Leseprobe
Wie so viele Texte Kafkas, bereitet auch „Vor dem Gesetz“[1] enorme interpretatorische Schwierigkeiten, woraus im hohen Maße unterschiedliche, zum Teil sich widersprechende Interpretationsergebnisse resultieren. Das liegt zum einen an Kafkas, sich jeglicher Interpretation und jeglichem Sinn entziehende Art des Schreibens, aber auch an der Vielfalt der literaturwissenschaftlichen Analysemethoden. So charakterisieren O. Jahraus und S. Neuhaus sehr treffend:
„Sein Werk inszeniert wie kaum ein anderes diese Dialektik von Interpretationsprovokation
und Interpretationsverweigerung. Daher ist die Interpretation seines Werks und seiner Texte
nicht nur paradigmatische, sondern auch symptomatisch für die Geschichte der Literatur-
wissenschaft als Interpretationstheorie“[2]
„Vor dem Gesetz“ scheint es jedoch diesbezüglich besonders in sich zu haben, da sich schon bei der gattungsspezifischen Einordnung die Meinungen der Gelehrten scheiden. So wollen einige Interpreten den Text als Parabel verstanden wissen, andere wiederum als Anti-Parabel, Anti-Märchen oder als Legende. Wobei der Begriff Legende jedoch am treffendsten ist, da „[...] Kafka referred to it as such in his diary entry of 13. December 1914 [...]“[3]
Aber eben so uneins ist man sich in Bezug auf den Kontext, in dem die Legende gesehen und gedeutet werden muss. Viele Literaturwissenschaftler betrachten und analysieren den Text im Kontext des Prozeß Romans, doch da Kafka den Text mehrfach als Einzeltext veröffentlicht hat und „[...] so beträchtliche Unterschiede zum Romankontext [bestehen]“[4], ist es nahe-liegend die Betrachtung des Textes isoliert und ohne kontextuelle Bezüge, von einem textinternen Sinnzusammenhang ausgehend, vorzunehmen. Hierbei werde ich mich im Wesentlichen auf die hermeneutische Analyse von Bernd Witte[5] stützen.
Die Handlung der Legende lässt sich zunächst stark verkürzt wie folgt darstellen. Ein „Mann vom Lande“ kommt zum Gesetz, vor dem ein Türhüter steht und bittet diesen um Eintritt, der ihm jedoch verwehrt wird. Da ihn ein späterer Einlass in Aussicht gestellt wird, wartet er „Tage und Jahre“ (Z.20)[6] auf die Erlaubnis zum Eintritt. Bis schließlich am Ende seines Lebens der Türhüter die Tür schließt und dem Mann, auf die Frage hin, weshalb er als Einziger die ganzen Jahre über nach Einlass verlangt hat, zu verstehen gibt, dass nur er Einlass in diese Tür erhalten konnte.
[...]
[1] Franz Kafka:
[2] O. Jahraus und S. Neuhaus (Hrsg.): Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. Stuttgart 2002. S.28/29
[3] Richard Sheppard: Kafka´s Vor dem Gesetz: Hermeneutic Pluralism or the Significance of Uninterpretability In: Manfred Voigts (Hrsg.): “Vor dem Gesetz”: Aufsätze und Materialien. Würzburg 1994. Sheppard diskutiert kurz die einzelnen Positionen bzgl. der gattungsspezifischen Einordnung.
[4] Hartmut Binder: „Vor dem Gesetz“ – Einführung in Kafkas Welt. Stuttgart/Weimar 1993. S. 3
[5] Bernd Witte: Das Gericht, das Gesetz, die Schrift: Über die Grenzen der Hermeneutik am Beispiel von Kafkas Türhüterlegende. In: K.-M. Bogdal (Hrsg.): Neue Literaturtheorien in der Praxis – Textanalyse von Kafkas „Vor dem Gesetz“. Opladen 1993
[6] Die Zeilenangaben beziehen sich im folgenden immer auf den Text im Anhang