Der Ethnologe Edward Evan Evans-Pritchard promovierte 1927 mit einer Arbeit über die soziale Organisation der sudanesischen Zande. Eine gekürzte Version dieser Studie wurde erstmals 1937 unter dem Titel Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande veröffentlicht und wurde für die Ethnologen des anschließenden Jahrzehnts ein Standardwerk, das auf die ethnologische Forschung der Nachkriegszeit von großem Einfluß war. In der Folgezeit beschäftigten sich zahlreiche Studien mit den Phänomenen Hexerei und Zauberei, wovon der überwiegende Teil sich den soziologischen Aspekten der Verbreitung magischer Praktiken in bestimmten Gesellschaften widmeten, während Evans-Pritchard einen darüber hinaus ins Religiöse und Metaphysiche gehenden Ansatz verfolgt, an den Peter Winch später in seiner Kritik an Evans- Pritchards Darstellung anknüpft. Evans-Pritchard begnügte sich nicht mit dem Zusammentragen bereits verschriftlichter Beobachtungen (wie beispielsweise Frazer), sondern stützte seine Ausführungen auf eigene Feldforschung. Als Malinowski-Schüler bemühte er sich um größtmögliche Einfühlung und Einfügung in die fremde Kultur; die Schilderungen seiner beobachtenden Teilnahme offenbaren jedoch vielfach seine europäischen Rationalitätsmaßstäbe. Die Anwendung westlicher Kategorien - wie Vernunft und Wissenschaft - wirft die Frage nach der Verstehbarkeit fremder Denkweisen auf. Der europäische Maßstab verzerrt das, was abgebildet werden soll, in diesem Fall: die magischen Praktiken. Evans-Pritchard thematisiert das Problem durchaus und versucht, der sprachlichen Komponente des Problems im Anhang mit einem Glossar der im Zusammenhang mit magischen Praktiken bei den Zande auftretenden Bezeichnungen zu begegnen. Des Weiteren vertritt er die Auffassung, eine höchst detaillierte und exakte Beschreibung impliziere bereits theoretische Schlüsse. In der vorliegenden Arbeit werden die Hauptthesen, die Evans-Pritchard über Hexerei liefert, referiert und, wo es sinnvoll ist, mit Beispielen angereichert. Die vorliegende Arbeit möchte einen Eindruck über die mit magischen Praktiken verknüpften Vorstellungen der Zande vermitteln und Evans-Pritchards Darstellung derselben verkürzt widerspiegeln. Eine Zusammenfassung der Kritik, die Peter Winch an Evans-Pritchards Ansatz in seinem Aufsatz „Was heißt eine primitive Gesellschaft verstehen‘“ übt, schließt an den Hauptteil an. Dabei wird das Verhältnis der Sozialwissenschaften zur Philosophie, wie es Winch erörtert hat, aufgegriffen.
Gliederung
1. Einleitung:
Evans-Pritchards Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande im Seminarkontext
2. Evans-Pritchards Hauptthesen über Hexerei:
2.1. Hexerei als körperliches und erbliches Phänomen
2.2. Hexerei erklärt unglückliche Ereignisse
2.3. Von einem Unglück Betroffene suchen unter ihren Feinden nach Hexern
3. Kritik an Evans-Pritchards Darstellung
3.1. Von Evans-Pritchard angeführte Probleme seiner Studie
3.2. Peter Winchs Kritik an Evans-Pritchards Ansatz
4. Resümee
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Der Ethnologe Edward Evan Evans-Pritchard promovierte 1927 mit einer Arbeit über die soziale Organisation der sudanesischen Zande. Eine gekürzte Version dieser Studie wurde erstmals 1937 unter dem Titel Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande[1] veröffentlicht und wurde für die Ethnologen des anschließenden Jahrzehnts ein Standardwerk, das auf die ethnologische Forschung der Nachkriegszeit von großem Einfluß war. In der Folgezeit beschäftigten sich zahlreiche Studien mit den Phänomenen Hexerei und Zauberei, wovon der überwiegende Teil sich den soziologischen Aspekten der Verbreitung magischer Praktiken in bestimmten Gesellschaften widmeten, während Evans-Pritchard einen darüber hinaus ins Religiöse und Metaphysiche gehenden Ansatz verfolgt, an den Peter Winch später in seiner Kritik an Evans-Pritchards Darstellung anknüpft.
