Die Stellung der Familie zur Zeit der Aufklärung. Gotthold Ephraim Lessings 'Emilia Galotti' und 'Miß Sara Sampson' im Vergleich


Zwischenprüfungsarbeit, 2002

24 Seiten, Note: sehr gut (1,0)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Familie in der Aufklärung
2.1 Das deutsche bürgerliche Trauerspiel
2.2 Die Funktion der Familie in Bürgertum bzw. Adel
2.3 Die Familie Galotti
2.3.1 Claudia Galotti, Mediatorin zwischen väterlichem Tugendideal und realer Welt
2.3.2 Odoardo Galotti, mächtiger Patriarch und ohnmächtiger Untertan zugleich
2.3.3 Emilia Galotti, wohlbehütete Tochter zwischen den Fronten
2.4 Die Familie Sampson
2.4.1 Sir William Sampson, Vater zwischen Edelmut und Selbstsucht
2.4.2 Sara Sampson, starre Befolgerin der väterlichen Prinzipien?
2.5 Vergleich beider Familienkonstellationen

3. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Die ältesten deutschsprachigen Dramen, die heute noch zum ständigen Repertoire unserer Bühnen gehören, sind Dramen Lessings“[1]. So habe ich die bürgerlichen Trauerspiele Emilia Galotti und Miß Sara Sampson ausgewählt, weil sie schon im 18. Jahrhundert Themen aufgegriffen haben, die unser modernes Dasein noch immer beschäftigen, sie heute noch große Beliebtheit genießen.

Als erste Sozialisationsinstanz prägt der Bund der Familie die Entwicklung eines Menschen in hohem Maße. Mit der Aufklärung gewinnt die Familie zunehmend an Bedeutung; zum ersten Mal erleben Kinder tatsächlich eine Kindheit. Dennoch ist das Leben eingeschränkt, auf den intimen Familienkreis reduziert: Nur das elterliche Wertsystem dient als Maßstab für das Verhalten des Kindes; der Vater verfügt als Familienoberhaupt noch immer über das Leben der Heranwachsenden. Erst in der Aufklärung wird diese Bevormundung kritisiert. Auch Lessing gibt in seinen Werken zum Ausdruck, dass er als einer der Hauptvertreter der Aufklärung eine Erziehung zur Mündigkeit fordert.

Auf diesen Aspekt werde ich im Verlauf meiner Hausarbeit näher eingehen. Um einen theoretischen Rahmen herzustellen, werde ich im Folgenden zunächst die Geschichte des deutschen bürgerlichen Trauerspiels erläutern und anschließend den Strukturwandel der Familie des späten 18. Jahrhunderts thematisieren. Dabei wird es vor allem um das neue bürgerliche Erziehungsideal gehen: Um die Humanisierung der Kleinfamilie sowie den Rückzug ins Private. Dass die Entsagung der Welt aber nur eine Utopie zu sein scheint, wird sich in meiner Arbeit herausstellen.

Darauf basierend werde ich die beiden Trauerspiele hinsichtlich der Rollen der Familienmitglieder analysieren: Welche Funktion hat Mutter Galotti in der Beziehung zwischen Vater und Tochter inne? Warum tötet Odoardo seine Tochter? Verkörpert Sir William Sampson das Vaterideal der Aufklärung? – Während ich die Familienkonstellationen der beiden Trauerspiele zunächst separat ergründe, werde ich abschließend einen Vergleich beider Familien anstellen und die Ähnlichkeiten der Schicksale beider Töchter darlegen; sie können als Prototypen für die damalige Zeit angesehen werden.

2. Die Familie in der Aufklärung

2.1 Das deutsche bürgerliche Trauerspiel

In der Lessing-Zeit liegt „einer der bedeutendsten Einschnitte der deutschen Dramengeschichte“[2]. Mit Miß Sara Sampson, 1755 uraufgeführt, hat Lessing das bürgerliche Trauerspiel in Deutschland eingeführt. Fraglich ist, ob man es als dramatische Gattung oder als Untergattung bezeichnen kann, denn der Terminus ist umstritten. Einige Charakteristika des bürgerlichen Trauerspiels sind aber trotzdem nennbar: Der Unterschied zu „jenem Heroischen [...], das bis in die Mitte des 18. Jhs das Weltbild der Tragödie beherrschte“[3], liegt in der Betonung des Allgemeinmenschlichen, des Moralischen sowie der Gesinnung des Bürgertums. Es stehen keine gesellschaftspolitischen Themen im Vordergrund, vielmehr bilden auf die familiale Gemeinschaft, auf moralisches Verhalten bezogene Figuren den Handlungsrahmen. Im Fokus des Geschehens steht der empfindsame Mensch, der nach Tugendhaftigkeit strebt und sich vom Lasterhaften zurückzieht. Die Betonung der Empfindsamkeit führt zur Thematisierung von Gefühlsregungen sowie einer ausführlichen Darbietung emotionaler Leidenssituationen.

