Nietzsches 'Fröhliche Wissenschaft' als alternative Philosophiekonzeption


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

20 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

0. Präambel

1. Einleitung

2. Problem und Ansatz

3. Nietzsches Perspektivismus
3.1. Perspektivismus im Selbstbezug

4. Das Dichter-Problem
4.1. Leseanweisungen

5. Nietzsches Sicht auf die Philosophie

6. Nietzsches Sicht auf die Wissenschaft

7. Dichtung und Leben

8. Nietzsches Alternative

9. Fazit .

0. Präambel

„Die Söhne von protestantischen Geistlichen [..] erkennt man an der naiven Sicherheit, mit der sie als Gelehrte ihre Sache schon als bewiesen nehmen, wenn sie von ihnen eben erst nur herzhaft und mit Wärme vorgebracht worden ist; sie sind eben gründlich daran gewöhnt, dass man ihnen glaubt, - das gehörte bei ihren Vätern zum ‚Handwerk’!“

Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 348

„The only one who could ever teach me,/

Was the son of a preacher man,/

Yes he was, he was, oh yes he was.”

Aretha Franklin, The son of a preacher man

1. Einleitung

Eine der wichtigsten Eigenschaften des intellektuellen Unternehmens namens Philosophie dürfte wohl sein: Prinzipielle Unabschließbarkeit. Umso mehr ist jeder Philosophietreibende bemüht, seinen Gedanken die höchstmögliche Geschlossenheit zu geben. Es gilt, von den wenigen Mitteln sorgfältigsten Gebrauch zu machen, seine Grundgedanken plausibel auszuformen, sie durch gute Argumente schlüssig zu fundieren und behutsam und genau Unterscheidungen zu treffen. Wenn auch unerreichbar, so schwebt doch das vollkommen in sich abgerundete System als Idealziel über diesen Anstrengungen. Und auf dieser Basis bildet sich auch die stabile Erwartung darüber, was Philosophie ist und wie sie vorzugehen hat.

Was aber, wenn plötzlich ein Philosoph wie Friedrich Nietzsche auf die Bühne tritt, der scheinbar alle Regeln der Kunst missachtet? Was, wenn er Grundgedanken lieber provokativ als plausibel formuliert, wenn ihm die stilistische Schärfe höher wiegt als die argumentative, er die Pointe dem Beweis vorzieht und maßlos und undifferenziert seine Gedanken vorpreschen lässt? Ein Philosoph, der sich denkbar unphilosophisch artikuliert – warum?

Am Beispiel von Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft soll dies diskutiert werden.[1] Wir werden den Blick auf die Schwierigkeiten richten, die die Lektüre bereitet, versuchen eine Struktur dahinter zu erkennen und prüfen, ob darin Korrelationen zu Nietzsches Ansichten liegen.

Das Fernziel ist die Klärung der Frage: Was ist Fröhliche Wissenschaft?

2. Problem und Ansatz

383 kurze Texte - nennen wir sie ohne definitorischen Anspruch Aphorismen-, umrahmt von zwei Gedichtzyklen. In dieser Form präsentiert Nietzsche dem Leser seine Fröhliche Wissenschaft. Liest man die Texte ihrer nummerierten Reihenfolge nach, lässt sich schwerlich eine stringent durchgehaltene Argumentation ausmachen. Ein oberflächlicher Leser dürfte sich wohl die ganze Zeit fragen, worum es in diesem Buch nun eigentlich geht. Ein genauerer Leser wird immerhin in verschiedenen Formen wieder auftauchende Themen und Denkfiguren identifizieren und den einen oder anderen versteckten Bezug ausmachen können. Trotz der scheinbar einfachen und klaren Sprache, ist es schwer zu paraphrasieren: Was denkt Nietzsche?[2] Das Problem ergibt sich aus dem offenbaren Mangel an Struktur. Wie aber muss man ein solch unstrukturiertes Buch lesen, um es mit Gewinn zu lesen?

Ein Blick auf die Vorrede schafft wenig Erhellung. Nietzsche führt sein Buch ein als das Werk eines von schwerer Krankheit Genesenen. Dementsprechend sei es auch von der „Trunkenheit der Genesung“ und dem „Frohlocken der wiederkehrenden Kraft“ durchzogen.[3]

Beigegeben sind dem „Lieder, in denen sich ein Dichter auf schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig macht“.[4] Schließt sich dieser Dichter in die Kollegenschelte mit ein? Das erfahren wir an dieser Stelle nicht. Immerhin führt Nietzsche aus, warum seine überwundene Krankheit so wichtig für die Gedanken seines Buches sein soll: Sie führte ihn auf die „Abwege“ und „Seitengassen des Gedankens“, zur Beziehung von körperlicher Gesundheit und Philosophie. Letztere sei nämlich die „unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven“, mithin gar ein „Missverständnis des Leibes“.[5] Also gilt dies auch für Nietzsches Philosophie? Und: Welche Konsequenz hat diese Einsicht für die Art des Philosophierens?

