Methoden der Erstlesedidaktik - Eine Suche nach Alternativen zur Fibellehre


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

22 Seiten, Note: keine Benotung


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Fibel ja oder nein?
2.1 Argumente für den Einsatz von Fibeln
2.2 Argumente gegen den Einsatz von Fibeln
2.3. Abwägung der Argumente für und gegen die Fibel

3. Alternative Methoden zum Fibellehrgang
3.1 Lesen durch Schreiben (J. Reichen)
3.2 Spracherfahrungsansatz (H. Brügelmann)

4. Vergleich der Vorgaben des Lehrplans mit den vorgestellten Methoden

5. Schlussbemerkungen

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

An der Universität Münster wird den Studenten des Lehramts für Primarstufe sowohl in den Seminaren zur Didaktik des Anfangsunterrichts in der Erziehungswissenschaft als auch in den Seminaren zum Schriftspracherwerb im Fach Deutsch vermittelt, dass die „gute alte Fibel“ längst überholt und total antiquiert ist. Und das nicht erst seit gestern! Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts beschäftigen sich Pädagogen mit Konzepten, die dem kindlichen Lernen mehr entsprechen und sowohl das Potential sehr leistungsstarker Schüler besser auszuschöpfen wissen, als auch den leistungsschwachen Schülern die Möglichkeit geben, versäumte Erfahrungen mit der Schriftsprache nachzuholen. Dennoch begegnet man an deutschen Grundschulen nur sehr selten Lehrenden, die mit alternativen Konzepten arbeiten, was für mich schwer nachvollziehbar ist, da die Argumente gegen die kleinschrittige Fibellehre kaum von der Hand zu weisen sind und die Vorzüge anderer Methoden so verlockend klingen.

Haben die Lehrenden an der Grundschule denn wirklich so viel Angst vor neuen Wegen? Ist es reine Bequemlichkeit, die sie dazu bewegt nach wie vor mit der Fibel zu arbeiten? Oder gibt es wirklich gute Gründe, weiterhin nach der „alten Methode“ zu unterrichten? Vielleicht aber haben die modernen Fibeln auch die notwendigen didaktisch-methodischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte in ihr Konzept aufgenommen und sind möglicherweise gar nicht mehr so antiquiert? All diesen Fragen werde ich im Folgenden nachgehen, auch mit dem Gedanken daran, dass ich als zukünftige Lehrerin irgendwann selbst die Entscheidung über eine Lehrmethode zu fällen habe und damit auch die Verantwortung für den Lernerfolg der mir anvertrauten Kinder trage.

Zunächst werde ich mich mit den Argumenten für und gegen den Einsatz von Fibeln im Erstleseunterricht beschäftigen und sie gegeneinander abwägen. Im Folgenden werde ich einige Alternativen zum Fibellehrgang aufzeigen und auf Umsetzbarkeit überprüfen. Insbesondere werde ich dabei der Frage nachgehen, wie man mit Hilfe dieser Methoden Kindern mit unzureichenden Vorerfahrungen mit Schriftsprache besondere Förderung zukommen lassen kann und ob die Möglichkeit der Forderung besonders begabter Kinder besteht. Abschließend werde ich die Vorgaben des Lehrplans für das Fach Deutsch in Nordrhein-Westfalen mit den zuvor angestellten Ausführungen vergleichen und werde versuchen, zu beurteilen, welches Vorgehen diesen Vorgaben am ehesten entspricht.

2. Fibel ja oder nein?

2.1 Argumente für den Einsatz von Fibeln

Laut Siegfried Buck liegen empirische Vergleichsuntersuchungen vor, die deutlich für die Fibel sprechen. Er weist darauf hin, dass es heutzutage viele methodisch abgesicherte und das Lesen motivierende Werke gibt, die allerdings sicherlich nicht vor einem fehlerhaften Umgang schützen. Der Aufbau eines Fibelwerkes sei von einer Arbeitsgruppe in der Regel gut durchdacht und in der Praxis erprobt und evaluiert worden. Buck warnt ausdrücklich vor eigenen Lehrgängen, da diese nur schwer gegen fatale Methodenfehler abzusichern seien und sich für den Lernerfolg einiger Kinder sehr negativ auswirken könnten.

