Les fenêtres qui louchent. Jacques Tati und die Moderne


Hausarbeit, 2005

24 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

Les fenêtres qui louchent - Mon Oncle

Leben in der Moderne - Play Time

Verkehrsführung und Chaos - Traffic

Le Corbusier im Dialog mit Tati

Gegner oder Unterstützer der Architektur?

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Einleitung

Mit nur fünf fertigen Filmen ging Jaques Tati (1908-1982) in die Geschichte ein. Häufig wurde ihm vorgeworfen ein Gegner der Moderne und auch der modernen Architektur zu sein. Für seinen Film Play Time ließ Tati eine ganze Stadt als Film Kulisse erbauen. Die Entwürfe stammten von Jacques Lagrange einem Maler, der später für einige Architekten arbeitet und gerüchtweise auch das Pariser Viertel „La Defense“ mit entwarf.[1] Selten wurden Tatis filmische Beiträge zur Architektur gewürdigt, denn was für ein Gegner der Architektur ist dies, der für einen Film eine Stadt bauen lässt? Doch war Tati selbst ein Technik­begeisterter und oft Pionier. So naiv und unbeholfen seine Figur Monsieur Hulot erscheint, so detailgetreu und präzise ging Tati an seine Arbeit. Hoch bewusst war seine Auseinandersetzung mit der Archi­tektur und dem Design seiner Zeit. Seine Filme begleiteten die Modernisierung der franzö­sischen Gesellschaft von den 40ern bis in die späten 70er. So könnten Tatis Überlegungen zur Lebensart als unmittelbarer Gegenentwurf zu Le Corbusiers 1943 veröffentlichten Charta von Athen und den Werken Mies van der Rohes[2] gesehen werden. Doch stellt sich die Frage auf welche Lebensbereiche Tati zielt, sind es wirklich die Entwürfe der modernen Architektur oder vielmehr deren Gebrauch durch das aufstrebende Kleinbürgertum? Tati stellt die Frage der Bewohn- und Benutzbarkeit ins Zentrum seiner Filme. Das moderne Subjekt mag sich in der Villa der Arpels wohlfühlen, doch Tati bevölkert sie mit neureichen Kleinbürgern. Und eben deren Art der Benutzung amüsiert und stößt Tati:

Sieht man sich die Villa von Monsieur Arpel an, wird man sofort denken, ich sei gegen die Architektur der Moderne. Das ist falsch. Denn die Villa ist eigentlich nur das Symbol für das Verhalten von Monsieur Arpel in dieser Villa. Wenn Sie von einem jungen Paar bewohnt wäre, [...] glaube ich nicht, daß sie auf die Idee verfallen wären, eine S-förmige Allee anzulegen und eine Wasserfontäne zu installieren, die beim Eintreffen der Gäste geöffnet wird. Ich glaube sie hätten eine einfache Rasenfläche angelegt, die sehr gut zur Villa gepasst hätte.[3]

Die Verunsicherung der Menschen durch die Moderne ist das Thema. Damit gerät jedoch auch die Architektur in sein Blickfeld. Wie ernst er diese nahm beweisen nicht nur seine imposanten Kulissen, sondern auch die Funktion die er ihr in seinen Filmen gibt. Oft spielen zwei Charaktere die Hauptrolle: der von Jacques Tati selbst verkörperte Monsieur Hulot und die Architektur. Der humoristischen Architektur-Kritik die Tati und sein Architekt Lagrange äußern will ich[4] in dieser Arbeit auf den Grund gehen.