In den siebziger Jahren löst sich das deutsche bürgerliche Trauerspiel allerdings von jenem Urtyp. Während Miß Sara Sampson als das Urbild des deutschen bürgerlichen Trauerspiels gilt, verbindet man mit Emilia Galotti (1772) ein neues Stadium dieses Typus: Auf das empfindsame Moment wird zunehmend verzichtet, an dessen Stelle tritt nun die Passion der Hauptfigur. Die Personen entstammen einem festgelegten Standes- und Berufsmilieu mit einer „kennzeichnende[n] ständisch bedingte[n] [...] Mentalität“[4]. Diese Bestimmtheit schlägt sich auch in der Umsetzung von Tugend und Laster nieder, sie werden nicht mehr abstrakt, sondern „in ihrem gesellschaftlichen Determinationszusammenhang“[5] dargelegt. Erst jetzt gehören Ständekonflikte, wie die Aufspaltung des Mittelstandes, ausgelöst durch die Polarität der sozialen Schichten und ihres Selbstbewusstseins, zum Handlungskontext.

Kritik übt der Verfasser primär am Adelsstand, gehört er doch selbst der Bürgerschicht an. Dennoch muss man sich von der Auffassung, Lessing übe mit Emilia Galotti Kritik am fürstlichen Absolutismus und den sich daraus ergebenden Lebensbedingungen, distanzieren. Das Trauerspiel greift zwar diesen Themenkomplex auf und verurteilt „Despotismus, Willkür und Machtmißbrauch“[6]. Jedoch behandelt Lessing vorwiegend „ein grundsätzlicheres Problem“[7] als Gegenstand seiner Trauerspiele, das sich innerhalb der Familienthematik ansiedelt und den politisch-gesellschaftlichen Aspekt lediglich einbezieht.

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass das Attribut ‘bürgerlich‘ keineswegs soziologisch zu verstehen ist; im 18. Jahrhundert treten nämlich durchaus auch Adlige neben Bürgerlichen auf, wie das Beispiel der Familie Sampson zeigt. Diese Entwicklung

„weg vom Begriff für ein Ständisch-Besonderes [...] hin zum Begriff für ein Menschlich-Allgemeines [...] ist Ausdruck einer sozial- und ideologiegeschichtlichen Wende“[8].

Es werden nun Themen aus der Erfahrungswelt der Zuschauer aufgegriffen;

„Wirklichkeit ist [...] nicht mehr die mythisch-geschichtliche, von Gott geschaffene Welt wie in der heroischen Tragödie [...], sondern die des gegenwärtigen gemeinen Lebens“[9].

Nur so können sich die Zuschauer mit den Charakteren identifizieren, sich einer sittlichen Reinigung unterziehen: Das Trauerspiel ist demnach von großem Nutzen, führt durch die Wirkung auf das Gemüt zu moralischer Besserung. Nicht Einsicht führt also zur Läuterung und Moralisierung des Publikums, sondern „tragische[s] Mitleid“[10] mit den fehlerhaften, leidenden Charakteren und zugleich „tragische Furcht“[11] vor einem ähnlichen Schicksal.

Ferner sind die Protagonisten beider Typen des bürgerlichen Trauerspiels überwiegend weiblich, mit einer Neigung zum Leiden statt zum Handeln. So enden auch die meisten Trauerspiele mit einer Weisheit, die eine anfangs angedeutete moralische Lehre wieder aufgreift, etwa einer Warnung vor der „Ausartung empfindsamer Liebe zu maßloser subjektivistischer Leidenschaftlichkeit, die zum Laster führt“[12].

