In der Ausgabe 14/ 2012 des SPIEGEL lese ich einen Bericht über den schrittweisen Umzug einer ganzen Roma-Dorfgemeinschaft aus Rumänien in das vermeintliche Paradies des deutschen Sozialstaates, nach Berlin/ Neukölln. Er ist, ein häufiges Stilmittel beim SPIEGEL, sehr anschaulich und detailliert beschrieben: verschiedene Handlungsorte, subjektive Annäherung an handelnde Personen, lebhafte Szenenbeschreibungen. Kurzum: ein kurzweiliges und durchaus befriedigendes Lesevergnügen. Dachte ich!
Die Darstellung der Roma in dem Bericht, auf die ich im weiteren Textverlauf genauer eingehen werde, ist eher negativ. Zumindest entsteht bei mir ein solches gedankliches Bild: kommen einfach her, kein Gedanke an Arbeit, Selbstverantwortung etc. und danken dann ihrem Gott für den unverhofften Wohlstand, der ja aber wenig sakral durch harte Lohnarbeit anderer Leute geschaffen wird. Wie kommt es, dass dieser Bericht nach einer ersten, zugegebenermaßen oberflächlichen, Lektüre ein solch einseitiges Bild in mir entstehen lässt? Ist er diffamierend, gar unterschwellig manipulierend? Ich krame den SPIEGEL aus dem Altpapier hervor und lese ihn erneut. Auf der Suche nach Gemeinheiten und Unterstellungen werde ich nicht fündig. Die Autorin Özlem Gezer schreibt neutral, objektiv und ohne erkennbare Wertungen. Leider, wie ich im ersten Moment denke, denn ein anderer Befund hätte es mir leicht gemacht die Sache abzuhaken. Andererseits scheint der Bericht seltsam glatt und bruchlos. Die eigentliche Geschichte ist kurz und lässt sich sinngemäß so zusammenfassen: „Unser Wohlstand lockt ganze Roma-Gemeinschaften an“, und kommt ohne Abwägungen oder Gegenüberstellungen von Argumenten aus.
Also: Woher kommen meine Vorbehalte, wenn sie in dem Text nicht expliziert sind? Die mögliche Antworthypothese ist für mich nicht unbedingt schmeichelhaft, liegt aber auf der Hand: Sie waren schon da, in meinen Gedanken, meinem Fühlen und Handeln. Der Text hat sie nur gereizt, wie einen versteckten Nerv. Ich werde im Folgenden versuchen, mich dem Phänomen unterschwelliger Ressentiments wissenschaftlich zu nähern und meine Erkenntnisse auf die Konstruktion des angeführten SPIEGEL-Berichtes und dessen Rezeption durch mich anzuwenden. Die ersten beiden Kapitel des Buches „Migrationspädagogik“ von Paul Mecheril u.a. dienen mir als Einführung in die wissenschaftliche Betrachtung von Migration. Dabei fällt mir das vorgestellte Konzept des Othering von Edward Said besonders ins Auge.
Inhaltsverzeichnis (Table of Contents)
- Erstes Lesevergnügen
- Zweite Leserunde
- Dritte Leserunde
- Vierte und letzte Leserunde
Zielsetzung und Themenschwerpunkte (Objectives and Key Themes)
Die Hausarbeit befasst sich mit dem Phänomen des Antiziganismus und beleuchtet Vorurteile gegenüber Sinti und Roma anhand eines SPIEGEL-Berichtes. Der Fokus liegt auf der Analyse der Konstruktion eines stereotypischen "Zigeuner"-Bildes und dessen Auswirkungen auf die Rezeption des Berichtes.
- Analyse des Othering-Prinzips und dessen Anwendung im SPIEGEL-Bericht
- Historische Entwicklung des "Zigeuner"-Stereotypes und dessen Persistenz
- Das Kollektive Gedächtnis und dessen Rolle im Vergessen des Völkermords an Sinti und Roma
- Die Bedeutung von Medienberichterstattung für die Aufrechterhaltung von Vorurteilen
- Der Einfluss von Antiziganismus auf die aktuelle Situation von Sinti und Roma in Deutschland
Zusammenfassung der Kapitel (Chapter Summaries)
Der Text beginnt mit der Analyse eines SPIEGEL-Berichtes über die Zuwanderung einer Roma-Dorfgemeinschaft aus Rumänien nach Neukölln. Die Rezeption des Berichts durch den Autor offenbart latente Vorurteile, die mithilfe des Othering-Konzeptes von Edward Said näher untersucht werden.
Im zweiten Teil wird ein historischer Abriss über Sinti und Roma vorgestellt, der die lange Geschichte der Ausgrenzung, Verfolgung und schließlich des Völkermords im Dritten Reich beleuchtet. Es wird deutlich, dass die im SPIEGEL-Bericht geäußerten Vorurteile auf jahrhundertealte Klischees zurückzuführen sind.
Der dritte Abschnitt analysiert die Folgen des Holocaust und die anhaltende Diskriminierung von Sinti und Roma in der Bundesrepublik. Es wird die Rolle des Kollektiven Gedächtnisses im Vergessen des Völkermords und die Fortsetzung von Antiziganismus in der Gesellschaft beleuchtet.
Im letzten Kapitel wird die Bedeutung von Medienberichterstattung für die Aufrechterhaltung von Vorurteilen anhand des SPIEGEL-Berichtes verdeutlicht. Es wird die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses und kritischer Medien für einen Bewusstseinswandel gefordert.
Schlüsselwörter (Keywords)
Antiziganismus, Othering, Stereotypisierung, Kollektives Gedächtnis, Völkermord an Sinti und Roma, Medienberichterstattung, Diskriminierung, Integration, Sinti und Roma, Migration, Deutschland.
- Arbeit zitieren
- Timo Bleckwedel (Autor:in), 2017, Annäherung an (m)ein Vorurteil: Roma, Zigeuner. Wer lebt da in unserer Mitte?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/385394