Eine der Konsequenzen ist nach Nietzsches Bekunden eine Vorsicht gegenüber dem Entschleiern von Wahrheiten, die sich aus der Einsicht speist, dass eine Wahrheit nicht mehr „Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht“. Nietzsche rät den Philosophen zur „Scham“ gegenüber der Wahrheit, zum Tasten an der „Oberfläche“, entlang „der Formen, der Töne, der Worte“. Ein Weg, der anscheinend zum „Künstler“ führt.[6] Aber ein Weg durch das aphoristische Labyrinth seines Buches ist mit diesen kryptischen Ausführungen wohl kaum gebahnt.

Lesen wir so, wie wir normalerweise ein philosophisches Buch lesen würden: Wir isolieren systematisch einen Gedanken. Als ersten zu verfolgenden Hauptgedanken schlage ich eine Theorie vor, für die Nietzsche als nahezu sprichwörtlicher Vertreter gilt, den Perspektivismus.

3. Nietzsches Perspektivismus

Erkenntnis ist für eine Nietzsche eine Frage des Standpunkts. Die Ergebnisse unserer Erkenntnisprozesse sagen demnach nichts über die Natur der Dinge aus, sondern nur über die Relation, die wir zu den Dingen haben: „Egoismus ist das perspectivische Gesetz der Empfindung, nach dem das Nächste groß und schwer erscheint: während nach der Ferne zu alle Dinge an Grösse und Gewicht abnehmen.“[7] Die Welt, in der wir leben, bestimmt sich laut Nietzsche also aus der Perspektive, die wir zu ihr einnehmen.

Im Prozess der Erkenntnis überformt der Erkennende die Dinge mit seinen Maßstäben. Wie Nietzsche formuliert: „ [..] ich kann aus den Dingen nichts anderes herausnehmen, als was mir schon gehört.“[8] Die Muster, die wir meinen in der Welt zu erkennen, sind von uns erst dort hineingetragen worden. Erkenntnis ist also eine anthropomorphe Selbstprojektion, geworfen auf eine Welt, deren Charakter eigentlich das Chaos ist: „Chaos nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen.“[9]

Daran knüpft Nietzsche seine Kritik des menschlichen Bewusstseins. Als relativ späte Entwicklung des Lebens, und damit laut Nietzsche als das von allen Organen „Unfertigste und Unkräftigste“,[10] verfügt das Bewusstsein nur über hochselektive Raster und grob verallgemeinernde Zeichen, um die Welt zu strukturieren. Die bewusst wahrgenommene Welt ist folglich nur eine interpretierte „Oberflächen- und Zeichenwelt“[11]. Dabei hält Nietzsche das Bewusstsein keineswegs für eine Fehlentwicklung; vielmehr gesteht er ihm zu, aus einer quasi-evolutionären Sicht durchaus „arterhaltend und nützlich“[12] zu sein. Seine Kritik richtet sich vielmehr dagegen, dass Bewusstsein für das Organ einer objektiv gültigen Wahrheit zu halten. Denn es ist nicht nur die Welterkenntnis, die dem Bewusstsein letztlich abgeht, sondern auch die Einsicht in die eigene Struktur. Hinter dem rationalen, bewussten Denken stehen Triebe und Affekte als die eigentlich lenkende Instanz. Bewusstsein ist damit ein für sich selbst blindes Epiphänomen der Vitalfunktionen.[13]

Folglich postuliert Nietzsche: „Wie weit der perspectivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne „Sinn“ eben zum „Unsinn“ wird, ob, andererseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden [..] Wir können nicht um unsere Ecke sehen.“[14] Haben wir damit einen ersten, gesicherten Kerngedanken der Fröhlichen Wissenschaft gewonnen, vom dem aus sich uns der Rest erschließt?

3.1. Perspektivismus im Selbstbezug

Ja und nein. Leider ist der Gedanke des Perspektivismus nicht unproblematisch.[15] Im Selbstbezug zeigt sich die Schwierigkeit, dass auch Nietzsche seine Aussagen von einem bestimmten Standpunkt aus tätigt. Wenn aber kein Weltzugang außer der perspektivischen Interpretation möglich ist, die Welt also „unendliche Interpretationen in sich schliesst“[16] – warum ist Nietzsches Interpretation die Privilegierte?

Er scheint sich selbst zu widersprechen. Denn wenn jede Interpretation nur eine relativ begrenzte Gültigkeit beanspruchen kann, auf welcher Basis lässt sich dann eine Meta-Interpretation wie der Perspektivismus formulieren, die umfassend gelten soll? Und nach welchen Kriterien können wir – eingedenk der Relativität der Perspektiven – über die Gültigkeit einer solchen Interpretation entscheiden?