2.2 Die Funktion der Familie in Bürgertum bzw. Adel

Nehmen wir Bezug auf die Familie Galotti, so ist die patriarchalische Kleinfamilie gemeint, und zwar in der Position des (gehobenen) Bürgertums, die sich im 18. Jahrhundert „gegenüber dem bislang repräsentativen Typus des ‘Ganzen Hauses‘ (Großfamilie)“[13] neu etabliert hat. Es kommt in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts eine ganz neue Auffassung der Familie zu Tage, die durch die kapitalistische Umwälzung hervorgerufen worden ist: Während die Familie zuvor als

„die kleinste Zelle der ständischen Gesellschaft [den Zweck] der Zeugung, der Aufzucht und des Wirtschaftens [,] gebunden an die Zielsetzung des Staates “[14],

verfolgt und neben Ehegatten, Kindern und Verwandten auch die Angestellten auf dem Hof umfasst hat, meint man seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine „ideale Liebesgemeinschaft von Mann und Frau, Eltern und Kindern“[15]. Die Familie wird, von der Gesellschaft separiert, als „Naturordnung eigenen Rechts“[16] angesehen, alles Zweckmäßige tritt nun in den Hintergrund. Öffentliche und private Sphäre erfahren eine strikte Trennung, infolgedessen sind auch Produktionsstätte und Familienwohnsitz nicht mehr identisch. Stattdessen dominieren – wenn auch anfangs nur in intellektuellen Kreisen – Emotionen das Familienleben, die abseits vom ständischen Leben eine neue Rangstellung erfahren: Die elterliche Liebe zum Kind ist dabei deren „höchste Form [...], in [der] [...] sich die Natur des Menschen jederzeit ganz unverfälscht“[17] äußert. Außerhalb dieser Gemeinschaft hingegen wird der „Kampf ums Dasein“[18] geführt.

Mann und Frau sorgen für eine wirtschaftliche Grundlage zur materiellen Sicherung der Familie. Sexualität ist weiterhin auf die Wahrung der Nachkommen gerichtet, deren Erziehung sich weitgehend ändert: „Rat und Hilfe, Anerkennung und Verständnis [...] [sowie der] Austausch von physischen Zärtlichkeiten“[19] kennzeichnen die neue Familiensituation und gehen zugleich mit der Veränderung der parentalen Autorität einher: Es gibt weniger körperliche Bestrafungen als vielmehr „psychologische Motivierung“[20], eine innere Autorität, die an die Gefühle zu den Eltern erinnert.

Als „Repräsentantin des familiären Binnenraums“[21] kümmert sich die Frau um die Kinder und verwaltet das „vom Manne Erwirtschaftete[...]“[22], von dessen Stellung und Verdienst sie abhängig ist. Durch den Rückzug ins Private erfolgt ein Einschnitt in ihre Freiheiten und Rechte; sie ist nur für häusliche Tätigkeiten und das Prestige des Mannes zuständig. Auch in ihrer Freizeit wendet sie sich Nützlichem, wie der Handarbeit und dem Lesen von moralisch-religiösen Wochenschriften, zu; andere Literatur ist ihr untersagt. Darin liegt auch der Grund für die Unaufgeklärtheit der Frau.

Die Erziehung der Kinder basiert vollends auf dem Ordnungssystem des Familienoberhauptes, das die Frau internalisiert hat. Während sie als passiv, demütig, geduldig und emotional charakterisiert wird, werden dem Mann Qualitäten der Rationalität und Aktivität zugeschrieben.[23]

Der Vater, im 17. Jahrhundert hatte er noch die Rolle des „Stellvertreter[s] Gottes und des Fürsten“[24] inne, steht nun zwischen Privatleben und Außenwelt. Einerseits ist er Patriarch und Beschützer der Angehörigen, die er Regeln und Normen lehrt, andererseits auch Vertreter der lasterhaften Gesellschaft. Das empfindsame Erziehungsziel ist die Verehrung der väterlichen Ideale, nach denen die Nachkommen handeln sollen. Der Patriarch versucht darum, den Harmoniezustand innerhalb der Familie zu wahren, indem er sie von der Unmoral der höfisch-aristokratischen Sphäre fernhält. Dies bleibt allerdings nur eine Erziehungsutopie im bürgerlichen Bewusstsein, ebenso der radikale Rückzug ins Privatleben: Der Umgang der Familie kontrastiert mit dem vom Hof diktierten Leben, kann aber einer Konfrontation beider Lebenswelten meist nicht entkommen. Große Konflikte sind die Konsequenz daraus, da die Töchter nicht auf die Konventionen der Außenwelt vorbereitet werden und die väterliche Ideologie schon in sich widersprüchlich ist. Auch das Ziel, den Herrscher als bürgerliches Vorbild zu moralisieren und erziehen, scheitert.