Les fenêtres qui louchent - Mon Oncle

Es ist eine Mauer – eher noch ein Mauerrest – der die Lebenswelten in Jaques Tatis, Oscar prämierten, Film Mon Oncle (1958) trennt. Auf der einen Seite das „alte Paris“[5]: hier wohnt Monsieur Hulot, der schlecht gekleidete, stets freundliche Junggeselle, auf der anderen Seite der Mauer beginnt das neue Paris: ein Neubaugebiet mit einigen Hochhäusern, das wenig weiter in eine Einfamilienvillengegend ausfließt. In einer dieser Villen wohnt Monsieur Arpel mit seiner Gattin (Hulots Schwester) und seinem Sohn Gérad. Diese Mauer wird immer wieder in den Film zwischengeschnitten, Hulot übersteigt sie um zu seiner Schwester zu gelangen. In einigen Einstellungen sehen wir neben der Mauer einen Betonmischer, der am neuen Paris weiter baut, in anderen sehen wir, wie Arbeiter weitere Teile des alten Paris abbrechen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vor dem Eingang der Villa befinden sich drei Fußmatten: für jedes Familienmitglied eine. Es steht sogar ein einzelner Baum auf dem Gelände, er trennt die Einfahrt zur Garage vom Garten ab. Im alten Paris hingegen stehen viele Bäume, hier sind die Menschen draußen, sie reden, spielen Billard, kaufen auf dem Markt ein. Wenn sich in der Villa Arpel Besuch ankün­digt, dann beginnt ein seltsames Ritual: die Haus­herrin drückt zuerst auf den Knopf, der die Fontäne des Springbrunnens aktiviert, dann auf den Schalter, der das Eingangstor öffnet. Verlässt der Besuch das Gelände, so werden die Knöpfe in umgekehrter Reihenfolge gedrückt. Das Ritual findet allerdings nur für Besucher statt, für Lieferanten oder Verwandte bleibt die Fontäne aus. Dies ist nicht nur affektiert und zeugt gleichzeitig von neureichem Gehabe, wie von klein­bürger­lichem Sparen, sondern auch praktisch, erkennt doch der Hausherr an der Fontäne schon von weitem, dass Besuch im Haus ist und er seine Krawatte richten muss.

Besonderer Spott trifft bei Tati die modernen Möbel, die Villa Arpel ist ausgestattet mit un­bequemen aber hochmodernen Objekten.

„Da findet sich das Sofa aus zwei harten Rollen, eine zum Sitzen, eine zum Anlehnen, mit viel Raum zum Durchrutschen.“[6]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Besuchern gegenüber wird stets betont wie modern doch alles sei! Ein Typ Stuhl taucht im Film doppelt auf, es sind Drahtstühle, die von der Form her an Eisbecher erinnern, zwei Kegel, an den Spitzen zusammengefügt. Jeder Benutzer hängt wie ein Tier im Fangnetz, wenn er sich dort hineinsetzt. Die Arpels verwenden diese Stühle zum Fernsehen, in der Firma des Monsieur Arpel, „Plastac“, stehen sie beim Firmenchef: der Chef thront hinter seinem Schreibtisch, seine Gegenüber wirken, durch die Stühle gezwungen, klein und albern. In einer späteren Szene möchte Hulot auf dem Sofa der Arpels schlafen, dies gelingt ihm aber erst nachdem er das Sofa auf die Seite gekippt hat, jetzt passt das moderne Möbel für diesen großen Mann.

In der Zerteilung des Menschen treffen sich Tati und Le Corbusier: Das Wohnen in den alten Pariser Wohnblocks zergliedert den Menschen. In Mon Oncle steigt die Figur des Monsieur Hulot die Treppen zur Dachwohnung hinauf und taucht dabei an unterschiedlichen Stellen immer wieder auf.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

„Tati wollte, daß man die Person von Hulot in Fragmenten innerhalb der Fassade erkennt.“[7]

Die Armut zwingt den Armen zu derartigen Verrenkungen, sie zwingt ihn in derartige Häuser, Wohngebäude, die eine schlechte und zerwürfelte Kopie von einem Loos oder Perret darstellen. Eben jene schlechten nicht bis zum Ende gedachten Werke der Architektur, gegen die Le Corbusier heftig protestiert. Die Villa Arpel ist eine Wohnmaschine, voll automatisiert und damit entmenschlicht, aber Hulots altes Haus führt ebenfalls keine Einheit herbei, das heraufsteigen zerteilt den Menschen und eint nicht die Räume, wie die Rampe der Villa Savoye. Nicht umsonst flieht Hulot, sobald er kann, aus seiner Wohnung, er ist dort zu Hause, aber er lebt dort nicht, sondern draußen, in der Umgebung und auf dem Markt. Hulots Wohnung wird nie von innen gezeigt, allein das Äußere macht deutlich wie klein und beengt sie sein muss.

