Metaphysik der Schönheit in Adalbert Stifters "Brigitta"


Hausarbeit, 2014

32 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Metaphysik der Schönheit in Adalbert Stifters „Brigitta“

1. Einleitung

2. Metatextuelle Leitgedanken

3. Entwicklungsgeschichte Brigittas
3.1. Erzählsituation
3.2. Erste Begegnung der Erzählerfigur mit Brigitta
3.2. Brigitta durch die Augen anderer
3.3. Hinführung des Lesers zu Brigitta
3.4. Brigitta als Kind
3.5. Brigitta als junge Frau
3.6. Liebe zu Stephan Murai
3.7. Scheitern der Ehe
3.8. Brigittas Genesung in der Welt
3.9. Spätes Glück

4. Stephan Murai als Kontrast- und Komplementärpart zu Brigitta

5. Liebe als Prozess der Kultivation
5.1. Frage der Nachkommenschaft
5.2. Verantwortungsvolle Liebe
5.3. Kultivieren des Selbst
5.4. Integration des Wilden
5.5. Aussöhnung und Reflexion der Schönheit

6. Schluss: Metaphysik der Schönheit

Bibliografie

1.Einleitung

Stifters Novelle Brigitta erschien zunächst 1844 in Gedenke Mei n !, dann in überarbeiteter Fassung 1847 im vierten Band der Studien. Die Novelle erhielt viel Lob und Beachtung, im 20.Jahrhundert gehört sie zu den meistgelesensten Werken Stifters.[1]

Stifter gestaltet in ihr Stück für Stück das psychologisch feinsinnige Lebens- und Entwicklungsporträt der Titelfigur Brigitta, einer Frau, die durch ihren Mangel an körperlicher Schönheit leidet und benachteiligt ist, aber dennoch ihren Platz im Leben und ihre große Liebe (wieder-)findet. Brigitta steht in einer Reihe außergewöhnlicher Frauenfiguren im Werk Stifters, die für ihre Zeit emanzipiert leben (Cornelia im Condor, Angela in den Feldblumen, Susanne Roderer im Nachsommer). [2] Allerdings nimmt sie dahingehend eine Sonderstellung ein, dass sie die einzige ist, die durch mangelnde körperliche Schönheit gezeichnet ist.[3]

Der Leser wird vor dem Beginn der Rahmenhandlung an die gedankliche Metaebene der Novelle, die Metaphysik der Schönheit, durch allgemeine Gedanken zur Schönheit psychologischer und philosophischer Natur herangeführt. Diese Überlegungen greift Stifter noch einmal auf, bevor der Erzähler Brigitta innerhalb des erzählten Geschehens der Rahmenhandlung endlich persönlich begegnet. Stifter fragt danach, was uns zu einem anderen Menschen zieht: inwieweit es rein äußerlich sichtbare Schönheit oder das Erkennen eines inneren Wesens ist. Darauf gibt er innerhalb des erzählten Geschehens vielschichtige und differenzierte Antworten. Die Dichotomie zwischen Brigittas mangelnder äußerer Schönheit und ihrer reichen inneren Schönheit und deren schließlich weitgehende Integration ist das zentrale Thema der Novelle. In der Sekundärliteratur wird Brigitta meistens als eindeutig hässlich bezeichnet. So im Klappentext der Reclamausgabe[4], unter anderen in Franz H. Mautners Aufsatz Randbemerkungen zu „Brigitta“ [5] , in Konrad Feilchenfeldts Aufsatz „ Brigitta und andere Chiffren des Lebens“ [6] und in Rosemarie Hunter-Lougheeds Aufsatz Stifter: Brigitta [7] , der ansonsten sehr differenziert ist. Ullrich Dittmann hingegen vertritt die Meinung, dass Brigitta nur von ihrer Umgebung so charakterisiert wird, nie direkt vom Erzähler selbst.[8] Dies führt zu einer anderen Lesart des Textes, in welcher die Wahrnehmung von Brigittas Schönheit -und damit zugleich von Schönheit allgemein- mit grundlegenden philosophischen und psychologischen Fragestellungen verknüpft ist. Komplexe seelische und soziale Vorgänge, Entwicklungsstadien und Rollenerwartungen spielen in die Wahrnehmung von Brigittas Äußeren hinein. Das zentrale Moment ist jedoch, dass Stifter Brigittas Schönheit eng mit ihrer seelischen Entwicklung verbindet. Denn in der erzählten Welt der Novelle ist das äußere Erscheinungsbild immer Ausdruck eines inneren Wesens: So muss Brigitta lernen, aus ihrer eigenen, abgeschlossenen Innenwelt hinaus zu gehen in die äußere Welt und diese zu gestalten und zu kultivieren. Durch die Gestaltung der sie umgebenden Welt kultiviert Brigitta ihr eigenes Seelenleben und findet zu sich selbst und zu ihrer eigenen ihrem Wesen entsprechenden Schönheit.

