Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Beschreibung von Tinder
3. Die globale Kultur
4. Triebe und das Ich in der Kultur
4.1 Die Ausprägungen des Ichs
4.2 Triebe innerhalb der Kultur
5. Tinder als Lösungsversuch
6. Quellenverzeichnis
6.1 Literatur und wissenschaftliche Texte
6.2 Webseiten
1. Einleitung
Gucken wir uns die globale Gesellschaft an, so fällt ein Fakt besonders auf: es besteht eine konstante Spannung zwischen dem Tabu-Thema Sex und dessen Fetischisierung als Ware. Im Alltag werden wir regelrecht mit der Versuchung nach Sex und Erotik bombardiert, was besonders beim realitätsfernen Bild der Frau sichtbar wird, da sie oft und vielseitig mit üppigen Rundungen und viel Haut auf diversen Medien erscheint. Gleichsam wird jedoch das Thema Sex und Erotik nur zaghaft bis gar nicht nach außen getragen. Das wohl prominenteste Bespiel dieser Ambivalenz ist die Werbung. Es wird zwar mit Sexualität und viel Haut geworben, jedoch gibt es eine Art Aufsicht, die allzu sexistisches Auftreten in der Werbung rügt und abmahnt.1 Es herrscht ein öffentliches Tabu, welches Sex verbannt - wir müssen selber damit umgehen. Diese Gegenüberstellung ist offensichtlich ein Widerspruch mit sich selbst. Auf der einen Seite werden wir aufgefordert, uns dem hinzugeben und auf der anderen Seite sollen wir darüber nicht reden. Wie können wir mit diesem Spannungsverhältnis als Individuum nun umgehen? Es muss ein Lösungsversuch her. Untersuchungsgegenstand dieses Gedankenspiels soll die App Tinder sein, die sich weltweit großer Beliebtheit erfreut, obwohl ihr Funktionsumfang äußerst begrenzt ist. Diese Untersuchung soll der Frage nachgehen: Ist Tinder ein Regulator, um die Zerrissenheit zwischen Es, Außenwelt und Über-Ich in der aktuellen globalen Kultur zu balancieren? Tinder soll hier stellvertretend als Beispiel für andere Plattformen und Webseiten angesehen werden, da es augenscheinlich nur einen minimalen Nenner der Dating und Porno-Industrie anbietet, aber gleichsam in vollem Umfang Bedürfnisse befriedigt.
Folgend soll zunächst die App Tinder vorgestellt werden, um sie fortan möglichst präzise einordnen und mit ihr arbeiten zu können. Da wir uns in der globalen Kultur bewegen, wird es nötig sein, einen Begriff der globalen Kultur heranzuziehen, um auch hier eine korrekte Verortung zu ermöglichen. Danach werden wir Freuds Theorien zum Sexualtrieb anschauen und hierbei besonders auf „Das Ich und das Es“ sowie auf „Das Unbehagen in der Kultur“ eingehen, da diese Texte sich mit der Einordnung des Sexualtriebs in der Gesellschaft res. Kultur beschäftigen. Wurde dieser Überblick gegeben, kann vielleicht gezeigt werden, was Nutzer dazu treibt, Tinder so umfangreich zu benutzen.