Dennoch wird die Darstellung des vormodernen Paris wird Tati immer wieder als Verklärung vorgeworfen, so schreibt Uwe Wittenstock:

„Für die Leistungen der architektonischen Moderne, die mit rapide wachsenden wirtschaft­lichen Anforderungen und zunehmender Bevölkerungsdichte fertig werden musste, und dem Einzelnen zugleich eine immer größere Palette von Möglichkeiten und Freiheiten zur Verfügung stellte - für all das hat Tati keinen Platz.“[8]

Doch auch Arpels haben nicht übermäßig viel Platz, Gérad geht lieber raus zum Spielen, im Garten ist kein Platz um einen Ball zu kicken. Auch wenn Arpels Geld haben, so geben sie es lieber für ein neues Auto, den Luxus eines Dienstmädchens oder andere repräsentative Zwecke aus. Es ist nicht die Architektur, die schrecklich ist, es sind die Menschen, die ver­suchen sich anzupassen und dabei künstlich und verrenkt erscheinen.

Bei Arpels sind alle Funktionen vorgegeben und getrennt: es gibt auf der Terrasse einen Platz zum Essen, im Garten einen Platz mit einem winzigen Sonnenschirm zum Sitzen und einen eigenen Platz um mit Gästen (mehr als acht Menschen dürfen es aber nicht sein) einen Cocktail zu trinken.

Im alten Paris bestimmen die Menschen die Wege durch Benutzung, aber dafür ist es verdreckt, die Häuser haben Risse, die Fassaden bröckeln und wenn unten jemand Monsieur Hulot sprechen will, dann klopft die Nachbarin mit dem Besen an die dünne Decke.

Madame Arpel demgegenüber reinigt das Frühstücksgeschirr mit Druckluft und sieht mit ihren grünen Handschuhen und weißem Kittel mehr wie eine Arzthelferin aus, denn wie eine Mutter und Ehefrau. Hulot kommt mit dieser modernen, vollautomatischen Küche nicht zurecht. In einer klassisch dekonstruktiven Slapstick-Szene betritt er die Küche, fasst versehentlich an einen heißen Wäschetrockner, prüft dann, ob der Schrankgriff ebenfalls heiß ist und erschrickt fürchterlich als eine Lichtschranke den Schrank automatisch öffnet. Eine Kanne gleitet ihm aus den Händen und fällt zu Boden, sie hüpft hoch und Hulot lässt sie kopfschüttelnd noch einige Male aufspringen, dann nimmt er ein Glas und lässt es ebenfalls hüpfen, das Glas verhält sich allerdings altmodisch und zerbricht. Durch die Lichtschranke wirft Hulot schnell die Kanne wieder in den Schrank, der sie mit automatisch schließenden Türen verschlingt. Roland Mörchen sieht hierin weit mehr als einen banalen Slapstick:

„In der vollautomatischen Küche aus „Mon Oncle“ („Mein Onkel“, 1958) rennt er nicht einfach gegen die vielbeschworene Tücke des Objekts an, er verulkt vielmehr den (Un-)Geist einer „Neuen Künstlichkeit“. „Mon Oncle“ ist das freundliche Augenzwinkern eines Menschen, der weiß, daß er die sogenannte Modernität nicht abschaffen kann.“[9]

Besonders gelungen sind Lagrange die Fenster der Villa. In einer Skizze überschrieb er sie mit dem Satz: „Les fenêtres qui louchent“, denn wenn Abends Mme. und M. Arpel aus ihren erleuchteten Fenstern heraus die Nachbarn beobachten, dann erscheinen die Köpfe der Arpels wie Pupillen in den Bullaugen des Hauses. Das Haus selbst schielt in den Garten der Nachbarn. Überhaupt bestimmt das Haus mehr über seine Bewohner, als diese über das Haus. Wenn die Wege aus Platten im Garten die Besucher in ein groteskes Ballet zwingen, dann erzeugt das einen ganz besonderen Rhythmus, aber es ist nicht der Rhythmus der Menschen, sie stolpern nur im Takt der Architektur.