Aber nicht nur die Schönheit ist Thema in Stifters Novelle, die Wahrnehmungsfähigkeit ist der komplementäre Part dazu, ohne den Schönheit keine Bedeutung hat. Es muss erst das rechte Auge kommen, um die wahre Schönheit zu sehen. So muss Brigittas große Liebe, Stephan Murai, erst lernen, den wahren Kern, Brigittas inneres Wesen, und damit ihre innere Schönheit zu erkennen. Rosemarie Hunter-Lougheed sieht in dieser Erkenntnis das wichtigste Prinzip der Erzählung: „Das Kompositionsprinzip weist die für Stifter typische Grundbewegung von außen nach innen auf, von der täuschenden äußeren Erscheinung zur Erkenntnis des wahren inneren Wesens.“[9] Selbst Stephan Murai, obgleich mit außergewöhnlicher körperlicher Schönheit gesegnet und Liebling der Gesellschaft, muss seinen seelischen Entwicklungsweg gehen, um zu sich und zu seiner Liebe zu finden. Diesen Weg findet er – er folgt darin Brigittas Vorbild – in der Kultivierung und Gestaltung seiner Umwelt und in der Fürsorge für seine Mitmenschen. Stifter vertritt ein holistisches Weltbild: die Entwicklungsherausforderungen, die er an seine Figuren stellt, sind ganzheitlich: Kultivierung von Landschaft, von sozialer Gemeinschaft und die Kontrolle der eigenen Triebe und Affekte sind deren lebenslange Aufgaben. Die Kultivierung des inneren seelischen Selbst wiederum steht in einem vielschichtigen Verhältnis zum Thema der äußeren Schönheit.

Offensichtlich verhandelt Stifter mit der Schönheit ein Thema, das ihm selbst sehr am Herzen lag, hatte er sich doch im Frühjahr 1847 an der Universität Wien „um Bewilligung, öffentliche Vorträge über das Schöne halten zu dürfen“ beworben. Und er charakterisiert die zwei ersten Bände der „Studien“ - in deren zweitem Band Brigitta erschienen ist - als „gesammelte Schriften ästhetischen Inhalts unter dem Titel Studien“.[10]