2. Beschreibung von Tinder
Die App Tinder wurde 2012 gegründet und soll zurzeit 20 Millionen aktive Nutzer haben, die sich weltweit unterhalten können.2 Ignorieren kann man diese Anwendung in unsere Kultur wohl nicht mehr. Um Tinder nutzen zu können, muss man sich mit einem existierenden Facebook-Profil anmelden und diesbezüglich auswählen, welches Geschlecht man gerne näher kennenlernen möchte. Zur Pflege des eigenen Bildes kann nun noch ein Text über sich selbst geschrieben werden sowie bis zu sechs Bilder eingestellt, um dem Gegenüber ein Eindruck von sich zu vermitteln. Hat man das geschafft, bekommt der Nutzer fortan entweder männliche oder weibliche Nutzer angezeigt, die sich in der näheren Umgebung aufhalten und laut Facebook-Profil gleiche Interessen haben. Tinder glaubt, dass Nutzer mit gleichen Interessen (die vorab auf Facebook durch das Anklicken von bestimmten Seiten zu bestimmten Themen ausgewählt wurden) sich auch im echten Leben kennenlernen wollen würden. Hat man nun einen Nutzer zur Auswahl vor sich, kann man den Nutzer entweder ablehnen, weil man ihn nicht mag (was meistens innerhalb von ein paar Sekunden entschieden wird), oder man klickt auf das Herz, um zu zeigen, dass man die Person irgendwie toll findet. Wie in einem Katalog kann der Nutzer so blättern und sich den Gegenüber regelrecht als Ware aussuchen. Erst wenn beide Parteien sich mit Gef ä llt mir markiert haben, kommt es zu einem Match und man darf sich private Nachrichten hin und her schicken. Was danach passiert, ist nur durch die Handlung der Nutzer limitiert.
Damit muss Tinder in den Bereich der Dating und Flirt-Plattformen eingeordnet werden. Weiter kann somit die Hypothese aufgestellt werden, dass Nutzer auf Tinder miteinander schlafen wollen. Offiziell wirbt damit Tinder natürlich nicht, aber das aktuelle Video auf der Website legt dem Nutzer hunderte Fantasien nahe, die zwei Parteien miteinander ausleben könnten.3 Wer also ein Match erhält, hat potentiell die Möglichkeit ein erotisches oder sexuelles Abenteuer zu erleben; zu mindestens wird das suggeriert. Sollte es dann zu einem physischen Treffen kommen, findet ein zweites Treffen statt, bei dem sich das virtuelle Pärchen nochmals physisch kennenlernt. Selbst wenn es dazu nicht kommt, ist jeder Match eine Bestätigung für die eigene Person. Seht her, mich mag jemand. Jemand hat mich offiziell als interessanter Mensch bewertet. So wird wenigstens der eigene Narzissmus gestillt. Wir wissen von likes und Feedback in sozialen Netzwerken, dass der Nutzer dadurch Bestätigung und Anerkennung empfindet, was ihm für wenige Augenblicke einen Sinn gibt und eine gewisse Befriedigung darstellt.4 Da denkt jemand an mich und das f ü hlt sich gut an. Diese Pawlowsche Konditionierung der kurzfristigen Anerkennung kann zu einem Suchtverhalten führen.
Witz, Charme, die menschliche Aura und alles was dazu gehört, wenn man einem echten Menschen in der realen Welt begegnet, werden auf Tinder vernachlässigt. Es entscheidet allein das Bild über ja oder nein. Ja, er/sie ist ein wertvoller Mensch oder nein, er/sie ist ein weniger wertvoller Mensch.5
3. Die globale Kultur nach Redner
Unsere globale Kultur wird vor allem durch die digitale Technologisierung beeinflusst und geprägt. Jede Kultur besteht fundamental aus drei Säulen: Technik, Ethos und Repräsentation. Die Repräsentation sind Objekte oder auch Personen, die für etwas stehen oder jemanden einstehen. In lokalen Kulturen werden Repräsentationen eine Bedeutung zugemessen, die der Mensch erhält, wenn er Objekte oder ähnliches benutzt. So repräsentieren z.B. Heiligtümer einer jeden Kultur etwas Bedeutsames, was für die Menschen der Kultur wichtig ist. Wir sehen heute noch, dass immer wieder religiöse Symbole zerstört werden, um ihre Bedeutung zu schmälern. Aber auch ein Anwalt oder ein Auto repräsentieren etwas und können eine Bedeutung für jemand oder etwas haben.
Der Ethos bestimmt unser Verhalten und die Regeln res. Normen in unserer Kultur, nach der wir uns ausrichten. So werden Begrüßungen, Rituale oder der Umgang mit Menschenleben einen bestimmten Wert zugesprochen, an dem sich die Menschen orientieren, da es wertvoll für den Erhalt der Kultur ist.
