruppe auseinandergesetzt.

Zur Beschreibung der Zielgruppe wird in dieser Abschlussarbeit vorwiegend von der Betroffenheit von psychisch beeinträchtigen Personen ausgegangen. Dies manifestiert sich dementsprechend im Text. Als weitere Beschreibung der betroffenen Zielgruppe wird im Zusammenhang mit der angestrebten Selbstbefähigung und Mündigkeit sowie im Zuge des professionalisierten Betreuungssetting der Klientenbegriff herangezogen. In jenem Kapitel wird nicht nur die Frage behandelt, was psychische Krankheit und Gesundheit im Allgemeinen bedeuten, sondern wie psychische Gesundheit mittels der 1986 verabschiedeten Ottowa-Charta der Weltgesundheitsorganisation (englisch: World Health Organization, kurz WHO) gefördert werden kann. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels soll einerseits auf das subjektive Störungsempfinden von betroffenen Personen eingegangen werden, andererseits sollen allgemeine Merkmale psychischer Erkrankungen veranschaulicht werden.

Mittels der Liste psychischer Störungen und Verhaltensstörungen nach dem internationalen statistischen medizinischen Klassifikationssystem (ICD-10) wird ein

Auszug zweier großer Klassifikationsgruppen, F30-F39 (Affektive Störungen) und F40- F48 (Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen), vorgestellt.

Im anschließenden Kapitel wird auf mögliche sozialpsychiatrische Leistungsangebote für psychisch beeinträchtige Personen in der Steiermark eingegangen. Angefangen von nichtprofessionellen Angeboten, über stationäre Behandlung- und Betreuungskontexte bis hin zu ambulanten (Vorfeld-)Einrichtungen und komplementären bzw. rehabilitativen Angeboten soll der Frage nachgegangen werden, welche Betreuungsmöglichkeiten psychisch kranke Personen in der Steiermark zur Verfügung haben.

Neben möglicher psychosozialer Betreuungsangebote soll in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe die Gemeinwesenorientierung als wesentliche Leistungsdimension sozialpsychiatrischer Arbeit analysiert werden.

Nachdem nun die Zielgruppe und die entsprechenden Rahmenbedingungen abgesteckt worden sind, werden in den nächsten Kapiteln Theorien und Modelle im Zusammenhang mit der Betreuung psychisch erkrankter Menschen vorgestellt.

Mit dem Fokus auf Selbsthilfekonzepte wie Salutogenese, Empowerment und vor allem die Recovery-Bewegung, wird im Zuge dessen die Bedeutung von Beziehungsarbeit als Werkzeug zur Selbsthilfe herausgearbeitet. Zum einen wird Bezug auf die Prozesshaftigkeit von Beziehungen im Allgemeinen und im therapeutischen Kontext genommen, zum anderen auf die entsprechende Kommunikation, die sich innerhalb von Beziehungen ergeben. Dabei wird das Kommunikationsmodell aus dem Jahr 1981 nach Schulz von Thun erläutert. Des weiteren wird ein Überblick über mögliche Kommunikationshürden, die sich im Betreuungskontext ergeben, veranschaulicht.

Sind Beziehungen interaktive Wechselwirkungsprozesse, die aus mindestens zwei Parteien bestehen, soll der Blick nicht nur auf die zu betreuenden Klientinnen und Klienten gerichtet werden. In diesem Fall wird auch die Bedeutung der helfenden Person inklusive gewünschter Schlüsselqualifikationen nach Reetz aus den späten 1980er Jahren aufgezeigt.

Im Zusammenhang mit der Personalhierarchie in sozialpsychiatrischen Einrichtungen, die sich aus multiprofessionellen und interdisziplinären Fachkräften zusammensetzt, wird in dieser Arbeit auf eine konkrete Berufsbezeichnung verzichtet. Zu den möglichen Berufssparten im intra- sowie extramuralen psychosozialen Bereich zählen u.a. die Pädagogik, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Psychologie, psychiatrische Krankenpflege, Psychiatrie oder Psychotherapie.

Im letzten Teil meiner Abschlussarbeit sollen die herausgearbeiteten Ergebnisse bezüglich der Zielgruppe, Rahmenbedingungen, Selbsthilfekonzepte und der Bedeutung der Beziehungsarbeit mit einer qualitativen Studie von Marit und Kristjana aus dem Jahr 2004 über helfende Beziehungen in psychiatrischen Einrichtungen zusammengefasst werden. Thematisiert wird in dieser Studie die Recovery- Orientierung von professionellen Helfenden, die mittels 15 qualitativer Interviews mit betroffenen psychisch erkrankten Personen erhoben wurden.