Evans-Pritchard begnügte sich nicht mit dem Zusammentragen bereits verschriftlichter Beobachtungen (wie beispielsweise Frazer), sondern stützte seine Ausführungen auf eigene Feldforschung. Als Malinowski-Schüler bemühte er sich um größtmögliche Einfühlung und Einfügung in die fremde Kultur; die Schilderungen seiner beobachtenden Teilnahme offenbaren jedoch vielfach seine europäischen Rationalitätsmaßstäbe. Die Anwendung westlicher Kategorien - wie Vernunft und Wissenschaft - wirft die Frage nach der Verstehbarkeit fremder Denkweisen auf. Der europäische Maßstab verzerrt das, was abgebildet werden soll, in diesem Fall: die magischen Praktiken. Evans-Pritchard thematisiert das Problem durchaus und versucht, der sprachlichen Komponente des Problems im Anhang mit einem Glossar der im Zusammenhang mit magischen Praktiken bei den Zande auftretenden Bezeichnungen zu begegnen. Des Weiteren vertritt er die Auffassung, eine höchst detaillierte und exakte Beschreibung impliziere bereits theoretische Schlüsse.[2] In der vorliegenden Arbeit werden die Hauptthesen, die Evans-Pritchard über Hexerei liefert, referiert und, wo es sinnvoll ist, mit Beispielen angereichert. Die vorliegende Arbeit möchte einen Eindruck über die mit magischen Praktiken verknüpften Vorstellungen der Zande vermitteln und Evans-Pritchards Darstellung derselben verkürzt widerspiegeln. Eine Zusammenfassung der Kritik, die Peter Winch an Evans-Pritchards Ansatz in seinem Aufsatz „Was heißt eine primitive Gesellschaft verstehen‘“[3] übt, schließt an den Hauptteil an. Dabei wird das Verhältnis der Sozialwissenschaften zur Philosophie, wie es Winch erörtert hat[4], aufgegriffen.
2. Evans-Pritchards Hauptthesen über Hexerei
Evans-Pritchards Darstellung der Zandekultur bezieht sich nicht auf Mitglieder der Herrscherdynastie der Vongara, sondern auf die "Gemeinen", zu denen alle Nicht-Aristokraten gehören. Dabei war er von dem Bedürfnis geleitet, das festzuhalten, was er während seiner Feldforschungsaufenthalte 1926-29 als eine durch Kolonialisierungsmaßnahmen im Aussterben begriffene Lebensform ansah.
Hexerei, Orakel und Magie bilden bei den Zande ein kohärentes System, in dem Hexerei, Orakel und Magie so in Beziehung zueinander stehen, daß eine jede die anderen beiden erklärt und beweist.[5] Daher wird man nicht Hexerei erklären können, ohne auf die Rolle der Orakel einzugehen. Die Vorstellung von Hexerei liefert den Zande Erklärungen für unglückliche Ereignisse und umfaßt auch ein System von Regeln, wie darauf zu reagieren ist. Es gibt keinen Lebensbereich in der Zande-Kultur, in dem Hexerei keine Rolle spielt oder nicht auftaucht: Im geistigen Leben bildet sie den Hintergrund für Orakel und Magie. Gesetze, Umgangsformen und Religion sind vom Glauben an Hexerei geprägt. Außerdem wird an den Einfluß von Hexerei auf alltägliche Tätigkeiten in den Bereichen Ackerbau, Viehzucht, Fischen und Jagen geglaubt. Um eine Anschauung von der Zande-Kultur zu geben und um den Rahmen dieses Referats nicht zu sprengen, beschränke ich mich auf die Darstellung der Hauptthesen, die Evans-Pritchard über Hexerei liefert.
2.1. Hexerei ist ein körperliches und erbliches Phänomen
Hexerei ist, Evans-Pritchards Beobachtungen zufolge, ein seelischer Vorgang, ein Hexer vollführt keinen Ritus, spricht keinen Spruch und benutzt keine Medizinen. Aus Furcht vor Hexerei werden Orakelbefragungen durchgeführt und Wahrsagerei betrieben wie auch Heilkunst und Handlungen der Geheimbünde der Abwehr von Hexerei ("Mangu") dienen sollen.
