Marcel Prousts A la recherche du temps perdu - Zur Ambivalenz der Romanfigur Françoise


Seminararbeit, 2002

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Françoises erster Auftritt – das drame du coucher

2. Françoise – zwischen Dienerschaft und Zugehörigkeit

3. Das Zusammenspiel von Mitgefühl und Unbarmherzigkeit

4. Das instinktive Verständnis – Françoise als Schlüsselfigur

5. Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

In Prousts Recherche gibt es viele Nebenfiguren wie zum Beispiel den Musiker Vinteuil, die Tante Léonie und dessen Hausangestellte Françoise, die auf den ersten Blick bis auf das Agieren in ihrer Nebenrolle unbedeutend erscheinen mögen und die in der Literatur über die Recherche nur ansatzweise beleuchtet werden. Bei näherem Betrachten und aufmerksamem Lesen sind es jedoch gerade diese Figuren, die das vom Erzähler in seiner Erinnerung gezeichnete Gesellschaftsbild lebendig werden lassen und die durchaus eine tiefere Bedeutung innehaben. Am Beispiel von Françoise soll dies nachgewiesen und eine ambivalente Darstellung ihrer Figur aufgezeigt werden.

Françoise, etwa in mittleren Jahren und aus einfachen Verhältnissen stammend, ist zuerst Bedienstete der Tante Léonie, nach dessen Tod dann Hausangestellte der Familie des Erzählers: Sie wird insbesondere im Teil "Combray" durch die kindliche Beobachtung des Erzählers, aber auch durch ihre Handlungen und Äußerungen charakterisiert. Stellenweise taucht ihr Name auch in anderen Teilen des Romanzyklus auf, aber erst im letzten Band der Recherche, in "Le temps retrouvé", spielt sie im Leben des Erzählers wieder eine besondere Rolle.

Dieses Auftauchen der Françoise im ersten und im letzten Teil der Recherche liegt in der Entstehungsgeschichte der beiden Bände begründet: 1908 begann Marcel Proust mit der Arbeit, plante aber zunächst nur zwei Teile, "Le temps perdu" und "Le temps retrouvé". Da diese Bände etwa zur selben Zeit entstanden, findet sich in beiden auch Françoise wieder, mit der sozusagen "Du côté de chez Swann" und die Kindheit in Combray lebendig werden und mit der sich letzten Endes der Kreis der Recherche auch wieder schließt. Die anderen fünf Teile erstanden erst später im Laufe des ersten Weltkrieges und noch in der Nachkriegszeit und wurden nach und nach, zum Teil unter Schwierigkeiten, überhaupt einen Verleger zu finden, veröffentlicht.

1. Francoises erster Auftritt – das drame du coucher

Die Figur Françoise tritt zum erstenmal in Szene, als der Erzähler rückblickend sein drame du coucher beschreibt. Dieses "Drama des Zubettgehens" tritt insbesondere dann auf, wenn der Nachbar Charles Swann abends die Eltern besucht und die innig geliebte Mutter, durch die Gesellschaft beschäftigt, zum Leidwesen des Erzählers nicht noch einmal in sein Zimmer kommt, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben.

Eines Abends beschließt er allerdings, seine Mutter unter Rückgriff auf eine List doch dazu zu bewegen, ihm noch "Gute Nacht" zu sagen (Seite 28). Dabei soll Françoise einen Zettel überbringen, auf dem steht, er habe ihr eine wichtige Sache zu sagen.

Nun weigert sich aber die beflissene Hausangestellte, die Nachricht der Dame des Hauses zu geben, denn, so wird sie durch den Erzähler charakterisiert, sie hat einen code impérieux, einen zwingenden, unnachgiebigen Codex, was Verhaltensweisen betreffe. Dies wird vom Erzähler weiterhin mit antiken, uralten Gesetzen (lois antiques) und biblischen Anspielungen assoziiert, zum Beispiel das Tabu, ein Zicklein in der Milch seiner Mutter zu kochen. Einerseits ist dies ein Indiz für ihre ländliche Herkunft und alte überlieferte Verhaltensmuster, andererseits zeigt sich darin auch, wie fremd und unverständlich ihr Codex dem Erzähler ist, der in "Combray" seine Umgebung aus der Perspektive eines Kindes betrachtet.

Françoise scheine es so unmöglich zu sein, den Brief in der Gesellschaft zu übermitteln wie es für einen Theaterportier undenkbar sei, einem auf der Bühne stehenden Schauspieler eine Nachricht zukommen zu lassen, wobei dieser Vergleich ebenso anschaulich wie treffend ist, da sowohl Françoise als auch der Portier wichtige Personen hinter der "Kulisse" sind. Diese Weigerung des Dienstmädchens drücke zudem den Respekt gegenüber seinen Eltern – verglichen auf Seite 29 mit dem Respekt gegenüber Toten, Priestern und Königen, was die Haltung von Françoise aus der Sicht des Kindes geradezu ad absurdum führt – und dem Besucher aus.

Schließlich lässt das Dienstmädchen sich aber durch die Lüge, die Mutter habe den Jungen um die Nachricht gebeten, doch überreden, die "Zeremonie" zu stören. Zwar glaubt der Erzähler seine Lüge entlarvt, da Françoise wie alle "einfachen Leute"[1] über schärfere Sinne verfüge als andere und die Wahrheit, die man ihr vorzuenthalten versucht, sofort erkenne. Trotzdem aber willigt sie ein und verspricht, den Brief in einem geeigneten Moment zu überbringen, nicht ohne jedoch bei ihrem resignierten Abgang beim Erzähler den Eindruck zu hinterlassen, als wolle sie sagen, wie unglücklich man sein müsse, ein solches Kind zu haben.