1. Definition der Zielgruppe

Bevor ich in meiner Bachelorarbeit auf die Rahmenbedingungen der steierischen sozialpsychiatrischen Versorgungslandschaft und im Zuge dessen auf entsprechende Methoden, Instrumentarien und Spannungsfelder in Bezug auf die Förderung von Selbstbefähigung eingehe, ist es notwendig, die Zielgruppe genauer zu definieren.

Zum einen werden allgemeine Merkmale psychischer Krankheit, das Ausmaß von Störungen und das Krankheitserleben der Betroffenen erläutert. Weiters wird auch auf drei Störungsbilder eingegangen. Sie werden anhand des von der WHO herausgegebenen internationalen statistischen Klassifikationssystems „ICD-10“ in ihren Merkmalen und in Bezug auf Ausdruck beschrieben.

Der Anfang dieses Kapitels setzt sich aber mit der Frage auseinander, wie die beiden Begrifflichkeiten „psychische Gesundheit“ und „Krankheit“ im heutigen gesellschaftlichen Kontext zueinander stehen, was man insbesondere unter der Norm der psychischen Gesundheit verstehen kann und warum entsprechende Definitionen notwendig sind.

1.1. Psychische Gesundheit

Auch wenn psychische und körperliche Gesundheit bzw. Krankheit stets miteinander einhergehen und sich - abhängig von den überwiegenden Krankheitssymptomen - gegenseitig beeinflussen (vgl. Sauter 2011, S.90), soll der Fokus bei der Erläuterung jener Zustandsbeschreibungen primär auf das Konstrukt der Psyche gelegt werden.

Die gegenseitige Beeinflussung psychischer und körperlicher Faktoren wird so beispielsweise vom Ministerium für Gesundheitspflege und Soziale Dienste der Vereinigten Staaten von Amerika beschrieben, dass „psychische Gesundheit grundlegend für die allgemeine Gesundheit ist“ (U.S. Departement of Health and Human Services, 1999, zit. n. nach Amering/Schmolke 2010, S. 132).

Gleich zu Beginn ist es notwendig zu erläutern, dass es keine absolute Definition von psychischer Gesundheit gibt. Im Alltag geht man prinzipiell davon aus, dass sich ein Individuum bei Gesundheit gut und bei Krankheit schlecht fühlt. Diese saloppe Definition mag für den/die (insbesondere gesunden) Einzelne/n ausreichen, die Relevanz einer Definition von Gesundheit bzw. Krankheit ist aber in den unterschiedlichsten Lebensbereichen hervorzuheben.

Zum einen benötigen diejenigen, die von einer psychischen Krankheit betroffen sind, und deren Angehörige eine Definition, damit sie verstehen können, wovon sie betroffen sind und wie sie ihre ihre Situation verbessern können. So benötigen auch die Medizin und der Pflege-Bereich eine Definition von psychischer Gesundheit oder Krankheit, um den betroffenen Personen eine bestmögliche Begleitung und Behandlung bieten zu können. Um Rahmenbedingungen für die (Wieder-)Herstellung von Gesundheit zu ermöglichen, ist die Definition auch für das Sozialrecht von tragender Bedeutung, um einen Hilfsanspruch überhaupt erst zu gewährleisten bzw. eine Behandlung oder Betreuung bezahlen zu können (vgl. Sauter 2011, S.84). Dies sind natürlich nur einige von vielen exemplarischen Auszügen, die die Relevanz der Definition von Gesundheit bzw. Krankheit hervorheben.

Wovon ist eine Definition von psychischer Gesundheit nun abhängig und warum fällt es sämtlichen Akteurinnen/Akteuren der Praxis so schwer überhaupt eine zu finden?

Die beiden Begrifflichkeiten „Gesundheit“ und „Krankheit" lassen sich nur schwer definieren, da diese prinzipiell von kulturellen, zeitgeschichtlichen, politischen, ideologischen, wie auch individuellen genetischen Faktoren abhängig sind bzw. konstruiert werden (vgl. ebd., S. 82).

Eine wichtige Theorie zu jenen unterschiedlichen Faktoren, die psychische Gesundheit bzw. Krankheit definieren, liefert der US-amerikanische Psychiater George L. Engels 1980 mit dem sogenannten „biopsychosozialen Modell“. Dieses Modell definiert den Ursprung und Verlauf einer Krankheit als ein interaktives Wechselspiel aus biologisch­organischen, psychischen und soziokulturellen Faktoren (vgl. Engels 1980, zit. n. Stemmer-Lück 2009, S.19).