Darüber hinaus sieht Buck eine starke Entlastung des Lehrers durch die Fibel auf Grund vielfältiger Zusatzmaterialien, die oft auch fächerübergreifende Angebote aufweisen. Andererseits erfordere die Arbeit mit eigenen Texten, eigenen Arbeitsblättern und anderen Zusatzmaterialien eine hohe Eigenarbeit der Lehrkraft, worin er die Gefahr sieht, dass andere schulische Aktivitäten vernachlässigt werden könnten. Auch ist er der Meinung, dass die Qualität eigener Texte der Kinder oft nicht ausreicht um grundlegende Erfahrungen des Lesens möglich zu machen.

Des Weiteren betont Buck, dass die Fibel sowohl Kindern als auch Eltern einen Überblick gewähre und somit einsichtig sei, was im Schuljahr verlangt wird, wo man im Augenblick steht und was zu wiederholen ist. Müssten sich die Eltern von jedem neuen Blatt überraschen lassen, würde man sie für unmündig erklären und sie dadurch in Abhängigkeit zum Lehrer bringen.

Buck ist der Meinung, dass Fibel unabhängige Lehrgänge zwar durchaus möglich sind, doch er zweifelt am methodischen Können der meisten Lehrkräfte. Die große Anzahl lese- und rechtschreibschwacher Schüler führt er auf Methodenfehler in der Schule zurück. Er weist die „ Volksweisheit“: „Irgendwie lernen doch alle lesen, gleich mit welcher Fibel und gleich mit oder ohne Fibel!“ nachdrücklich zurück, da dies nur für die leistungsstarken Kinder gelte und die würden das Lesen auch ohne Schule lernen.[1]

Oftmals betonen Lehrende, die mit der Fibel arbeiten, die psychologisch wichtigen Funktionen der Fibel: Die Fibel ist für viele Kinder das erste richtige Buch, dass sie selber lesen und das sie zu Hause stolz vorführen können. Die meisten Fibeln sind sehr ansprechend gestaltet und bieten den Kindern anregende Bilder, auf denen sie viel entdecken können. Die jeweiligen Hauptfiguren, die sie durch den Lehrgang führen, können den Kindern Identifikationsmöglichkeiten bieten und motivieren dazu, mehr über sie zu erfahren und somit zu erlesen.

Vielen Lehrkräften ist auch wichtig, dass die Fibel Klassenunterricht ermöglicht und Vereinzelung vermeidet. Sie ist durch ihre didaktische Zuverlässigkeit auch für junge und unerfahrene Lehrer praktikabel.

Brügelmann bezeichnet Fibellehrgänge als „Krücken“, da sie unsere pädagogischen Behinderungen kompensieren.[2] Auch mit Krücken kann man laufen lernen, doch verlässt man sich nur noch auf die Krücken, verliert man allmählich auch die Reste der eigenen verbliebenen Fähigkeiten. Warum es also sinnvoll sein könnte, auf seine Krücken zu verzichten, soll im Folgenden erläutert werden.

2.2 Argumente gegen den Einsatz von Fibeln

Gudrun Spitta fasst sehr treffend fünf Argumente gegen fibelorientiertes Lesen- und Schreibenlernen zusammen. Ich werde diese zitieren und kommentieren um sie dann soweit möglich mit den Gegenargumenten in Beziehung zu setzen.

„Vorwiegend fibelorientiertes Lesen- und Schreibenlernen verhindert durch das additive Einüben bestimmter isolierter Teilfertigkeiten, dass die Kinder den komplexen Vorgang des Lesens bzw. Schreibens als Prozess erfahren, bzw. durchschauen.“[3]

Auf diesen Aspekt gehen die Fibelbefürworter gar nicht ein. Es wird den Kindern nicht zugestanden, ihren eigenen Lernprozess mit zu steuern, zu kontrollieren und zu beurteilen. Dadurch, dass der Lehrer den Lernprozess der Kinder durch den Fibellehrgang vorstrukturiert, kann dass Kind ihn nicht selbst strukturieren und es muss sich vom Lehrer führen lassen. Dabei kann das Kind den Gang der Lehre umso schlechter überblicken, je kleiner die Schritte sind. Möglicherweise vermittelt es Sicherheit, sich vom Lehrer führen zu lassen, doch macht es auch abhängig, da sich das Kind dem Urteil des Lehrers unterstellt. Dies kann dazu führen, dass das Kind verlernt, sich selbst ein Urteil über seinen Lernerfolg zu bilden und wird so durch ein negatives Lehrerurteil verunsichert.[4] Auch Jürgen Reichen weist in seinem Leitsatz 8 darauf hin, dass dem Kind das Antriebsmoment zum Selbstprobieren genommen würde, wenn der Lese-Lernprozess in kleinste Schritte aufgelöst wird.[5]