2. Metatextuelle Leitgedanken

Bevor die eigentliche Rahmenhandlung beginnt, stellt Stifter[11] einen Prolog voran, eine allgemeinere Einführung in das Metathema, das in der Novelle verhandelt wird.[12] Allerdings sind diese Gedanken zum Leitbegriff der Schönheit nicht so sehr eine moralische Belehrung des Lesers im Stil des Biedermeier,[13] sondern generelle Reflexionen über die Schönheit und ihre Bedeutung für zwischenmenschliche Beziehungen, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf bestimmte Fragestellungen im Text lenken. Der Leser bleibt selbst mündiger Forscher, der Spuren findet, aber keine eindeutigen Antworten vorgelegt bekommt.[14] Das menschliche Seelenleben bleibt laut Stifter Wissenschaft und Psychologie zum größten Teil verborgen, nur: „die Dichtkunst in kindlicher Unbewusstheit lüftet [den Schleier, Ergänzung der Verfasserin] zuweilen“ (Brigitta, S.3).[15] Wie Stifter in seinen Überlegungen „Über Stand und Würde des Schriftstellers“ darlegt, spricht er der Literatur eine Vorreiterrolle gegenüber der Wissenschaft zu, sie solle „in der Ahnung und Vorausoffenbarung“ mehr über die conditio humana sagen können, als die Wissenschaften und die Psychologie. Sie soll „den verborgenen Zusammenhang von Natur- und Sittengesetz“ erkunden.[16] Zugleich relativiert er die Dichtkunst, denn Stifter zweifelt an der Fähigkeit der Literatur, das Phänomen komplett zu durchleuchten, ihr gelingen nur kurze Einblicke. Im Gegenzug aber spricht er der Literatur aufgrund deren kindlicher Reinheit größere Fähigkeiten zu als den Wissenschaften. Diese Kritik am rein Rationalen findet sich auf der Ebene des fiktionalen Geschehens wieder, denn am erst höchsten Punkt ihrer seelischen Entwicklung sind Stephan und Brigitta wieder rein wie Kinder und können aufeinander zugehen: „Die Welt stand wieder offen“ (Brigitta, S. 63)

Stifter deutet in diesen vorangestellten Worten moralische Qualitäten an, von denen die Zuneigung abhängt, allerdings benennt er sie nicht konkret. Im Laufe der Novelle kristallisieren sich die Qualitäten dann klarer heraus, wie im Folgenden noch näher erläutert werden wird. Die moralische Belehrung Stifters steht nicht in der aufklärerischen Tradition, in der der Verstand allein erkennt, was richtig und was falsch ist. Stattdessen wird dem Gefühlsleben, dem Herzen mit all seinen Unwägbarkeiten ein größerer Raum eingeräumt. Im erzählten Geschehen gibt es unterschiedliche Arten von Anziehung zwischen Menschen und diese spricht Stifter bereits im Vorwort an:

„Ebenso fühlen wir uns manchmal zu einem hingezogen, den wir eigentlich gar nicht kennen, es gefallen uns seine Bewegungen, es gefällt uns seine Art, wir trauern, wenn er uns verlassen hat, und haben eine gewisse Sehnsucht, ja eine Liebe zu ihm, wenn wir oft noch in späteren Jahren seiner gedenken: während wir mit einem anderen, dessen Wert in vielen Taten vor uns liegt, nicht ins Reine kommen können, wenn wir auch jahrelang mit ihm umgegangen sind. Dass zuletzt sittliche Gründe vorhanden sind, die da Herz herausfühlt, ist kein Zweifel, allein wir können sie nicht immer mit der Waage des Bewusstseins und der Rechnung hervorheben, und anschauen.“ (Brigitta, S. 3)

Stifter bezieht in diesen Überlegungen die Gesellschaft mit ein, die bestimmte Normen setzt, wer als schön angesehen wird und wer nicht. Schönheit entspricht in seiner Philosophie jedoch nicht nur klar messbaren äußeren Kriterien,[17] darüber hinaus gibt es noch die Dimension der inneren Schönheit, einer wesenhaften, seelischen Schönheit, die nicht offen sichtbar ist, aber einen Menschen trotzdem zu einem anderen hinziehen kann.