Seelische Gesundheit wird im Weltgesundheitsbericht der WHO vom Jahre 2001 als „Zustand des Wohlbefindens“ definiert, indem die/der Einzelne ihre/seine „eigenen Fähigkeiten erkennt, mit den normalen Anforderung des Lebens umgehen kann, produktiv arbeiten kann und in der Lage ist, einen Beitrag für seine Gemeinschaft zu leisten“ (WHO 2001, zit. n. Amering/Schmolke 2010, S. 129).

1.1.1. Gesundheitsförderung

Mit dem Grundgedanken „Gesundheit für alle“ wurde am 21. November 1986 seitens der WHO die sogenannte „Ottowa-Charta“ zur Gesundheitsförderung verabschiedet.

Zu fördern sind grundlegende Voraussetzungen wie Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit, um in Folge dessen soziale Ungleichheiten in gesundheitsfördernden Belangen abzubauen. Dieser Abbau soll aber nicht nur vom Gesundheitssektor gefördert werden, dies soll vielmehr auf gesamtgesellschaftlicher Basis geschehen. Um dies zu erreichen, müssen Politik, der Wirtschaftssektor, nichtstaatliche und lokale Institutionen, selbstorganisierte Organisationen und Medien koordiniert werden.

Als richtungsweisende Handlungsstrategien werden vernetzte und multiprofessionelle Arbeit (Vermittlung und Vernetzung), anwaltschaftliches Eintreten für Gesundheit aller Akteurinnen/Akteure und das partnerschaftliche Befähigen und Ermöglichen genannt. Dies soll vor allem durch Training der Persönlichkeitsentwicklung mittels erfolgreicher Beziehungsarbeit, durch Verinnerlichung lebenspraktischer Fähigkeiten und Aufklärung in gesundheitsfördernden Belangen ermöglicht werden (vgl. WHO 1986).

1.2. Psychische Störung

Das Konstrukt der Psyche umfasst unterschiedliche Funktionen. Dazu zählen zum einen die sogenannte Kognition, die als Voraussetzung für die Entscheidungsfähigkeit eines Individuums dient (vgl. Sauter 2011, S.90). Jene Kognition oder schlichtweg auch die Funktion des Denkens veranlasst Menschen dazu, Reize und Informationen so zu verarbeiten, dass diese zu Wahrnehmungen, Erinnerungen oder Vorstellungen werden und mittels bestimmter angeeigneter Ordnungsmuster wie Symbole oder Sprache als Gesamtkonstrukt gesehen werden (vgl. ebd.). Diese Verarbeitung hat wiederum den Zweck, dass bestimmte Gesetzmäßigkeiten erkannt werden können und die Verarbeitung von neuen Informationen erleichtert wird.

Während die Kognition als Informationsverarbeitung zu sehen ist, liegt der Fokus bei der psychischen Funktion „Fühlen" vielmehr auf dem affektiven „Erleben von Erregungen oder Beruhigung" (vgl. ebd., S. 91) im Zusammenhang mit physiologischen Erscheinungen, Reizen oder Information. Diese Funktion wird auch „Affekt" oder „Emotion" genannt (vgl. ebd.).

Neben Denken und Fühlen spielt auch die Funktion des Wollens eine erhebliche Rolle. Ist das Fühlen für die spezifische Aufnahme von Reizen und das Denken für die Verarbeitung dieser verantwortlich, besteht die Funktion des Wollens darin, jene erlebten und verarbeiteten Informationen auch aktiv weiter zu gestalten. Man spricht dabei auch von Antrieb, Handeln oder Motivation.

Laut Dorothea Sauter (2011) sind nun psychische Störungen „Funktionsstörungen und zwar in der Art und Weise wie Gefühle erlebt und geäußert werden, wie gedacht, geurteilt, gelernt wird, wie man sich verhält und wie das körperliche Erleben und Empfinden beeinflusst werden" (ebd., S.83).