Abgesehen davon, dass das vorstrukturierte, kleinschrittige Voranschreiten im Lehrgang aus den oben genanten Gründen nicht sinnvoll ist, wird in der Literatur in erster Linie der Ausgangspunkt von Fibeln kritisiert: Alle Kinder beginnen trotz unterschiedlichster Vorerfahrungen mit Schrift zum gleichen Zeitpunkt mit dem gleichen Lehrgang und sollen ihn auch im gleichen Tempo durchlaufen. Dabei werden weder die Kinder berücksichtigt, die bereits schreiben und lesen können, noch die Kinder denen noch wichtige Vorerfahrungen im Schriftspracherwerb fehlen. So ist zwar durch das Lernen im Gleichschritt, wie unter 1.1 positiv hervorgehoben, Klassenunterricht möglich, was für das Gemeinschaftsgefühl der Kinder sicherlich schön ist und für viele Themen in bestimmten Rahmen auch sehr sinnvoll ist. Es ist aber nicht anzunehmen, dass die Kinder einer Klasse über ein annähernd gleiches Vorwissen verfügen, die Entwicklungsunterschiede in ihren Vorstellungen über Schrift können sogar drei bis vier Jahre betragen.[6] Deswegen sind individuelle Lernwege und Ansatzpunkte notwendig, welche der Fibellehrgang den Kindern versagt. Auch Vereinzelung wird meines Erachtens nicht verhindert, denn in erster Linie die leistungsschwachen Schüler können sich schnell ausgegrenzt fühlen, wenn sie dem allgemeinen Lehrstoff nicht mehr folgen können. Gudrun Spitta formuliert hierzu:

„Traditionelle Fibeln bzw. Schreiblehrgänge bieten kaum Chancen, dass Kinder mit ungünstigen Lernvoraussetzungen fehlende Vorerfahrungen, die sich auf die Bedeutung und auf die Struktur unserer Schrift beziehen, nachholen können.“[7]

Es ist also für diese Kinder im ersten Schuljahr in erster Linie notwendig, grundsätzliche Erfahrungen im Umgang mit Schrift und Schriftmaterialien zu machen. Denn die Kinder unterscheiden sich nicht nur in der Zahl der Buchstaben die sie kennen, sondern haben insbesondere unterschiedliche Vorstellungen über den Zweck bzw. Nutzen der Schriftsprache und über die technische Beziehung zwischen Schrift- und Lautsprache. Ergänzend betont Spitta:

„Die enge Bindung an das vorgeschriebene methodische Konzept der Fibel bzw. des Schreiblehrganges verhindert, dass die Kinder sich aktiv im Prozess des Entdeckens von Schrift, ihrer Struktur, ihrem Funktionieren sowie ihrer Bedeutung beteiligen können.“[8]

Schrift sollte Kindern als Herausforderung präsentiert werden, als Schwierigkeit, die mit Hilfe von Schritten des Problemlösens bewältigt werden kann. Dies entspricht dem kindlichen Lernen wesentlich mehr, das in der bisherigen Entwicklung des Kindes durch Formulieren und Überprüfen von Hypothesen, und vom Bilden und Kombinieren von Teilschritten geprägt war.[9] Das Kind sollte ähnlich wie beim Spracherwerb durch den handelnden Umgang mit Schrift Regelmäßigkeiten, Strukturprinzipien und Schreibmuster entdecken und dabei je nach Reaktion der Umwelt beibehalten oder verwerfen.[10]

„Lesen- bzw. Schreibenlernen als ein von außen gesteuertes, den Kindern entfremdetes Vorgehen verhindert, dass die Kinder die dabei gemachten Erfahrungen in ihre eigene Welt integrieren können.“[11]

Es besteht also die Gefahr, dass die Kinder keinen persönlichen Zugang zum Lesen und Schreiben finden, da es für sie nicht wichtig ist und sie im außerschulischen Leben nichts damit anfangen können. Sie erfahren nicht, dass Schreiben und Lesen etwas mit dem eigenen Leben zu tun hat, dass sie dazu befähigt werden auf diesem Weg anderen etwas mitzuteilen, sich auszudrücken, etwas Wichtiges zu erfahren oder festzuhalten.[12]

