I.
Bei der Betrachtung einer Szene aus dem Nibelungenlied unter dem Aspekt des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft müssen wir uns natürlich darüber im Klaren sein, daß dieses Verhältnis im Mittelalter ein anderes ist als unser heutiges. Bei der Betrachtung dieses anderen Verhältnisses darf man sich meines Erachtens aber
nicht von einer Geschichtsphilosophie und einer daraus folgernden Anthropologie leiten lassen, die darauf hinausläuft, dem mittelalterlichen Menschen eine niedrigere Evolutionsstufe zuzusprechen als die unsere, wie Czerwinski das in seinem Aufsatz
"Heroen haben kein Unbewußtes"2 in der Betrachtung verschiedener mittelalterlicher Texte tut und seine Thesen dann von der Literatur auf die Geschichte transferiert, was unter anderem zu der Behauptung führt, daß "Fähigkeiten zur Abstraktion [...] vor etwa
700 Jahren entstanden sein könnten"3, und zu der im Titel auf Literatur bezogenen, im Schlußsatz des Aufsatzes historisch formulierten These: "Feudale Adlige haben kein Unbewußtes."4 Dies erwähne ich nur, um mich bewußt hiervon abzusetzen.
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2 Peter Czerwinski, Heroen haben kein Unbewußtes - Kleine Psycho-Topologie des Mittelalters, in: Gerd
Jüttemann, Die Geschichtlichkeit des Seelischen. Der historische Zugang zum Gegenstand der
Psychologie, Weinheim 1986, S. 239-272.
3 Vgl. Czerwinski (1986), S. 243.
4 Vgl. Czerwinski (1986), S. 255.
Inhaltsverzeichnis
- I. Individuum und Gesellschaft im Mittelalter
- II. Die Voraussetzungen für den Konflikt zwischen Kriemhilt und Gunther
- III. Die „Suone“ zwischen Kriemhilt und Gunther
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Der Aufsatz analysiert eine Szene aus dem Nibelungenlied (Str. 1101-1116) unter dem Aspekt des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft im Mittelalter. Die Arbeit untersucht, wie dieses Verhältnis im Kontext der damaligen Lebenswelt und historischen Bedingungen gestaltet war. Darüber hinaus werden die Ursachen und die Auswirkungen des Konflikts zwischen Kriemhilt und Gunther, sowie die Bedeutung der Versöhnungsszene für die Handlung des Nibelungenliedes beleuchtet.
- Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Mittelalter
- Der Konflikt zwischen Kriemhilt und Gunther als Beispiel für die Spannung zwischen individueller Rache und gesellschaftlicher Ordnung
- Die Rolle der "Suone" als Versöhnungsakt im mittelalterlichen Kontext
- Die Bedeutung der "Suone" für die weitere Handlung des Nibelungenliedes
- Der Einfluss der verschiedenen Textfassungen auf die Interpretation der "Suone"-Szene
Zusammenfassung der Kapitel
I. Individuum und Gesellschaft im Mittelalter
Dieses Kapitel beleuchtet die historische und gesellschaftliche Situation des Mittelalters und untersucht, wie diese das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft prägte. Es wird betont, dass die enge Verbundenheit des Einzelnen mit der Gemeinschaft im Mittelalter eine andere Lebenswelt und andere Denkweisen hervorrief, als im modernen Zeitalter. Der Autor setzt sich kritisch mit der These von Czerwinski auseinander, der den Menschen des Mittelalters eine geringere Evolutionsstufe zuschreibt und argumentiert, dass die mittelalterlichen Epen die historische Wirklichkeit zumindest mitdenken und als Hintergrund für die literarische Handlung dienen.
II. Die Voraussetzungen für den Konflikt zwischen Kriemhilt und Gunther
Dieses Kapitel beleuchtet die Vorgeschichte des Konflikts zwischen Kriemhilt und Gunther. Es wird erklärt, wie Kriemhilts Entscheidung, in Worms zu bleiben und nicht mit der Sippe ihres Mannes nach Xanten zu gehen, zu einer Belastung für das gesellschaftliche Gefüge führt. Kriemhilts Isolation und die fehlende Kommunikation mit Gunther und Hagen verstärken die Spannungen und führen zu einer Störung der „Vriuntschaft“, einem wichtigen Prinzip der mittelalterlichen Gesellschaft.
III. Die „Suone“ zwischen Kriemhilt und Gunther
Dieses Kapitel analysiert die Versöhnungsszene zwischen Kriemhilt und Gunther, die von Hagen initiiert wird. Es wird die Rolle der „Suone“ im Kontext der mittelalterlichen Lebenswelt und der gesellschaftlichen Normen beleuchtet. Der Autor untersucht, wie sich die verschiedenen Textfassungen auf die Interpretation der „Suone“-Szene auswirken, wobei er die Bearbeitung C als Gegenstück zur ursprünglichen Version heranzieht. Der Fokus liegt auf den unterschiedlichen Motivationen von Kriemhilt und Gunther für die Versöhnung und auf der Frage, inwiefern die „Suone“ eine wirkliche Versöhnung darstellt oder eher als eine oberflächliche Geste verstanden werden muss.
Schlüsselwörter
Das Nibelungenlied, Individuum, Gesellschaft, Mittelalter, Kriemhilt, Gunther, „Suone“, Versöhnung, Rache, Vriuntschaft, Gesellschaftliche Ordnung, Textfassungen, C-Fassung, Historische Bedingungen, Lebenswelt
- Arbeit zitieren
- Oliver Tekolf (Autor:in), 2002, Nibelungenlied - Die Versöhnung zwischen Gunther und Kriemhilt, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/3973