1.2.1. Merkmale psychischer Störung

Psychische Störungen als „Steigerung oder Hemmung normaler psychischer Prozesse" (Stemmer-Lück 2009, S.23) sind stets als Gesamtkonstrukte zu sehen, die sich in der Kultur, der sozialen Umwelt, der Religion, dem Klassen- und Bildungsstand usw. manifestieren. Zu den zentralen und einigermaßen objektivierbaren Merkmalen, die in vielen Definitionsversuchen Vorkommen, zählen nach Comer (vgl. 1995, S. 3f) folgende Punkte:

- Devianz: Abhängig von den vorhandenen Normen, die in einer Gesellschaft, Kultur oder einem Zeitalter vorherrschen, versteht man unter Devianz jene Abweichungen, die nicht einem normgerechten Verhalten entsprechen.
- Leidensdruck ist die subjektive Einschätzung, die auf Grund des Ausmaßes und des Vorhandenseins der Symptome variieren kann.
- Beeinträchtigung ist während jenen Tätigkeiten spürbar, die den vorherrschenden Lebensanforderungen entsprechen.
- Gefährdung kann von den Betroffenen in Form von Selbstgefährdung verstanden werden, wie auch als Fremdgefährdung, die von Angehörigen bzw. im Großen und Ganzen von der Umwelt wahrgenommen wird.

(vgl. Comer 1995, S. 3f)

1.2.2. Subjektives Störungserleben

Auch wenn im vorangegangen Kapitel die Relevanz einer allgemeinen Definition angestrebt wird, ist in der Arbeit mit psychisch beeinträchtigten Menschen schlussendlich dennoch auf das subjektive Krankheitserleben der Klientinnen/Klienten einzugehen, um etwas über psychische Störungen im Allgemeinen sagen zu können und Probleme gemeinsam sowie auch alleine bewältigen zu können.

Diese induktive Herangehensweise lässt sich in folgende Stufen des Erlebens eingliedern:

Die Stufe des Erlebens von Symptomen und Störungen beschreibt den Umstand, die psychischen Funktionen (siehe Kapitel 1.2.1.) überhaupt erst als Veränderung wahrzunehmen. Bei Klientinnen/Klienten macht sich ein Gefühl der Ohnmacht breit, wenn sie diese Veränderung nicht beeinflussen können (vgl. Sauter 2011, S. 86). Die veränderten - für die Betroffenen unveränderbaren - Funktionen tragen dazu bei, auch Folgeerscheinungen wahrzunehmen, die sich in den Bereichen Wohnen, Arbeit, Freizeit oder in den sozialen Kontakten zum größten Teil negativ auswirken können (vgl. ebd., S.87). Psychische Funktionsstörungen sind natürlich nicht immer akut und unbeeinflussbar; sie sind von einem stets individuellen Verlauf gekennzeichnet, der von jedem Betroffenen unterschiedlich erlebt wird (vgl. ebd.). Amering und Schmolke (2010, S. 21) sprechen dabei von einer Heterogenität des Verlaufs. Psychische Störungen können einmalig oder rezidiv, sprich wiederholt, auftreten. Entsprechende Episoden können nach mehreren Wochen, Monaten oder sogar erst Jahren wieder und mehrmals erscheinen. Der Sorge, einem chronischen Krankheitsverlauf auf Lebenszeit ausgeliefert zu sein, sollen vor allem Begriffe wie Recovery und Empowerment entgegenwirken (vgl. ebd., S.15).

Prinzipiell wird von einem chronischen Krankheitsverlauf im psychiatrischen Bereich ausgegangen, wenn Störungen und Symptome sehr langsam verlaufen. Auch wenn die Geschwindigkeit und die Dauer für Betroffene als ein schmerzhafter Prozess angesehen werden, muss ergänzt werden, dass somit auch mehr Zeit bleibt, sich mit der psychischen Störung auseinanderzusetzen und diese frei nach dem Recovery- Prinzip so zu verändern, dass ein erfülltes Leben, trotz und mit Symptomen möglich ist (vgl. Rabenschlag/Needham 2011, S. 871).

Ziel ist es, subjektive und wissenschaftliche Krankheitsmodelle zu kombinieren. Subjektive Krankheitsmodelle resultieren aus einer individuell erstellten Theorie zu den eigenen Vorstellungen über Störungen aus dem Alltagswissen, aus persönlichen Erfahrungen und erworbenem Fachwissen. Wissenschaftliche Krankheitsmodelle basieren auf Theorien und/oder Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen Fachrichtungen (vgl. Sauter 2011, S.95). So kann einerseits vom Einzelnen auf das Allgemeine (Induktion) geschlossen werden, andererseits können auch Erkenntnisse vom Allgemeinen für die einzelnen Personen gewonnen werden (Deduktion).