Das Geschilderte ist, wie schon angedeutet, stark objektiv und durch die erinnerte Sichtweise eines Kindes geprägt, das Françoise aus einer Distanz der Autorität betrachtet und das ihre festgelegten Verhaltensregeln, die so gar nichts mit dem kindlichen Freiheitsdrang gemein haben, nicht verstehen kann. Der erste Auftritt der Figur, der mit dem in der Erinnerung stark verwurzelten und wörtlich dramatischem drame du coucher einhergeht, macht bereits in gewisser Weise die Sonderstellung und Schlüsselposition der Figur deutlich.

2. Françoise – zwischen Dienerschaft und Zugehörigkeit

Deutlich wird der Eindruck von Distanz und Autorität des Erzählers bezüglich Françoise noch besonders an zwei Stellen: Zum einen auf Seite 52, als er der Hausangestellten, die zu diesem Zeitpunkt noch bei der Tante Léonie dient, als Neujahrsaufmerksamkeit im Auftrag der Mutter fünf Franc geben soll.[2]

In der Atmosphäre des dunklen Vorzimmers sieht er Françoise zum erstenmal, wie sie unbeweglich im Türrahmen steht wie eine Heiligenstatue und auf dessen lächelndem Gesicht er die "uneigennützige Liebe der Humanität" (l'amour désintéressé de l'humanité) und den Respekt für die höhere gesellschaftliche Klasse erkennt, die auch in anderen Passagen deutlich zu machen sein wird.

Zum anderen markiert das in den Augen des Erzählers brutale Vorgehen von Françoise auf Seite 120 eine Distanz, als die Bedienstete für das Essen ein Huhn tötet. Der Erzähler beobachtet, wie dem sich wehrenden Tier die Kehle durchgeschnitten wird und Françoise dazu flucht: "Sale bête!", was frei übersetzt soviel heißt wie "Gemeines Vieh!". Dieses Vorgehen empfindet der Erzähler als grausam und es stellt sein Bild der milden Françoise infrage.

Der Erzähler erklärt aber, dass er niemanden besser kenne als Françoise, seit er und seine Familie nach Combray gekommen sind, und er und seine Familie würden der kränklichen Tante vorgezogen. Diese Vorliebe ist für den Leser leicht nachvollziehbar, da die verwitwete Tante Léonie, die in ihrem dunklen Zimmer tagaus tagein dahinvegetiert und immer beschäftigt und über den neuesten Klatsch informiert werden will, eine ungleich größere Belastung für die Bedienstete ist als der Rest der Familie, die eine willkommene Abwechslung in ihrem Alltag darstellen. Außerdem fragt die Mutter des Erzählers sie auch nach ihren Neuigkeiten, zum Beispiel wie es ihrer Tochter, ihren Neffen und ihrem Enkelsohn gehe. Dabei ist es höchst wahrscheinlich, dass die Tochter von Françoise unehelich ist, denn von einem Ehemann ist nie die Rede, außerdem passt die Arbeit als Dienstmädchen zu diesem Schicksal, denn eine andere Stelle wäre wohl in dieser Zeit, um die Jahrhundertwende, kaum zu bekommen, wenn man unverheiratet Mutter geworden war und sonst allein und unversorgt dastünde.

[...]


[1]comme les hommes primitifs“, Proust, Marcel, Du côté de chez Swann, Gallimard, 1988, Seite 29. Im folgenden abgekürzt mit Du côté de chez Swann und entsprechender Seitenzahl.

[2] Es soll noch erwähnt sein, dass der Erzähler sich an folgende Szenen der Kindheit noch deutlicher und detaillierter erinnert und sie wieder lebendig werden lässt, denn nach der Madeleine-Szene auf Seite 44ff. kehrt durch den Geschmack des Gebäcks und des Lindenblütentees die Erinnerung an Combray wieder. Im folgenden wird Françoise weniger durch den Ich-Erzähler als durch einen kollektiven "Nous"-Erzähler, der für die gesamte Familie in Combray steht, betrachtet und charakterisiert.

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Marcel Prousts A la recherche du temps perdu - Zur Ambivalenz der Romanfigur Françoise
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Romanische Philologie)
Veranstaltung
Proseminar Proust - Lekture
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
14
Katalognummer
V39342
ISBN (eBook)
9783638381352
Dateigröße
688 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In Prousts Recherche gibt es viele Nebenfiguren wie zum Beispiel den Musiker Vinteuil, die Tante Léonie und dessen Hausangestellte Françoise, die auf den ersten Blick bis auf das Agieren in ihrer Nebenrolle unbedeutend erscheinen mögen und die in der Literatur über die Recherche nur ansatzweise beleuchtet werden. Bei näherem Betrachten und aufmerksamem Lesen sind es jedoch gerade diese Figuren, die das vom Erzähler in seiner Erinnerung gezeichnete Gesellschaftsbild lebendig werden lassen...
Schlagworte
Marcel, Prousts, Ambivalenz, Romanfigur, Françoise, Proseminar, Proust, Lekture
Arbeit zitieren
Eva Sauerteig (Autor:in), 2002, Marcel Prousts A la recherche du temps perdu - Zur Ambivalenz der Romanfigur Françoise, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39342

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