Die Fibelbefürworter betonen zwar die motivierende graphische Gestaltung ihres Lehrwerkes und die Identifikation stiftenden begleitenden Figuren, dennoch kann man bei vielen Schülern einen raschen Motivations- und Aufmerksamkeitsverlust erkennen. Gudrun Spitta erklärt dies folgendermaßen:

„Durch die einseitige Betonung der technischen Seite des Schreibvorgangs erfahren die Kinder anhand der Lehrgänge im Verlauf des ersten Schuljahres so gut wie nichts über die kommunikative Funktion des Schreibens. Durch die Beschränkung des Schreibens auf die täglichen Abschreibübungen wird ihnen ein völlig unzureichender Schreibbegriff vermittelt.“[13]

Viele Kinder erleben das ständige mechanische Abschreiben als überflüssig oder sinnlos und verlieren ihre natürlich Motivation zum Lesen- und Schreibenlernen. Sicherlich beinhalten einige moderne Fibeln auch die Möglichkeit, die kommunikative Funktion des Schreibens zu erfahren – dies wäre im Entscheidungsfall für eine Fibel zu untersuchen. Hans Brügelmann bestätigt, dass viele Fibelautoren seit den 70er und 80er Jahren zu einem beweglicheren Umgang mit den Einheiten auffordern und zu Aktivitäten außerhalb der materialisierten Aufgaben auffordern. Er kritisiert allerdings, dass dabei keine Hinweise gegeben werden, „welche Teile des Lehrgangs unverzichtbar wären, um diese schönen Ideen realisieren zu können“.[14]

Sollen Kinder Schrift und ihre Funktion erfahren, darf Lesen und Schreiben nicht losgelöst von dieser gelehrt werden. Mechthild Dehn formuliert die These:

„Da, wo die Kenntnis der Buchstaben, ihre Synthese und die Strukturierung der geschriebenen Wörter losgelöst werden von der basalen Funktion des Schreibens und Lesens als Ausdrucksform für Gedachtes, ist Kulturtechnik sogar ein Hindernis für die Teilnahme an Schriftkultur.“[15]

[...]


[1] Conrady, Peter/ Hinze, Gabriele/ Buck, Siegfried/ Andersen, Ute: Pro und contra Fibel – ein Streitgespräch. www.vds-bildungsmedien.de/pdf/forum/f_20/seite131.pdf, S.136 ff.

[2] Brügelmann, Hans/ Brinkmann, Erika: Die Schrift erfinden, Lengwil 1998, S.11f.

[3] Spitta, Gudrun: Kinder schreiben eigene Texte; Klasse 1 und 2, Frankfurt a.M.1994, S.14.

[4] Heinrich, Karin: Schriftsprache erobern. Mit freier Arbeit Schreiben und Lesen lernen, Essen 1992, S.22.

[5] Heinrich, S.21.

[6] Brügelmann (1998), S.30.

[7] Spitta, S.14.

[8] ebd.

[9] Heinrich, S.18.

[10] Spitta, S.12.

[11] Spitta, S.14.

[12] Spitta, S.12.

[13] Spitta, S.14.

[14] Brügelmann (1998), S.12f.

[15] Dehn, Mechthild in: Heinrich, Karin: Schriftsprache erobern. Mit freier Arbeit Schreiben und Lesen lernen, Essen 1992, S.18.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Methoden der Erstlesedidaktik - Eine Suche nach Alternativen zur Fibellehre
Hochschule
Universität Münster  (Erziehungswissenschaften)
Veranstaltung
Individuelle Förderung von Anfang an
Note
keine Benotung
Autor
Jahr
2005
Seiten
22
Katalognummer
V38859
ISBN (eBook)
9783638378093
ISBN (Buch)
9783638654067
Dateigröße
607 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Methoden, Erstlesedidaktik, Eine, Suche, Alternativen, Fibellehre, Individuelle, Förderung, Anfang
Arbeit zitieren
Dorothee Ahlrichs (Autor:in), 2005, Methoden der Erstlesedidaktik - Eine Suche nach Alternativen zur Fibellehre, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38859

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