„In dem Angesichte eines Hässlichen ist für uns oft eine innere Schönheit, die wir nicht auf der Stelle von seinem Werte herzuleiten vermögen, während uns oft die Züge eines andern kalt und leer sind, von denen alle sagen, dass sie die größte Schönheit besitzen.“ (Brigitta, S. 3)

Nach dieser ersten Einführung in das Metathema der Novelle taucht der Erzähler in das erzählte Geschehen der Rahmenhandlung ein. Bevor jedoch der Erzähler im Verlauf der Rahmenhandlung Brigitta richtig kennen lernt, erfolgt noch die zweite Reflexion über die Schönheit am Beginn des dritten Kapitels „Steppenvergangenheit“,

„Es liegt im menschlichen Geschlechte das wundervolle Ding der Schönheit. Wir alle sind gezogen von der Süßigkeit der Erscheinung, und können nicht immer sagen, wo das Holde liegt. Es ist im Weltall, es ist in einem Auge, dann ist es wieder nicht in Zügen, die nach jeder Regel der Verständigen gebildet sind. Oft wird die Schönheit nicht gesehn, weil sie in der Wüste ist, oder weil das rechte Auge nicht gekommen ist – oft wird sie angebetet und vergöttert, und ist nicht da: aber fehlen darf sie nirgends, wo ein Herz in Inbrunst und Entzücken schlägt, oder wo zwei Seelen aneinander glühen; denn sonst steht das Herz stille, und die Liebe der Seelen ist tot. Aus welchem Boden aber diese Blume bricht, ist in tausend Fällen tausendmal anders; wenn sie aber da ist, darf man ihr jede Stelle des Keimens nehmen, und sie bricht doch an einer andern hervor, wo man es gar nicht geahnt hatte. Es ist nur dem Menschen eigen, und adelt nur den Menschen, dass er vor ihr kniet – und alles, was sich in dem Leben lohnt und preiset, gießt sie allein in das zitternde beseligte Herz. Es ist traurig für einen, der sie nicht hat, oder nicht kennt, oder an dem sie kein fremdes Auge finden kann. Selbst das Herz der Mutter wendet sich von dem Kinde ab, wenn sie nicht mehr, ob auch nur einen einzigen Schimmer diese Strahles an ihm zu entdecken vermag.“ (Brigitta, S. 37)

Stifter wählt Metaphern aus der Natur, um über die Schönheit zu sprechen. Schönheit folgt in seiner Auffassung dem Naturgesetz und ist vom Menschen nicht beeinflussbar, trotzdem ist der Mensch existenziell auf sie angewiesen. Schönheit ist wie die Natur, deren Gesetze der Mensch nur versuchen kann zu verstehen, damit er ihnen nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Stifter verwendet häufig das Adjektiv „natürlich“ wenn er ausdrücken möchte, dass etwas richtig und angemessen ist im Sinne seiner holistischen Weltauffassung. Bis dahin stand die Wüste (variiert als Öde, Steppe oder Puszta) nicht direkt als Metapher für Brigittas fehlende Schönheit, von nun an wird beides metaphorisch verknüpft.[18] Trotz aller Naturmetaphorik ist Wahrnehmung der Schönheit etwas spezifisch Menschliches. Die seelische Liebe zwischen zwei Menschen hängt immer zusammen mit einer Neigung, die durch äußere Merkmale hervorgerufen wird. Allerdings ist es nicht eindeutig festzumachen, worin genau die Schönheit liegt, die ein Mensch im anderen sieht. Stifter erklärt Schönheit zur existenziellen Grundbedingung menschlichen Lebens, denn selbst die Mutterliebe, auf die das Kind existenziell angewiesen ist, hat als Grundbedingung, dass die Mutter ihr Kind als schön wahrnimmt. Die Metagedanken zur Schönheit nehmen vieles voraus, was in den Beziehungen innerhalb des erzählten Geschehens literarisch veranschaulicht wird, so leitet die Thematik der fehlenden Mutterliebe direkt zu Brigittas Kindheit über.