Die dritte Säule sind Techniken, die eine Kultur benutzt und weiterentwickelt. Also Techniken zur Herstellung von Objekten, zum Anbau von Pflanzen auf dem Acker oder auch zur Hinrichtung von Menschen. Alle drei Säulen bedingen sich einander normalerweise gleichwertig und prägen sich damit auch gegenseitig in ihrer Entwicklung. So prägt die Technik des Autos unsere Verhalten in der Stadt und wie wir uns in der Stadt bewegen. Anbautechniken bestimmen was wir essen und welchen Nahrungsmitteln wir eine Bedeutung zuweisen und welchen nicht.
In der globalen Kultur kommt es jedoch zum Triumph der Technik über den Ethos und der Repräsentation6, was zur Homogenisierung und Entmenschlichung7 unserer lokalen Kultur führt - die Repräsentationen verlieren an Bedeutung und der Ethos seinen Wert für den Menschen. Diese Homogenisierung wird vor allem durch die Automatisierung und leichte Reproduzierbarkeit von Daten und Informationen ermöglicht. Die Entwertung des Lebens und seine zunehmende Bedeutungslosigkeit schaffen eine Leere, die nach Redner durch eine Ersatzkultur8 gefüllt wird. Sie tritt an jene Stelle, die Rituale und Traditionen einst in der lokalen Kultur ausfüllten. Oder wie Han sagt: „Daten und Zahlen sind additiv und nicht narrativ. Sinn beruht dagegen auf Narration. Daten füllen die Sinnleere.“9
Warum das wichtig ist, zu erwähnen? Tinder muss als digitale Technologie angesehen werden, die in unser Verhalten eingreift und uns formt. “We shape our tools and thereafter our tools shape us.”10 Diese Plattform ist sicherlich nicht die erste ihrer Art, aber sie kann durch die Einfachheit als stellvertretend für viele andere angesehen werden.
4. Triebe und das Ich in der Kultur
Folgend wird auf Grundlage Freuds erklärt, wie sich Triebe in unserer Gesellschaft verhalten und wie sich diese innerhalb einer Kultur entwickeln. Im Zentrum steht dabei vor allem der Sexualtrieb. Darauf aufbauend wird anschließend Tinder kulturphilosophisch betrachtet.
4.1 Die Ausprägungen des Ichs
Freud sieht den Menschen vor allem durch Triebe konstituiert und versucht dadurch Verhalten in der Gesellschaft zu erklären. Ein zentraler Trieb stellt dabei der Sexualtrieb dar, der im ständigen Spannungsverhältnis mit der Kultur res. mit äußeren Einflüssen steht. Das Ich, welches das ausgeprägte und bewusste Selbstbild der äußeren Welt eines Menschen darstellt und ein modifizierter Teil vom Es ist, bekommt im Laufe der frühkindlichen Entwicklung das Über-Ich als weitere Instanz zu spüren, die dem Ich Befehle und Verbote auferlegen will, aber eben auch zugleich ein Teil des Ichs ist. Das Ich kann als Tor angesehen werden, das äußere und innere Wahrnehmungen aufnimmt, sich mit ihnen identifiziert, und diese in den Seelenapparat des Unbewussten und Vorbewussten einordnet.11 Es prägt sich als mehrfache Existenzen aus dem Erleben der Umwelt.
Dabei muss jedoch das Ich ständig den Kampf innerhalb der Kultur führen. Um Klarheit zu erlangen, soll zunächst das Es beschrieben werden. Das Es ist das Unerkannte und Unbewusste, welches fließend, nicht genau getrennt, vom Ich hinabfließt und so keine präzise Trennung von Bewusstem und Unbewusstem aufzeigt.12 Das Es enthält die unbewussten Triebe.
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1 Reidel (Webseite)
2 Booton (Webseite)
3 Guen & Firpo (Video)
4 Pöppel & Wagner, S. 132 ff.
5 Redner, S. 31-156
6 Redner, S. 156
7 Redner, S.137
8 Redner, S. 128
9 Han, S. 82
10 Culkin, S. 51
11 Freud, Bd. XIII, S. 243
12 Freud, Bd. XIII, S. 251