Ich habe mich mit der Frage gequält, warum ich eigentlich in all diesen Jahren nie den Versuch gemacht habe, Ihren Verkehr aufzusuchen und ein Gespräch mit Ihnen zu führen. […] Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art von Doppelgängerscheu.
So begründet Sigmund Freud in einem Brief an Arthur Schnitzler anlässlich dessen sechzigsten Geburtstags, dass, obwohl beide zeitlebens in Wien gewohnt hatten, sie sich dennoch – bis zu diesem Zeitpunkt - nie persönlich getroffen haben. Die erwähnte Doppelgängerscheu rechtfertigt Freud damit, dass er in Schnitzlers Werken „hinter deren poetischem Schein die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse zu finden geglaubt, die mir als die eigenen bekannt waren“. Des Weiteren soll Schnitzler, im Gegensatz zu dem Wissenschaftler Freud, zu diesen Ergebnissen durch „Intuition“ und „infolge feiner Selbstwahrnehmung“ gelangt sein.
Seine Scheu ging so weit, dass Freud, obwohl sie beide, wie er bereits in einem früheren Brief erwähnte, „die gleiche Auffassung von den psychologischen und erotischen Problemen“4 hatten, nie einen engeren Kontakt zu Schnitzler suchte. Ihre Kontakte beschränkten sich auf wenige Briefe, und erst nach dem oben erwähnten Schreiben zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers fanden einige Treffen der beiden statt, allerdings auch nur sehr sporadisch und unregelmäßig.
Doch welches sind diese „Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse“? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Schnitzler durch Intuition zu diesen gelangte? Und wo weichen die Ergebnisse Schnitzlers von denen Freuds voneinander ab? Die Frage nach den Voraussetzungen und Interessen lässt sich, mit Blick auf die Biographien der beiden Männer, relativ eindeutig beantworten; schwieriger wird es allerdings bei den Ergebnissen.
Diese Fragen zumindest ansatzweise zu beantworten ist das Ziel meiner Hausarbeit, und zwar durch einen Vergleich zwischen einem kleineren Aufsatz Freuds, Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens, mit Schnitzlers Reigen, in denen sich verschiedene Parallelen finden lassen.
Inhaltsverzeichnis
- 1. Einleitung
- 2. Die,,Voraussetzungen und Interessen"
- 2.1 Freud – Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens
- 3. Der Reigen im Vergleich zu Freuds Aufsatz Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens
- 3.1. Erster Dialog - Die Dirne und der Soldat
- 3.2. Zweiter Dialog – Der Soldat und das Stubenmädchen
- 3.3. Dritter Dialog – Das Stubenmädchen und der junge Herr
- 3.4. Vierter Dialog – Der junge Herr und die junge Frau
- 3.5. Fünfter Dialog – Die junge Frau und der Ehemann
- 3.6. Sechster Dialog - Der Ehemann und das süsse Mädel
- 3.7. Siebter bis zehnter Dialog
- 4. Schnitzler und Freud – Doppelgänger aus Intuition?
- 5. Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Hausarbeit befasst sich mit dem Vergleich von Arthur Schnitzlers „Reigen“ und Sigmund Freuds Aufsatz „Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens“. Ziel ist es, die in den Werken präsentierten „Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse“ zu analysieren und mögliche Parallelen aufzuzeigen.
- Biographische Gemeinsamkeiten von Freud und Schnitzler
- Die „psychische Impotenz“ in Freuds Aufsatz und ihre Ursachen
- Die Darstellung sexueller Beziehungen im „Reigen“
- Vergleich der Ergebnisse und Interpretationen von Freud und Schnitzler
- Die Frage nach dem „Doppelgänger aus Intuition“
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Problematik des „Doppelgängers aus Intuition“ in Bezug auf Schnitzlers Werk und Freuds Analyse vor. Anschließend werden die biographischen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten von Freud und Schnitzler beleuchtet, wobei insbesondere die Parallelen in ihrer medizinischen Ausbildung und ihren Interessen an den psychologischen Aspekten des Liebeslebens hervorgehoben werden. Kapitel 2.1 bietet eine Zusammenfassung von Freuds Aufsatz „Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens“, mit Fokus auf die Analyse der „psychischen Impotenz“ und deren Ursachen. Die folgenden Kapitel betrachten die Dialoge des „Reigens“ im Kontext der vorher dargestellten Freudschen Theorien. Dabei wird untersucht, inwiefern sich die im Aufsatz beschriebenen Symptome im „Reigen“ wiederfinden und ob die Ergebnisse der beiden Werke vergleichbar sind.
Schlüsselwörter
Die zentralen Begriffe dieser Arbeit sind: „psychische Impotenz“, „Liebesleben“, „Intuition“, „Doppelgänger“, „Reigen“, „Freud“, „Schnitzler“, „Wiener Fin de siècle“, „Dekadenzliteratur“. Die Arbeit befasst sich mit der Analyse der sexuellen Strömungen und Mechanismen im Wien der Jahrhundertwende, wobei die Perspektiven von Freud und Schnitzler miteinander verglichen werden. Der Fokus liegt auf der Frage, inwieweit Schnitzler durch „Intuition“ zu ähnlichen Ergebnissen wie Freud gelangt ist.
- Arbeit zitieren
- Judith Schwickart (Autor:in), 2005, Arthur Schnitzlers 'Reigen' und Sigmund Freuds 'Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens'. Ein Beleg für den "Doppelgänger aus Intuition"?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38906