3. Entwicklungsgeschichte Brigittas

3.1. Erzählsituation

Wie Ulrich Dittmann schreibt, widmet sich Stifter, nachdem er sich programmatisch gegen die Darstellung großer Gegenstände in seiner Literatur gewendet hat, mit Vorliebe der Gestaltung von Sonderlingen oder Außenseitern.[19] Die Darstellung solcher Figuren ist nach Alfred Doppler ein typisches Thema der Biedermeierliteratur.[20] Brigitta ist eine solche Figur, sie ist eine ungewöhnliche Frau, die Rollenmustern ihrer Zeit nicht entspricht und sich ihren eigenen Weg sucht. Ihr Schicksal wird in der Novelle Stück für Stück in Rückblenden offen gelegt und innerhalb der Rahmenhandlung zu einem glücklichen Ausgang geführt. Brigitta wird zunächst durch die Augen der Erzählerfigur eingeführt und es ist auch der Erzähler, der dem Leser ihre Geschichte näher bringt. Die Erzählerfigur ist ein Freund des Majors Stephan Murai, der auf seinem Weg zu dessen Gut zufällig auf die Titelfigur Brigitta trifft. Die Erzählsituation ist komplex: Der Erzähler erzählt von sich als jungem Mann, der eine Figur innerhalb der Rahmenhandlung ist. Teilweise taucht er in die Perspektive seiner selbst in jungen Jahren ein und beurteilt das Geschehen unzuverlässig, subjektiv und naiv verkennend. Andererseits erzählt er Stück für Stück in Rückblenden die Vorgeschichte Brigittas und ihrer Beziehung zum Major vom Standpunkt eines nahezu allwissenden Erzählers, der Inneneinsichten in die Figuren hat. Zwar durchläuft die Erzählerfigur selbst einen Reifungsprozess innerhalb des erzählten Geschehens, aber trotzdem bleibt es innerhalb der erzählten Realität unklar, wie er zu diesem umfassenden Wissen gekommen sein kann. Aus der Perspektive des älteren, gereiften Mannes, der die Geschichte mit zeitlichem Abstand erzählt, gibt er Metakommentare zum erzählten Geschehen, die nahezu deckungsgleich mit Stifters Perspektive scheinen. Dadurch, dass der Erzähler innerhalb der Rahmenhandlung eine unwissende Figur bleibt, gelingt es Stifter, die Spannung bis zum Ende aufrecht zu erhalten und den Leser in Unklarheit über die wahre Identität der Figuren zu lassen. Die Unwissenheit des Erzählers zu Beginn der Rahmenhandlung ergibt außerdem eine interessante Perspektive auf Brigitta bei der ersten Begegnung: Die Erzählerfigur kennt sie nicht, hat noch nie von ihr gehört und begegnet ihr daher völlig unvoreingenommen.

3.2. Erste Begegnung der Erzählerfigur mit Brigitta

Brigitta begegnet dem Erzähler, als sie in Männerkleidung durch ihr Gut reitet. Sie wirkt auf den Erzähler zwar auffällig in ihrer Kleidung und ihrem Verhalten, aber er widmet ihrem Äußeren keine besondere Aufmerksamkeit. Stattdessen gleitet der Blick des Erzählers voller Bewunderung über das von ihr Erschaffene: ihn umgibt weitläufiges, fruchtbares, kultiviertes Land und die starken Rinder ihres Gutes sind außergewöhnlich schön.[21] Ihre Fähigkeiten als gute und energische Reiterin und ihre Führungsrolle gegenüber den Knechten repräsentieren Brigitta. Aufgrund ihrer männlichen Kleidung und ihres Verhaltens hält der Erzähler sie zuerst für einen Mann. Zudem ist er sich unsicher über ihre Funktion und spricht sie zunächst als „Mutter“ an, weil er sie für um die vierzig Jahre alt schätzt. Am Ende der Begegnung hält er sie für eine Schaffnerin und möchte ihr Geld für ihren Dienst geben, aber: „[s]ie lachte nur und zeigte hierbei eine Reihe sehr schöner Zähne.“ (Brigitta, S.10) In Brigittas ganzem Verhalten kommt Kraft, Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit zum Ausdruck: So reagiert sie auf die Verwechslung des Erzählers nur mit einem Lachen, das sehr schöne Zähne entblößt, was für eine Frau ihres Alters in dieser Zeit ein deutliches Zeichen für körperliche Kraft und Gesundheit ist. Sie reitet schnell, sie fliegt geradezu über die Ebene, was ihre männlich konontierte physische Kraft, Geschicklichkeit und Selbstbestimmtheit zeigt. Sie bewegt sich frei in der Landschaft, was einen starken Kontrast zur räumlichen Eingeengtheit ihrer Kindheit bildet, worauf im Folgenden noch näher eingegangen werden wird.