Wie viele andere Zentral- und Westafrikanische Völker glauben die Zande, daß Hexerkraft (witchcraft) eine Substanz in den Körpern der Hexer ist. Um das Vorhandensein von Hexerkraft in lebenden Menschen aufzudecken, werden die Orakel befragt. Bei Toten ergibt eine Obduktion Aufschluß über die Frage, ob jemand ein Hexer war. Evans-Pritchard beobachtete, daß es sich um den in einer bestimmten Verdauungsphase befindlichen Dünndarm handeln muß. Die Entscheidung über das Vorhandensein der Substanz fällen alte Männer angesichts der Art, wie die Eingeweide beim Öffnen der Bauchdecke (geschieht öffentlich am Grab) aus dem Bauch heraustreten.
Nach Ansicht der Zande können sowohl Männer als auch Frauen Hexerkraft besitzen, wobei die Hexerkraft unilinear vererbt wird: D.h. sie wird von einem Elternteil auf alle Nachfolger des gleichen Geschlechts übertragen. Alle Söhne eines Hexers sind Hexer, nicht aber seine Töchter. Hexerinnen geben ihre Hexerkraft biologisch an alle Töchter, nicht aber an ihre Söhne weiter. Da die Zande-Clans aus biologisch Verwandten bestehen, wären - unserer Logik zufolge - alle Verwandten einer Person mit Hexerkraft, die desselben Geschlechts sind, auch Hexer. In der Praxis wird jedoch, wenn - wie die Zande glauben - mittels Hexerei ein Mord geschehen ist, die Verwandtschaft zu demjenigen, der als Täter, sprich Hexer, dafür verantwortlich gemacht wird, geleugnet, indem behauptet wird, der Hexer sei gar kein wahrer Angehöriger ihres Clans, weil er ein Bastard sei. So kann es passieren, daß die Mutter des vermeintlichen Hexers beschuldigt wird, durch Ehebruch Hexerei eingeschleppt zu haben. Häufiger wird einfach behauptet, der Hexer müßte ein Bastard gewesen sein, denn Leichenöffnungen bereits gestorbener Clanmitglieder hätten erwiesen, daß sie frei von Hexerkraft seien.
Die Hexersubstanz kann ungenutzt bleiben. Jemand kann Hexerkraft besitzen, ohne sie anzuwenden. Deshalb wird Hexerei trotz des Zusammenhangs mit Blutsverwandtschaft als individuelles Merkmal angesehen. Die Hexerkraft nimmt im Alter zu, weil sie eine Körpersubstanz ist und als Teil des Körpers mit ihm wächst. Kinder geraten daher nicht in den Verdacht der Hexerei und werden nicht des Mordes angeklagt. Männer können im Glauben der Zande von Frauen oder von Männern behext werden, Frauen nur von Frauen. Hexerei wird in der Regel den "Gemeinen", die keine sozial höhergestellte Funktion bekleiden, zugeschrieben: Einflußreiche Personen, Regenten der Provinzen, Stellvertreter in den Distrikten, Adelige, militärische Anführer und andere Hochgestellte unter den "Gemeinen" sind gegen den Vorwurf der Hexerei gefeit. Hierarchisch niedrig Angesiedelte wagen es nicht, die Orakel über einflußreiche Personen ihres Umfelds zu befragen, weil dies eine Beleidigung darstellen würde.
[...]
[1] Dieser Ausarbeitung wurde folgende Ausgabe zugrunde gelegt, auf die sich die Seitenangaben der angefügten Zitate beziehen: Evans-Pritchard, Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt/M. 1978.
[2] Evans-Pritchard, 1978, S.330f.
[3] in: Wiggershaus, Rolf (Hg.): Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Philosophie, Frankfurt/M. 1975, S. 59-102.
[4] Winch, Peter: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/M. 1966.
[5] vgl. Evans-Pritchard, S.277.
- Arbeit zitieren
- Angelika Janssen (Autor:in), 1997, Das Verstehen fremder Gesellschaften: Evans-Pritchard: 'Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38682
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