Diese Wandlungen der Familienstruktur vollziehen sich jedoch nicht in der Adelsschicht; eine Ausnahme stellt allerdings Familie Sampson dar: Sie lebt gänzlich nach den Vorstellungen des Bürgertums. Der Adel hingegen verpönt die Intimität der bürgerlichen Familien und verkörpert eine offenere Form der Gemeinschaft. Ehepartner leben oftmals in separaten Häusern – die Geliebte des Fürsten ist dabei gang und gäbe – und treffen nur in der Öffentlichkeit als Einheit zusammen. Ein Familienleben als humane Privatutopie kommt beim Adel folglich nicht zu Stande.

2.3 Die Familie Galotti

Emilia Galotti unterscheidet sich von Lessings anderen Dramen insofern, als es das einzige ist, in dem eine vollständige Familie präsentiert wird: Claudia Galotti ist „die einzige Mutterfigur aus Lessings Feder“[25], darüber hinaus stellt Emilia die erste bürgerliche Protagonistin dar.

[...]


[1] Eibl, Karl: Gotthold Ephraim Lessing – Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel. Hg. von Wolfgang Frühwald. Frankfurt am Main: Athenäum 1971 (= Commentatio – Analysen und Kommentare zur deutschen Literatur), S.95

[2] Ebd.

[3] Guthke, Karl S.: Das deutsche bürgerliche Trauerspiel. 5., überarbeitete und erweiterte Aufl. Stuttgart 1994 (= Sammlung Metzler. Realien zur Literatur. Bd. 116), S.2

[4] Ebd., S.73

[5] Ebd., S.74

[6] Schurf, Bernd: Gotthold Ephraim Lessing – Emilia Galotti. Text und Materialien. Hg. von Heinrich Biermann / Bernd Schurf.

Düsseldorf: Schwann-Bagel 1986 (= Stationen der Literatur. Text- und Arbeitsbücher für den Literaturunterricht in der Sekundarstufe II), S.154

[7] Ebd.

[8] Eibl (1971), S.140f.

[9] Guthke (1994), S.49

[10] Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Nachdruck der Ausgabe Halle 1878. Hildesheim: Olms 1979, S.294

[11] Ebd.

[12] Guthke (1994), S.61

[13] Schurf (1986), S.180

[14] Ebd., S.185

[15] Ebd.

[16] Ebd.

[17] Saße, Günter: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Hg. von Wilfried Barner / Richard Brinkmann / Conrad Wiedemann. Tübingen: Niemeyer 1988 (= Studien zur deutschen Literatur. Bd. 95), S.136

[18] Schurf (1986), S.185

[19] Wurst, Karin A.: Familiale Liebe ist die ‘wahre Gewalt‘ – Die Repräsentation der Familie in G.E. Lessings dramatischem Werk. Hg. von Cola Minis / Arend Quak. Amsterdam: Rodopi 1988 (= Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. Bd. 75), S.43

[20] Ebd., S.49

[21] Schurf (1986), S.185

[22] Wurst (1988), S.43

[23] Vgl. Ebd., S.50

[24] Schurf (1986), S.185

[25] Bauer, Gerhard: Gotthold Ephraim Lessing: ‘Emilia Galotti‘. Hg. von Gert Sautermeister / Jochen Vogt. München:

Fink 1987 (= Text und Geschichte. Modellanalysen zur deutschen Literatur), S.32

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Stellung der Familie zur Zeit der Aufklärung. Gotthold Ephraim Lessings 'Emilia Galotti' und 'Miß Sara Sampson' im Vergleich
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Germanistisches Institut II)
Veranstaltung
Thematisches Proseminar: Das Drama in der Epoche der Aufklärung
Note
sehr gut (1,0)
Autor
Jahr
2002
Seiten
24
Katalognummer
V38960
ISBN (eBook)
9783638378758
ISBN (Buch)
9783638654722
Dateigröße
517 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stellung, Familie, Zeit, Aufklärung, Gotthold, Ephraim, Lessings, Emilia, Galotti, Sara, Sampson, Vergleich, Thematisches, Proseminar, Drama, Epoche, Aufklärung
Arbeit zitieren
Gaby Schneidereit (Autor:in), 2002, Die Stellung der Familie zur Zeit der Aufklärung. Gotthold Ephraim Lessings 'Emilia Galotti' und 'Miß Sara Sampson' im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38960

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