Bereits in der ersten Begegnung mit Brigitta wird kommt das zentrale Leitmotiv des Erkennens zum Tragen, denn der Erzähler verkennt sie bei der ersten Begegnung. Erst im Laufe seiner Reifung innerhalb des Geschehens der Rahmenhandlung unter dem Einfluss der Protagonisten reift er und lernt zu erkennen. Der Entwicklungsprozess aller drei zentralen Figuren der Novelle ist ein Prozess des Erkennens, des Erkennens ihres eigenen Selbst und ihres Gegenübers.

[...]


[1] Siehe Hunter-Lougheed, Rosemarie: Stifter: Brigitta. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahr-hunderts. Band 2. Stuttgart 1990. S. 41-98. Hier S. 45-46.

[2] Für Brigitta stand wohl die Figur der Therese in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre als literarisches Vorbild Patin. Ein Vorbild in der Realität war wahrscheinlich die Frau von Friedland, eine fortschrittliche und emanzipierte Landwirtin, die ihr eigenes Gut in Brandenburg verwaltete. Siehe Erläuterungen und Dokumente. Adalbert Stifter Brigitta. Hg.: Ulrich Dittmann. Stuttgart 1970. S. 50-52. Und Hunter-Lougheed, Rosemarie: Stifter: Brigitta. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Band 2. Stuttgart 1990. S. 41-98. Hier S. 57-58.

[3] Vergleiche hierzu Hunter-Lugheed, Rosemarie: Stifter: Brigitta. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Band 2. Stuttgart 1990. Hier S. 41-98. Seite 56-58.

[4] Adalbert Stifter: Brigitta. Stuttgart 2010. Aus dieser Ausgabe stammen alle folgenden Zitate aus Brigitta.

[5] Mautner, Franz H.: Randbemerkungen zu „Brigitta“. In: Adalbert Stifter Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Heidelberg 1968. S. 89-102. Hier S. 96, 99 und 100.

[6] Feilchenfeldt, Konrad: Brigitta und andere Chiffren des Lebens bei Adalbert Stifter. In: Stifter- Studien. Ein Festgeschenk für Wolfgang Frühwald zum 65. Geburtstag. Hg.: Walter Hettche, Johann John, Sibylle von Steinsdorff. Tübingen 2000. S. 40-60.

[7] Hunter-Lougheed, Rosemarie: Stifter: Brigitta. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Band 2. Stuttgart 1990. S. 41-98

[8] Dittmann, Ulrich : Brigitta und kein Ende. Kommentierte Randbemerkungen. In: Jahrbuch des Adalbert Stifter Institutes des Landes Oberösterreich. Band 3/ 1996. Hg: Herwig Gottwald und Manfred Mittermeyer.

[9] Hunter-Lougheed, Rosemarie: Adalbert Stifter: Brigitta. In: Interpretationen. Erzählungen und Novellen des 19. Jahrhunderts. Reclam. Band 2. Stuttgart 1990. S. 41-98. Hier S. 51.

[10] Zitiert nach Erläuterungen und Dokumente. Adalbert Stifter Brigitta. Hg. Ulrich Dittmann. Stuttgart 1970. S. 64.

[11] Stifter legt diese Worte dem Erzähler in den Mund, der hier als gealterter und gereifter Mann im Rückblick das Geschehen analysieren kann und seine Überlegungen über die Schönheit an die Novellenhandlung anknüpft. Der gereifte Erzähler ist das Ergebnis Stifterscher Erziehungsphilosophie und vertritt daher meiner Meinung nach weitgehend den Standpunkt des Autors. Auf die Rolle des Erzählers wird im Folgenden noch genauer eingegangen werden.