1.3. Chronizität von psychischen Erkran kungen

Mit der Konzentration auf Selbsthilfekonzepte wie Recovery, Empowerment oder Salutogenese und der Vorstellung von möglichen Hilfsangeboten zur Betreuung und Rehabilitation, soll der Blick dieser Abschlussarbeit vor allem auf die Betreuung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen mit einem chronischen Krankheitsverlauf gelegt werden. Im Gegensatz zu akuten Krankheitsverläufen, die im psychiatrischen Kontext einen kurzen - tage- oder wochenlangen - Verlauf aufweisen (vgl. Amering/Schmolke 2010, S. 15), versteht man unter Chronizität „eine Vielfalt von somatischen und psychischen Langzeiterkrankungen und -Störungen" (Needham 2011, S. 669), die von dauerhaften und immer wiederkehrenden Symptomen geprägt sein können (vgl. ebd.).

Eine Chronizität von Krankheiten bedeutet aber nicht automatisch, dass überhaupt keine Hoffnung besteht, diese zu heilen. Vielmehr ist ein chronischer Krankheitsverlauf so zu verstehen, dass dieser sich langsam aufbaut und verläuft und für die betroffenen Personen als sehr langwierig empfunden wird (vgl. Amering/Schmolke 2010, S. 15f).

Als größte Herausforderung werden bei chronischen Krankheitsverlaufe oft nicht die Symptome an sich verstanden. Die Unberechenbarkeit der Krankheit führt zu einer großen Verunsicherung der Klientinnen/Klienten und erschwert deswegen eine erfolgreiche Lebensgestaltung (vgl. Needham 2011, S. 669).

1.4. Klassifikation psychischer Störungen

Auch wenn bei der direkten Behandlung und Betreuung das subjektive Störungsempfinden der Betroffenen, wie auch jene Einschätzung der Personen aus dem unmittelbaren sozialen Umkreis einen ausschlaggebenden Teil zum Verstehen der Komplexität eines einzelnen Krankheitsbildes beitragen, ist es notwendig, psychische Störungen als internationale Vereinheitlichung der Verständigung und der Forschung zu klassifizieren (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 26).

Eine Klassifikation ist vor allem als Zweckbegriff für das Gesundheits- und Sozialsystem bzw. für die entsprechende Kranken- und Sozialversicherung zu verstehen, welcher besagt, ob und wann eine Versicherung die Leistungen für eine betroffene Person übernimmt (vgl. ebd., S. 25).

Ein wichtiges Klassifikationssystem soll nun genauer erläutert werden: Die Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), wobei die aktuellste Version das ICD-10 von der WHO 2013 herausgegeben wurde (vgl. Dilling et al., 2005, zit. n. Stemmer-Lück 2009, S.26).

1.4.1. ICD-10 (International Classification of Diseseas) der WHO

Prinzipiell lässt sich über das Klassifikationssystem ICD-10 der WHO sagen, dass es nach ätiologischen (Beschäftigung mit der Ursache von Erkrankungen und ihrem Auslöser) und syndromatologischen (Lehre von der Erstellung von Syndromen) Faktoren, sowie nach den entsprechenden Verlaufsmerkmalen bestimmt wird.

Bei Vorliegen einer psychischen Störung wird diese im ICD-10 in zehn Hauptkategorien mit dem Buchstaben F markiert. Dabei werden anschließend Spezifikationen mit meist vierstelligen Zahlenkombinationen näher erläutert (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 26):

F0 Organische, einschließlich symptomatische psychische Störungen

F1 Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F3 Affektive Störungen

F4 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen oder Faktoren F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

F7 Intelligenzminderung

F8 Entwicklungsstörrungen

F9 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und der Jungend

F99 Nicht näher bezeichnete psychische Störungen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2013, S. 30ff)

[...]

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Durch Fremdhilfe zur Selbsthilfe. Die Bedeutung von Beziehungsarbeit zur Selbstbefähigung für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung
Untertitel
Steirische sozialpsychiatrische Leisungsangebote
Hochschule
Karl-Franzens-Universität Graz  (Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft)
Note
1,2
Autor
Jahr
2016
Seiten
64
Katalognummer
V383656
ISBN (eBook)
9783668589490
ISBN (Buch)
9783668589506
Dateigröße
618 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Empowerment, Recovery, Sozialpsychiatrie, Salutogenese, Gemeinwesenorientierung, Kommunikation
Arbeit zitieren
Sara Saubach (Autor:in), 2016, Durch Fremdhilfe zur Selbsthilfe. Die Bedeutung von Beziehungsarbeit zur Selbstbefähigung für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/383656

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