Ebenso fließt das Auto des M. Arpel auf vorgegebenen Bahnen bis zu seinem Parkplatz zur Firma. Diese stellt knallrote Plastikschläuche her und der Versuch M. Hulot in die Arbeits­abläufe dort zu integrieren scheitert, denn er kommt nicht zurecht mit den Maschinen und produziert nur Ausschuss. Die Firma selbst ist ein grauer Block, mit Betonwänden und Trenn­wänden aus strukturiertem Milchglas. Die Fassade ist mit grauem Blech verkleidet und auch die Möbel in den Büros sind, ebenso wie der Anzug des M. Arpel, grau.

„Atmosphärisch kalt ist die Fabrik, in der Hulot vorübergehend arbeitet und mit mancher Widrigkeit zurechtkommen muß – ein Ort, an dem das Subjekt zum Rädchen im Getriebe wird. In einem perfektionierten Kosmos wirkt Hulot wie ein Störfaktor des Allzu­menschlichen, weil er in seiner geschöpflichen Unvollkommenheit nicht fehlerlos funktioniert.“[10]

Tati glaubte nicht an die Versprechungen der Moderne, er glaubt nicht an bessere Städte aus Serienproduktion, vielleicht waren seine Zeitgenossen auch zu fortschrittsgläubig um glaub­würdig zu erscheinen.

Mon Oncle ist ein Film gegen das Fehlen des Menschen in der Moderne, ein augen­zwinkerndes Pamphlet gegen die antiseptischen Welten, die das Leben durch Plastik und Künstlichkeit zu ersetzen versuchen.

„Die ganze Welt kann plastifiziert werden, und sogar das Lebendige selbst, denn, wie es scheint, beginnt man Aorten aus Plastik herzustellen.“[11]

[...]


[1] Dieser Hinweis taucht an verschiedenen Stellen auf. Beispielhaft: Mayrhofer, Nina: Leben in Tativille. taz Magazin, 02.11.02 . Laut dem französischen Artikel „La ville et l’architecture en Tatirama“, erschienen am 29. Juni 2002 auf http://www.aroots.org/notebook/breve97.html, arbeitet Lagrange an der Verwirklichung der Université de Jussieu und dem Gare Montparnasse mit. Lagrange war verheiratet mit der Nichte von Auguste Perret.

[2] Beispielhaft steht hier das Seagram Building in New York von 1958 welches ebenfalls Modell für die Kulissen von Tatis Play Time stand.

[3] Zitiert nach Nabakowsi, Gislind: Bildtheoretische Betrachtungen zu einer Kunstfigur. Jaques Tatis Lifestyle-, Urbanismus- und Designkritik der 50/ 60/ 70er Jahre. Lüneburg 1995. S.171.

[4] Vom architektonischen Standpunkt aus ist die Annäherung, wie leider auch die meiste Literatur zum Thema, laienhaft.

[5] Das so alt gar nicht ist, sondern aus heruntergekommenen Häusern der Jahrhundertwende besteht.

[6] Bernau, Nikolaus: Die Kritik des Lebens an der Utopie. In Berliner Zeitung. 16.4.2004.

[7] Dondey, Marc und Tatischeff, Sophie, zitiert nach Nabakowski S. 24.

[8] Wittenstock, Uwe: Monsieur Hulot kämpft mit der Moderne. In Die Welt vom 16. 08. 2002.

[9] Mörchen, Roland: Die Anarchie der leisen Töne. Jacques Tatis pointierte Alltagskomik. In Film Diesnt Nr. 21. 1998.

[10] Mörchen, Roland: Die Anarchie der leisen Töne. Jacques Tatis pointierte Alltagskomik. In Film Diesnt Nr. 21. 1998.

[11] Barthes, Roland: Mythen des Alltages. Plastik. Frankfurt 2003. S. 81.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Les fenêtres qui louchent. Jacques Tati und die Moderne
Hochschule
Universität Lüneburg
Veranstaltung
Die unvergleichbare Moderne - Der Selbstbegründungsanspruch in der Architektur des 20. Jahrhunderts
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2005
Seiten
24
Katalognummer
V39225
ISBN (eBook)
9783638380560
ISBN (Buch)
9783638654388
Dateigröße
1127 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Jacques, Tati, Moderne, Selbstbegründungsanspruch, Architektur, Jahrhunderts, Film, 20. Jahrhundert, Komödie, französicher Film, Oscar
Arbeit zitieren
Jens-Florian Groß (Autor:in), 2005, Les fenêtres qui louchent. Jacques Tati und die Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39225

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