[12] Hiermit stellt sich Stifter in eine vorgegebene Erzähltradition zeitgenössischer Erzählungen, die dem eigentlichen fiktionalen Text eine Moral voranstellen. Stifter gibt dem Leser jedoch keine klare Moral vor, sondern er lenkt den Leser zur Reflexion über das zentrale Thema hin, das in der Novelle weiter verhandelt wird. Vergleiche hierzu Erläuterungen und Dokumente. Hg.: Alfred Doppler. Adalbert Stifter Brigitta. Stuttgart 1970. S. 3.

[13] Zu Stifter als Autor des Biedermeier vergleiche Doppler, Alfred: Schrecklich schöne Welt? Stifters fragwürdige Analogie von Natur und Sittengesetz. In: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur Stifter-Ausstellung. Universität Antwerpen 1993.

[14] Vergleiche Wolfgang Frühwald und Christian von Zimmermann. Stifter. In: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg.: Walther Killy u.a. Bd. 11. Gütersloh/München 1988-1992. Hier S.269

[15] Stifters kritische Sicht der Wissenschaften zeigt sich in diesem Vorwort zum Text, aber auch im fiktionalen Geschehen in der Figur des Majors, der lange als Suchender Wissenschaften betreibt um ihrer selbst willen und damit zu keinem Ergebnis und zu keiner Zufriedenheit findet. Wissenschaften ergeben für Stifter nur Sinn, wenn sie Grundlage konkreten Schaffens sind, wie am Ende der Novelle, als sie der Bewirtschaftung der Güter dienen.

[16] Vergleiche Wolfgang Frühwald und Christian von Zimmermann. Stifter. In: Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg.: Walther Killy u.a. Bd. 11. Gütersloh/München 1988-1992. Hier S.269 und 271.

[17] Wobei es innerhalb der Novelle Figuren gibt, die von allen anderen als schön wahrgenommen werden, deren Schönheit ihnen als Ruf weit vorauseilt, wie der Major Stephan Murai und Gabriele, deren erotischer Anziehung er erliegt.

[18] Vergleiche Mautner, Franz H.: Randbemerkungen zu „Brigitta“. In: Adalbert Stifter Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Heidelberg 1968. S. 89-102. Hier S. 97.

[19] Vergleiche Dittmann, Ulrich: Sonderlinge im Werk Adalbert Stifters. In: Sanfte Sensationen. Stifter 2005. Beiträge zum 200. Geburtstag Adalbert Stifters. Hg.: Johann Lachinger, Regina Pintar. Christian Schacherreiter und Martin Sturm. S. 95- 100. Hier S. 95

[20] Vergleiche Doppler, Alfred: Schrecklich schöne Welt? Stifters fragwürdige Analogie von Natur und Sittengesetz. S.9. In: Adalbert Stifters schrecklich schöne Welt. Beiträge des internationalen Kolloquiums zur A.Stifter-Ausstellung Universität Antwerpen 1993.

[21] Laut Brigitte Prutti spiegelt sich die geschlechtliche Ambiguität Brigittas in der Natur ihrer Besitzungen wider. Siehe Prutti, Brigitte: Künstliche Paradiese, strömende Seelen: Zur Semantik des Flüssigen in Stifters Brigitta. In: Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich. Band 15/2008. S. 23. Die umgebende Landschaft spiegelt bei Stifter die Seelenzustände der Figuren, daher halte ich die These für plausibel.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Metaphysik der Schönheit in Adalbert Stifters "Brigitta"
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Germanistik)
Veranstaltung
Adalbert Stifter
Note
1,0
Autor
Jahr
2014
Seiten
32
Katalognummer
V386102
ISBN (eBook)
9783668609198
ISBN (Buch)
9783668609204
Dateigröße
634 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Adalbert Stifter Novelle Schönheit Moral
Arbeit zitieren
Friederike Appel (Autor:in), 2014, Metaphysik der Schönheit in Adalbert Stifters "Brigitta", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/386102

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