Man muss nicht Nietzsche nicht zwangsläufig vorwerfen, sich in die klassische Lügner-paradoxie – „Alle Kreter lügen.“, sagte der Kreter – zu verstricken.[17] Es reicht für unsere Belange festzuhalten, dass Nietzsche mit dieser Theorie für erhebliche Verunsicherung sorgt. Denn selbst wenn wir den Perspektivismus für sich als konsistent akzeptieren, bleibt immer noch das Problem der Verbindlichkeit von Nietzsches anderen Ansichten. Unter anderem befasst er sich in der Fröhlichen Wissenschaft mit Religion, Moral, Politik, Sexualität und den Künsten. Warum sollte ein Leser auch nur eine einzige Zeile dieser Ansichten für wahr halten – es sind doch nur Interpretationen, genauer eine Interpretation unter unendlich Möglichen? Nietzsche gefährdet offenbar den Geltungsanspruch der eigenen Ansichten: „Ist Nietzsche also in eine selbstgeschaffene Sackgasse geraten?“[18]

Vielleicht ist es produktiver, die Perspektive zu wechseln: Nietzsche ist nicht in eine Sackgasse „geraten“, er ist vielmehr mit wehenden Fahnen hineingestürmt. Die Verunsicherung über die Geltung seiner Ansichten könnte ein kalkulierter Effekt sein. Und hinter dem kalkulierten Effekt könnte eine umfassende Absicht stehen. Im nächsten Kapitel werde ich dies mit einem weiteren Beispiel für seine selbstrelativierende Schreibstrategie untermauern.

[...]


[1] Grundlage ist die zweite Auflage der Fröhlichen Wissenschaft, die Nietzsche um ein fünftes Buch ergänzt hat. Ich betrachte sie als die eigentliche Fassung und übergehe editionsphilologische Fragen.

[2] Das Urteil „transparente Sprache – schwer zu fassender Gedanke“ ist nahezu kanonisch in der Nietzsche-Literatur. Exemplarisch sei hier Walter Kaufmann zitiert: „So ist es wahrscheinlich einfacher, sich eine Meinung über die Grundgedanken von Kants Kritik der reinen Vernunft zu bilden, als die genaue Bedeutung einer beliebigen Anzahl von Sätzen aus diesem Werk zu erfassen – während in Nietzsches Büchern die einzelnen Sätze nichts an Klarheit zu wünschen übrig lassen und es der Gesamtentwurf ist, der uns Rätsel aufgibt.“ (Kaufmann, Walter, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, S. 84.)

[3] KSA 3, S. 345-346.

[4] Ebd.

[5] Ebd., S. 348.

[6] Ebd., S. 352.

[7] Ebd., Aphorismus 162, S. 498.

[8] Ebd., Aphorismus 242, S. 514.

[9] Ebd. Aphorismus 109, S. 468.

[10] Ebd., Aphorismus 11, S. 382.

[11] Ebd., Aphorismus 354, S. 593.

[12] Ebd., Aphorismus 110, S. 469.

[13] Nietzsche argumentiert hier der Psychoanalyse vorgreifend, so z. B. in den Aphorismen 179 und 194, S. 502 bzw. S. 505. Gleichfalls lässt sich dies als Radikalisierung der Kantischen Erkenntniskritik auffassen (Vgl. Zittel, Claus, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, S. 66). Vorreiter oder Epigone – eine Frage der Perspektive.

[14] Ebd., Aphorismus 374, S. 626.

[15] Alexander Nehamas wählt die Problematik des Perspektivismus als Ausgangspunkt für sein Buch „Nietzsche. Leben als Literatur“, dem diese Arbeit stark verpflichtet ist. Bereits in der Einleitung (S. 15-20) entfaltet er das Problem des scheinbar selbstwidersprüchlichen Perspektivismus.

[16] KSA 3, Aphorismus 374, S. 626.

[17] Nehamas verteidigt Nietzsche vehement gegen diesen Vorwurf. Er argumentiert ausführlich, dass der Selbstbezug des Perspektivismus noch keine Selbstwiderlegung bedeutet. Widerlegt wäre der Perspektivismus erst, wenn es gelänge, eine Ansicht zu produzieren, die keinerlei Interpretationscharakter hat, die also „auf jeden zu jeder Zeit und in jeden Zusammenhang passt“. (Vgl. Nehamas, S. 100-104)

[18] Nehamas, S. 19.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Nietzsches 'Fröhliche Wissenschaft' als alternative Philosophiekonzeption
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1.0
Autor
Jahr
2004
Seiten
20
Katalognummer
V39030
ISBN (eBook)
9783638379281
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nietzsches, Fröhliche, Wissenschaft, Philosophiekonzeption
Arbeit zitieren
Axel Kannenberg (Autor:in), 2004, Nietzsches 'Fröhliche Wissenschaft' als alternative Philosophiekonzeption, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39030

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